Merkur, Nr. 627, Juli 2001

Konservatismus in Deutschland: Geschichte – und Zukunft?

von Paul Nolte

 

I

Die tiefe Krise der CDU seit der Niederlage bei der Bundestagswahl 1998 und der Verwicklung der Partei in eine Vielzahl von Spenden- und Schwarzgeldaffären ist mehr als ein Zusammenbruch des »Systems Kohl«, auf dem die institutionelle Stärke der CDU seit 1973 beruhte, als der rheinland-pfälzische Ministerpräsident 43jährig zum Parteivorsitzenden gewählt wurde. Hinter den personalpolitischen Beben im Generationswechsel verbirgt sich eine programmatische Verunsicherung größten Ausmaßes. Und diese ist um so gravierender, als sie nicht allein auf Defizite der parteipolitischen Programmatik und Gesinnung verweist, auch nicht allein auf eine Erschöpfung traditioneller Wählermilieus, sondern zugleich auf ein Verschwinden derjenigen intellektuellen Ressourcen, aus denen christdemokratische Politik seit der Gründung der Bundesrepublik immer maßgeblich gezehrt hat: Die Krise der CDU ist Teil einer Krise des deutschen Konservatismus, der als politisch-soziale Ideologie in der Berliner Republik zu verschwinden  scheint.

Selbst wenn man das für einen Anlaß zu erleichtertem Aufatmen hielte, könnte man darüber nicht einfach hinweggehen. Denn immerhin geht es um Geschichte und Zukunft einer der Grundströmungen westlichen Denkens und europäisch-nordamerikanischer Politik, die − zusammenmit dem Liberalismus und dem Sozialismus − seit dem Zeitalter der Französischen Revolution dauerhaft und enorm einflußreich moderne Gesinnungen formiert, Parteien organisiert und oft genug staatlichem Handeln die Richtung gegeben haben. Über die Krise des Sozialismus in der Situation des »What’s left?« ist seit 1989 viel diskutiert worden; der Liberalismus ist zwar hierzulande parteipolitisch in desolater Verfassung, intellektuell jedoch quicklebendig und erneuerungsfähig − man braucht nur an den Streit zwischen Liberalen und Kommunitaristen seit den achtziger Jahren zu denken. Nur das rechte politische Denken scheint sang- und klanglos von der politischen Bühne ebenso wie von der des intellektuellen Diskurses verschwunden zu sein. Man muß schon wieder daran erinnern, daß es diesseits von NPD, DVU und Republikanern eine rechte »Normalgesinnung«, einen Normalkonservatismus gibt, dessen Ausfall eine historische Zäsur bedeuten würde. Blickt man etwa in die USA, wird man an ein schnelles Ende des Konservatismus auch nicht so schnell glauben wollen.

Am 29. November vergangenen Jahres entwickelte sich im Bundestag anläßlich der Generaldebatte über den Haushalt ein denkwürdiges Rededuell über Selbstverständnis und Geschichte des »Konservativen« in Deutschland. Nachdem Angela Merkel die Sozialdemokraten in großer Originalität als vaterlandslose Gesellen beschrieben hatte, verbat sich Gerhard Schröder solche Vorwürfe von »konservativer Seite« und erinnerte im Gegenzug an die wenig ruhmreiche Rolle der Konservativen in der Vorgeschichte der nationalsozialistischen Machtergreifung. Daraufhin wiederum entgegnete Friedrich Merz, bei der CDU/CSU handele es sich nicht um »die deutschen Konservativen«, sondern um die »Christlichen Demokraten als Partei der Mitte«, unter deren Gründern auch Gegner und Verfolgte des NS-Regimes gewesen seien.

An diesem Streit um Worte ist gleich mehreres bemerkenswert. Er zeigt, wie erfolgreich und selbstverständlich die CDU jahrzehntelang die politische »Mitte« in Deutschland definieren und semantisch besetzen konnte − aber auch, daß diese Strategie angesichts der »Neuen Mitte« der SPD nun an eine Grenze stößt. Er erinnert daran, daß im Gegensatz zu anderen Ländern (wie England) bei uns auch auf der politischen Rechten »konservativ« nicht unbedingt als eine erstrebenswerte Selbstbezeichnung gelten kann. Und er macht eindringlich deutlich, wie tief die Definition der politischen Lager bis heute von historischen Schichten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, aus der Zeit zwischen Bismarck und Hitler, geprägt wird und wie eng das Selbst- und Fremdbild des Konservatismus an »1933« geknüpft bleibt.

