Schlamm und Brei und Bits
Warum es die Digitalisierung nicht gibt

von Kathrin Passig und Aleks Scholz

Seit ein paar Jahren wird die Welt digital. Oder zumindest scheint es so. Alles digitalisiert sich, Bücher, Fernsehen, Arbeit, Autos, Strom, Telefon, Politik, sogar Radio. Wie jede große Veränderung wird die Digitalisierung entweder als Weltrettung gefeiert oder als Weltuntergang verdammt. Die Auswirkungen der Digitalisierung sind offenbar selbst digital, schwarz und weiß, dazwischen gibt es nichts.

Auch wenn man jetzt ständig davon hört, ist das Phänomen Digitalisierung nicht neu. Computer haben das analoge Stadium ab den 1940er Jahren allmählich verlassen. Banken, Versicherungen und zahlenintensive Verwaltungsbereiche digitalisierten ihre Rechenvorgänge ab den 1960er Jahren. Polizei und Geheimdienste arbeiten seit den 1970er Jahren mit Datenbanken. Ebenfalls seit den 1970er Jahren werden Krankenhauspatienten auf der Intensivstation mithilfe von Computern überwacht und die erhobenen Messwerte digital gespeichert. 1976 heißt es im Spiegel: »Die elektronische Revolution hat die Zeitungsverlage erreicht«, gemeint waren Lichtsatz, Bildschirmterminals und Speicherung der Texte auf Magnetbändern. Im Lauf der 80er und 90er wurden textlastige Verwaltungstätigkeiten digital. Die Umstellung von Schallplatte auf CD fand in den 1980er Jahren statt. Verkehrsampeln werden seit den frühen Neunzigern digital gesteuert. Ende 1997 war das deutsche Telefonnetz vollständig digitalisiert. Fotografie und Film folgten.

Während der ersten siebzig Jahre dieser Vorgänge spielte der Begriff der Digitalisierung keine große Rolle. In den sechziger und siebziger Jahren waren Bezeichnungen wie Automation, Automatisierung und Roboterisierung üblich, in den Achtzigern und Neunzigern hieß das Geschehen Computerisierung. Für die Veränderungen der letzten drei Jahrzehnte gibt es nicht genug Begriffe, die auf -ung enden: der Übergang von Offline zu Online; der vom Netz als Nachschlagewerk zum Netz, das soziale Beziehungen abbildet; das Verschwinden von physischen Gegenständen als Aufenthaltsorten für Kulturgüter; der Übergang vom stationären zum mobilen Internet; der allmähliche Rückgang der Praxis, an Computern erzeugte Inhalte auf Papier zu drucken und analog weiterzuverwenden; der Umgang mit sehr großen statt nur mittelgroßen Datenmengen, der Übergang von bisher schweigsamen zu kommunizierenden Geräten.

Für alle diese Aufgaben muss das Wort Digitalisierung herhalten. Wo es ab den 1990er Jahren vereinzelt auftauchte, bezeichnete es noch die konkrete Digitalisierung von etwas: von Telefonnetzen, Wörterbüchern, Landkarten. Erst ab 2010 wird der Begriff häufiger und in seiner heutigen vagen Bedeutung verwendet. Im Mai 2015 schrieb die FAZ über die Mittelstandsbefragung der Commerzbank: »48 Prozent der Einzelhändler geben an, dass die bewährten Geschäftsmodelle durch die digitale Entwicklung bedroht werden«. Im Juni desselben Jahres, ebenfalls in der FAZ: »Wie eine sich steigernde Flutwelle braust die Digitalisierung über die Unternehmenslandschaft – und wird sie stark verändert hinterlassen … Hier muss Deutschland … schnell gleichziehen, wenn es von der Welle der Digitalisierung getragen und nicht darunter begraben werden soll.« Im Juli 2015 sagt Hans Peter Wollseifer, Chef des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, in der Bundespressekonferenz: »70 Prozent unserer Betriebe befassen sich schon mit Digitalisierung und wollen die auch in der Zukunft verstärkt weiterbetreiben.« Und im August berichtet die Süddeutsche über die Probleme des Stromkonzerns RWE: »Die Stromversorgung Lust zunehmend dezentral und digital … Die Digitalisierung muss deshalb Chefsache sein.«

Was konkret in deutschen Unternehmen geschieht, wenn die »Welle der Digitalisierung« über sie hereinbricht, ist unklar, aber es muss sich um »irgendwas mit Internet« handeln. In der im Projekt Digi20 durchsuchbaren geistes- und sozialwissenschaftlichen Literatur scheint »Digitalisierung« noch nicht einmal »irgendwas mit Internet« zu bedeuten, sondern »irgendwas mit Computern«, jedenfalls dort, wo nicht gerade das konkrete Einscannen von Texten gemeint ist. Auch die Autoren dieses Beitrags haben (die eine häufiger, der andere seltener) den Begriff »Digitalisierung« an Stellen verwendet, an denen sie besser genauer benannt hätten, welchen Vorgang sie meinten.

Dass Arbeitsabläufe, die bisher analog waren, gerade jetzt digital werden, ist unwahrscheinlich. Selbst wenn aus dem Kontext hervorgeht, welche konkrete Veränderung gemeint ist, lässt sich so kein Geschehen beschreiben, das ein ganzes Unternehmen, eine »Unternehmenslandschaft« oder »die Wissenschaften« gleichförmig erfasst. Zwischen der Einführung von Computern in der Rechnungsabteilung und ihrer Einführung in der Chefetage liegen Jahrzehnte. Autos enthalten seit den 1960er Jahren elektronische Bauteile, beginnend mit Benzineinspritzung und Anti-Blockier-Systemen. Etwa um dieselbe Zeit beginnen Roboter, in der Fertigung zu arbeiten. Fünfzig Jahre später tastet man sich an Markenkommunikation über soziale Netzwerke heran, das Auto beginnt, selbständig Werkstatttermine zu vereinbaren. Ab wann ist die Autobranche »digitalisiert«? Ein Text wandert auf dem Weg von der Autorin zur Leserin mehrmals zwischen analogen und digitalen Formaten und Arbeitsweisen hin und her. Das fertige Papierbuch wird via Onlineshop beim lokalen Buchhändler bestellt, der die Bestellung seinem analogen Faxgerät entnimmt, zum Computer trägt und in die Bestellsoftware eintippt. Wann und an welchen Stellen soll man die Buchbranche digitalisiert nennen?

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