Gibt es also im Übergang in das 21. Jahrhundert noch einen politischen Konservatismus in Deutschland? Auf welches Programm kann er jenseits der Tagespolitik zielen, welche intellektuellen Ressourcen stehen ihm zur Verfügung, und wie geht er mit den eigenen Traditionsbeständen um? Es liegt inzwischen zwei Jahrzehnte zurück, daß in der Bundesrepublik zuletzt ernsthaft über solche Fragen gestritten worden ist. Damals hatte der Konservatismus unter dem Feldzeichen der »Tendenzwende« einen Anlauf zur Neuformierung genommen. Daraus entstand in der Zeit der »Wende« von 1982/83 der Streit um den »Neokonservatismus«, in dem so profilierte Intellektuelle wie Jürgen Habermas und Hermann Lübbe aufeinandertrafen.[1. Vgl. Jürgen Habermas, Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik. In: Merkur, Nr.413, November 1982; Hermann Lübbe, »Neo-Konservative« in der Kritik. In: Merkur, Nr.420, September 1983.]

Was ist aus der Tendenzwende, was ist aus den »Neokonservativen« von damals geworden? Im Rückblick gesehen, gehörten sie (wie ihre Gegner) einer bestimmten Generation an, die jetzt an Einfluß verliert − aber wer wird ihnen nachfolgen, und wird dann intellektuelle Kontinuität oder Neuanfang den Umgang mit konservativen Traditionen prägen? Das Verhältnis zwischen parteipolitischem und intellektuellem Konservatismus war in Deutschland immer schon spannungsreich. Haben sich beide Strömungen inzwischen vollständig voneinander abgelöst − und auf welche intellektuellen Vordenker kann die CDU für die Fortschreibung ihres »Normalkonservatismus« dann noch zählen? Es wird Zeit, die Debatte neu zu eröffnen.

 

II

Die peinliche Auseinandersetzung um eine »deutsche Leitkultur« ist nicht so sehr ein Indiz für den Konservatismus der CDU, sondern gerade dafür, wie sehr der CDU der Konservatismus abhandengekommen ist. Die überragende Stellung, die Fragen der Ausländerintegration und Einwanderungspolitik in den vergangenen Jahren für die Unionsparteien gewonnen haben, verdankt sich einer programmatischen Auszehrung in solchen Feldern, die historisch gesehen viel mehr als »Nation« und »Ausländer« zentral für den deutschen Konservatismus gewesen sind. Das kann man sagen, ohne die Geschichte des radikalen und zunehmend rassisch aufgeladenen Konservatismus im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik zu vergessen. Wenn die CDU hier konservative Kernkompetenzen zurückerobern und neu definieren könnte, könnte sie auch die monomane Fixierung auf die nationalen Töne lockern, womit nicht nur ihr selber geholfen wäre.

Die Ursprünge konservativer Gesinnung liegen in einem spezifischen Menschen- und Gesellschaftsbild: in einer skeptischen Anthropologie, in der Gegnerschaft gegen den liberalen Individualismus, in der Furcht vor der Fortschrittsdynamik der Moderne. Daraus resultierte seit dem frühen 19. Jahrhundert ein mehr oder weniger konsistentes Ensemble von Anschauungen und politischen Zielen hinsichtlich des Staates, der Ökonomie und der sozialen Ordnung. Wer wollte bestreiten, daß mit diesen drei Stichworten auch heute noch hochaktuelle Konfliktlinien und Dilemmata politischer Orientierung bezeichnet sind? Aber der politische Konservatismus in Deutschland hat die Fixpunkte seiner Ausrichtung auf diesem ureigenen Terrain inzwischen verloren; er scheint sich nicht einmal mehr um eine Klärung der Positionen zu bemühen und sucht auch nicht erkennbar um den Rat der Intellektuellen nach. Dabei gilt für die CDU seit den fünfziger Jahren stärker noch als für die SPD, daß sie zwar als Regierungspartei auf ein Programm verzichten kann, in der Opposition aber um so mehr darauf angewiesen ist. Nicht zufällig sind die Jahre seit dem ersten Bonner Machtverlust 1969 bis zum ersten CDU-Grundsatzprogramm 1978 eine Phase der intensiven programmatischen Reflexion und Neuorientierung gewesen, die bewußt über die innerparteilichen Diskussionszirkel hinausgriff und den Dialog mit dem »Zeitgeist«, mit Sozialwissenschaftlern und sozialen Bewegungen suchte. Davon erkennt man heute wenig.

Zum Beispiel der Staat: Es wird heute leicht vergessen, daß der antiabsolutistische und antietatistische Impuls ganz wesentlich für den Ursprung des Konservatismus seit dem 18. Jahrhundert gewesen ist. Im 19. Jahrhundert kam in Deutschland die Herausforderung von Nationalbewegung und Nationalstaat hinzu, der die Konservativen zutiefst skeptisch gegenüberstanden − erst seit den 1880er Jahren entwickelten sie sich zur gouvernementalen Partei, die den Ausbau staatlicher und zentralistischer Exekutivmacht mittragen konnte. Gewiß, Autorität und Obrigkeit gehörten auch zuvor schon zur konservativen Leitkultur. Aber sie waren auf einen ganz anderen institutionellen Rückhalt als den Staat bezogen: auf die Familie etwa oder das Herrschaftsgefüge der ländlichen Gesellschaft. In den mittleren Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bekannte sich der Konservatismus mit wachsender Entschiedenheit zum »starken Staat«, führte dabei jedoch eine einflußreiche Unterscheidung durch. Staatsrechtler und Philosophen von Carl Schmitt über Ernst Forsthoff bis zu Arnold Gehlen verteidigten den Leviathan und polemisierten gegen den Sozialstaat. Staatliche Macht als innere und äußere Souveränität, als Ordnungswahrung und obrigkeitlich verbürgte Sicherheit des Individuums galten als gut, die staatliche Bereitstellung von Leistungen, die gar als Ansprüche des Bürgers gegen den Staat definiert wurden, als schlecht. Der Wohlfahrtsstaat wurde vom Ordnungsstaat abgekoppelt.

Manchen CDU-Politikern der älteren Generation ist dieses Denkschema immer noch in auffälliger Weise Grundlage ihres politischen Handelns − zumal den juristisch Gebildeten von Wolfgang Schäuble bis Rupert Scholz. Immerhin ist das eine Position, über die man streiten kann, während den meisten Jüngeren das Bewußtsein für die geistige Herkunft konservativen Staatsdenkens weitgehend verloren gegangen ist. Aber auch die inneren Widersprüche dieser Staatsspaltung liegen auf der Hand. Erstens ist, von Bismarck bis Adenauer, gerade in Deutschland der Sozialstaat maßgeblich unter konservativer Ägide begründet und ausgestaltet worden. Zweitens ist die säuberliche Unterscheidung von Ordnungsstaat und Wohlfahrtsstaat, aller vordergründigen Plausibilität zum Trotz, immer schon eine hochideologische Fiktion gewesen − übrigens eine Fiktion, der man sich in komplementärer Weise auch auf der Linken gerne bediente. Durch die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte wird sie vollends in Frage gestellt. Denn nicht nur ist Sozialpolitik längst mehr als eine Summe von Anspruchsgesetzen, übrigens erst recht in Bayern, wo die CSU seit den sechziger Jahren eine riesige staatliche Infrastrukturmaschinerie zur Landesmodernisierung ins Werk gesetzt hat. Vor allem läßt sich die Frage staatlicher Verantwortung in Problemfeldern wie der Gentechnologie oder des Verbraucherschutzes nicht mehr auf die Unterscheidung von Ordnungs- und Sozialpolitik projizieren. Das Resultat ist erkennbare Verwirrung konservativen Programms. Jan Roß hat die »Staatsfeindschaft« im Merkur (Nr.575, Februar 1997) angeprangert und dabei den Vulgärliberalismus von Schröder über Westerwelle bis Henkel im Auge gehabt.[1. Vgl. auch Jan Roß, Die neuen Staatsfeinde. Berlin: Fest 1998.]

Das Problem der CDU ist, daß sie nicht weiß, ob sie sich den neuen Staatsfeinden zuordnen soll oder nicht. Seit das Schlagwort von der »Entstaatlichung« zum linken und liberalen Programm geworden ist, hat sich diese Verwirrung nur noch gesteigert. Zum Beispiel die Ökonomie: Man könnte hier in ähnlicher Weise daran erinnern, wie sich der Konservatismus als Reaktion auf die Herausforderungen einer neuartigen Marktökonomie und als Abwehrgeste gegen diese herausgebildet hat, und wie lange sich gerade der deutsche Konservatismus durch seine antikapitalistische Grundhaltung hat tragen lassen. Für die christlichen, vor allem katholischen Traditionen, die nach 1945 in die Gründung der CDU mit eingeflossen sind, gilt das auf andere Weise auch. Wie konnte es zu der Symbiose von konservativer und liberalkapitalistischer Ideologie kommen, die wir inzwischen meist als Selbstverständlichkeit hinnehmen? Auch hier müßte man auf Weichenstellungen in der Mitte des 20. Jahrhunderts hinweisen, auf die eigentümliche Fusion von Marktökonomie und konservativem Weltbild im »Ordoliberalismus« der Freiburger Schule bis hin zu Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard, aber auch auf das neuartige Bekenntnis zu einer technizistisch verstandenen »Industriegesellschaft«, die von Vordenkern wie Hans Freyer oder Helmut Schelsky als unausweichliches Schicksal der Moderne verstanden worden ist.

Damit kein Mißverständnis aufkommt: Die Überwindung des fast immer ja auch antidemokratisch gemeinten Antikapitalismus auf der deutschen politischen Rechten in der frühen Bundesrepublik war ein Gewinn, den man gar nicht hoch genug veranschlagen kann. (Und wiederum könnte man ähnliches für die Linke sagen!) Doch inzwischen hat die CDU die kulturellen und normativen Grundlagen dieser zutiefst skeptisch und ironisch bleibenden Bejahung der kapitalistischen Industriegesellschaft aus ihrem Gedächtnis getilgt. Deshalb kann sie der stromlinienförmigen Anpassung an den neuen, zur selbstreferentiellen Pseudonorm gewordenen Ökonomismus der »Globalisierung« keinen Widerstand, keine eigenen Ressourcen entgegenstellen. »Freiheit statt Kapitalismus«, das müßte in dieser Situation der Slogan der CDU sein, meint deshalb Franziska Augstein (FAZ, 7. November 2000). Richtig − aber das setzt eine konservative Anthropologie voraus, über welche die CDU gar nicht mehr verfügt.

Diese Bestandsaufnahme könnte man fortsetzen und käme für weitere Felder, die ehemals Kernkompetenzen konservativen Denkens und konservativer Politik bezeichnet haben, zu einemähnlichen Ergebnis. Das gilt auch für die Gesellschaftspolitik mit ihrer vielfältigen Auffächerung in Sozial- und Familienpolitik, Frauen- und Bildungspolitik: Ein Leitbild gesellschaftlicher Ordnung existiert nicht mehr, seit die vor zwei, drei Jahrzehnten für die Union bahnbrechenden Konzepte Heiner Geißlers und anderer »Modernisierer« wieder an den Rand gedrängt worden sind. Der These, unsere Gesellschaft strebe einer fröhlichen Totalindividualisierung zu − eine Vorstellung, die einen ja durchaus schaudern machen kann −, steht die CDU deshalb hilflos gegenüber.

Nationale Leitkultur statt konservatives Programm − über die historischen Ursachen dieser Engführung wird in Zukunft noch gründlich nachgedacht werden müssen. Die Ambivalenzen und Paradoxien der Ära Helmut Kohls seit Beginn der siebziger Jahre werden dabei eine zentrale Rolle spielen. Kohls Aufstieg an die CDU-Spitze stand im Zeichen eines tiefgreifenden Generationswechsels, einer organisatorischen Modernisierung und nicht zuletzt einer programmatischen Erneuerung, deren Wortführer Kohl zwar nicht im eigentlichen Sinne war, die er aber doch beförderte und (auch innerparteilich) schützte. Heiner Geißlers »Neue Soziale Frage« jenseits des »alten«, aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Problems von Kapital und Arbeit kann man als einen der wichtigen Anläufe verstehen, konservative Gesellschaftspolitik neu zu definieren und dem politischen Alltagshandeln dabei ein gedankliches und historisches Fundament zu geben. Bereits vor dem Regierungswechsel von 1982 jedoch traten diese Ansätze wieder in den Hintergrund, auch für Helmut Kohl persönlich, der ohnehin in erster Linie am Machterwerb, an der Kanzlerschaft orientiert war, der aber auch seine geistigen Antennen in dieser Zeit anders ausrichtete: Das war der Schwenk von der gesellschaftspolitischen Modernisierung unter konservativ-christlichen Auspizien zum moralischen Appell jener »Tendenzwende«, die seit 1974 unter konservativen Intellektuellen Furore machte.

 

 

Jetzt wurde deutlich und jetzt rächte sich, daß die programmatische Erneuerungsbewegung der CDU und der intellektuelle Neokonservatismus eigentlich nie ein Verhältnis zueinander gefunden hatten. Aus den Versatzstücken der Tendenzwende entstand jene »geistig-moralische Erneuerung«, die von Kohl in den Jahren 1982/83 immer wieder als eine Art Letztbegründung zur Ablösung der sozialliberalen Koalition angeführt wurde. In der Folgezeit der ersten Regierungsjahre Kohls reduzierte sich auch das nochmals; was übrigblieb, war die symbolische Geschichtspolitik der achtziger Jahre, welche − von Bitburg bis zu den Museumsgründungen in Bonn und Berlin − moralische Orientierung auf nationale Identität kleinschrumpfte und gegenwärtige Vergangenheit zu historischer Erinnerung festfror. Dabei konnte Kohl sich auf Strategen wie Michael Stürmer und Philosophen wie Hermann Lübbe berufen, die um 1980 in immer neuen Anläufen den Sinn der Geschichte gegen die vermeintlich vergangenheitsfeindliche Haltung der politischen Linken verteidigten und die »Tradition« gegen die »Überforderung« durch die Gegenwart ins Feld führten.[1. Vgl. zum Beispiel Hermann Lübbe, Zwischen Trend und Tradition. Zürich: Edition Interfrom 1981.] Aber auch das blieb in der politischen Praxis ein Versatzstück, denn an der umfassenden Fortschreibung und Neuausrichtung konservativen Denkens hatte die CDU kaum ein Interesse − vielleicht auch aus Furcht vor den Konsequenzen, die eine neue konservative Politik aus solchen Entwürfen hätte ziehen müssen.

 

III

Der intellektuelle »Neokonservatismus« der siebziger Jahre ist nicht auf die damalige Bundesrepublik beschränkt gewesen, sondern hat auch in anderen westlichen Ländern, besonders im angloamerikanischen Raum, Furore gemacht und gedankliche Vorarbeit für die um1980 etablierten konservativen Regierungen geleistet.[1. Vgl. Claus Leggewie, Der Geist steht rechts. Berlin: Rotbuch 1987.] Gemeinsam war die Erfahrung von Dissonanzen zwischen kultureller und sozioökonomischer Modernisierung, die Diagnose einer Orientierungskrise, die auf der fortdauernden Expansion kapitalistischer Prinzipien ebenso gründete wie auf deren institutioneller Einhegung durch den Wohlfahrtsstaat. Gemeinsam war auch der Impuls einer Abwehr der Emanzipations- und Demokratisierungsansprüche, die von den sozialen Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre ausgingen, obwohl bereits dieser Punkt für die amerikanischen Neokonservativen wesentlich weniger zutraf als für die deutschen; prominente Soziologen wie etwa Nathan Glazer blieben gesellschaftspolitisch im liberalen Lager. Überhaupt treten im Rückblick die Unterschiede zwischen den amerikanischen und den deutschen Neokonservativen dieser Jahre noch deutlicher hervor, als Jürgen Habermas sie seinerzeit schon gekennzeichnet hatte.

Die »Tendenzwende« erscheint insofern als ein spezifisches Produkt bundesrepublikanischer Geschichte, als eine Reaktion auf Studentenbewegung und »Neue Linke«, auf die sozialliberale Koalition und das Brandtsche Programm einer über die »staatlichen« Institutionen hinausgreifenden Demokratisierung der Gesellschaft. Das erklärt die zentrale Rolle, welche die Bildungspolitik für die intellektuelle wie die organisatorische Formierung der deutschen Neokonservativen gehabt hat: von der Gründung des »Bundes Freiheit der Wissenschaft« im November 1970 über das »Tendenzwende«-Symposion von 1974 bis zu dem Bonner Kongreß »Mut zur Erziehung« im Januar 1978. Die konservative Polemik gegen eine vermeintlich zu weit getriebene Freisetzung des Individuums, die in einen Appell an Stabilisierung durch Tradition mündete, forderte während dieser Zeit eine entschiedene Reaktion der linken Intellektuellen heraus: Sie gehört zur Geschichte des Neokonservatismus dazu, weil sich beide Parteien immer wieder ineinander verhakten und in ihren Publikationen geradezu eine Form der Intertextualität herstellten, die inzwischen nur noch schwer vorstellbar ist.[1. Vgl. Jürgen Habermas (Hrsg.), Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit«. Frankfurt: Suhrkamp 1979.]

Dazu gehörte auch vor allem im Frankfurter Umkreis ein Gefühl der aufgeregten Angst angesichts der Formierung konservativer Professoren, wahrscheinlich auch eine Überschätzung ihrer Wirksamkeit, die heute gleichfalls überraschend wirkt und zumal seit 1977 ohne die aggressiven Stimmungslagen des »Deutschen Herbstes« nicht verstanden werden kann. Die Geschichte dieser Bewegung ist noch zu schreiben. Dabei wird man sehr sorgfältig zwischen verschiedenen Richtungen innerhalb des intellektuellen Konservatismus der siebziger Jahre zu unterscheiden haben. Auf den ersten Blick auffällig waren Positionen der Rechten, die wie Armin Mohler an die Konservative Revolution der zwanziger Jahre anknüpften oder die wie Gerd-Klaus Kaltenbrunner mit Leitbegriffen wie »Stabilität«, »Ordnung« und »Staatsautorität« sogar noch auf den »alten« Konservatismus des 19. Jahrhunderts zurückzugreifen versuchten.[1. Vgl. Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Der Konservative im nachliberalen Zeitalter. In: Neue Rundschau, Jg. 85, Heft 1, 1974.]

Aber diese Extrempositionen erwiesen sich schnell als marginal in dreifacher Hinsicht: in ihrer universitären Verankerung, in ihrer intellektuellen Tragfähigkeit und auch in ihrer öffentlichen Wirkung. Im Zentrum stand dagegen eine Gruppe von Professoren, deren durch und durch demokratische Grundausrichtung man (auch wenn das damals bisweilen geschah) nicht gut bestreiten konnte und deren parteipolitische Heimat sogar auffällig oft, wie bei Hermann Lübbe und dem Historiker Thomas Nipperdey, den beiden Streitgenossen im Kampf gegen die Hessischen Rahmenrichtlinien, in der SPD lag. Als eine politische »Konversion« wird man ihren Weg jedenfalls nicht beschreiben können. Es überwog in den siebziger Jahren bei vielen eine innere Distanz zu den Unionsparteien, was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte. Auch in dieser Distanz liegt übrigens eine Wurzel der programmatischen Schwierigkeiten der CDU bis heute.

Die Vorstellung von einer politisch-persönlichen Wende dieser Neokonservativen führt auch deshalb in die Irre, weil sie von den intellektuellen Kontinuitäten und frühen Prägungen dieser Gruppe in den fünfziger Jahren ablenkt − einer Gruppe übrigens, die eine sehr homogene Generationsformation der Jahrgänge um 1927/28 herum bildete. Die intellektuellen Protagonisten des Neokonservatismus der siebziger Jahre waren nicht nur dem Alter nach die Kinder jener Handvoll konservativer Philosophen, Soziologen und Staatsrechtler, die − um die Jahrhundertwende geboren − den deutschen Konservatismus seit den zwanziger Jahren einer Radikalkur unterzogen und ihn damit fit für das Dritte Reich, aber auf unendlich ambivalente Weise auch fit für die Bundesrepublik machten: Hans Freyer und Carl Schmitt, Ernst Forsthoff und Arnold Gehlen, schließlich Joachim Ritter, der mit seinem Münsteraner »Collegium Philosophicum« den größten unmittelbaren Einfluß auf die Denkwege der Neokonservativen ausübte.

Diese Radikalkur befreite den Konservatismus von dem traditionellen Antimodernismus des 19. Jahrhunderts, der sozial in der vorindustriellen Lebenswelt wurzelte, in Ständegesellschaft und Monarchie, und machte ihn zum entschiedenen Fürsprecher der Industriegesellschaft, überhaupt der technisch-industriellen Moderne. Der Kapitalismus und die Massengesellschaft waren als Schicksal unabwendbar geworden, und man tat besser daran, sich mit ihnen zu arrangieren, auch wenn eine melancholische Tönung unverkennbar blieb und in den Gedanken kultureller Widerstandspotentiale gegen die beschleunigte Modernisierung umgemünzt wurde. Die Politik des 19. Jahrhunderts war zu Ende, die des 20. Jahrhunderts ließ aber vorläufig verschiedene Optionen zwischen Diktatur, (plebiszitärer) Demokratie und der sogenannten Expertenherrschaft offen. Dabei verfügte dieser Entwurf über eine spezifische Rationalität, ganz fern den Jüngerschen Ideen und auch mythisierender Richtungen der »Konservativen Revolution«.

Etwas verkürzt lassen sich drei Linien in dieser Neuformierung des intellektuellen Konservatismus unterscheiden, und alle drei sind von der Nachfolge-Generation des bundesrepublikanischen Neokonservatismus aufgegriffen worden. Erstens eine soziologische Linie: Sie lieferte, zum Beispiel mit dem Hegelianismus Freyers, die Diagnose einer industriegesellschaftlichen Moderne, deren technische Imperative sich zu einem »Technokratie«-Komplex verdichteten, aus dem später die in den siebziger Jahren so prominenten »Sachzwänge« abgeleitet werden konnten. Komplementär dazu stand der davon zunehmend überforderte Mensch, dem durch die Orientierung an »Institutionen« − an dieser Stelle kommt Gehlens Anthropologie ins Spiel − Entlastung gewährt wurde. Diese Anthropologie spielte bereits in eine zweite, eine philosophische Linie hinüber: Angesichts der beschleunigten Modernisierung bedürfen überlieferte kulturelle Ressourcen der Schonung und Bewahrung; sie dürfen nicht einer prinzipiell schrankenlosen Kritik (der Aufklärungstradition) ausgesetzt werden, weil sie als Kompensationskräfte der technisch-sozialökonomischen Modernisierung entgegengestellt werden sollen. Das ist die Rittersche Linie, die in die von Odo Marquard formulierte Regel mündete: Wer verändern will, trägt die Beweislast, sonst bleibt alles beim alten. Schließlich, drittens, die staatsrechtliche Linie, die in Carl Schmitt geradezu personifiziert ist und von Ernst Forsthoff später an die Prämissen des »Versorgungsstaates« angepaßt wurde: Sie führte die alte deutsche Trennung von »Staat« und »Gesellschaft« weiter und genehmigte die Demokratie − unter Abspaltung des Liberalismus und der diskursiven Öffentlichkeit. Der Vorwurf des Antiliberalismus trifft die meisten Neokonservativen der siebziger Jahre nicht mehr, aber Demokratie bleibt für sie ein ganzes Stück weit Dezision; oder, wie es Lübbe formuliert hat: »Einzig als ›formale‹ Demokratie ist die Demokratie eine freie Demokratie«, also vor dem Umschlag in »totalitäre Demokratie« gefeit.

Man müßte mehr Zeit haben, um die befreienden und demokratisierenden Wirkungen zu würdigen, die die Aufnahme und Umformung des »klassischen« Neukonservatismus der Schmitt, Freyer, Gehlen durch die neokonservativen Intellektuellen für die politische Kultur in Deutschland gehabt hat. Jürgen Habermas hat seinen Gegnern vor zwei Jahrzehnten den Vorwurf gemacht, unter Absehung von politisch diskreditierten Elementen dennoch die Denklinien der zwanziger und dreißiger Jahre weiterzuführen. Aber die demokratische Neuinterpretation dieser Denklinien ist möglicherweise verdienstvoller, als sie in den Giftschrank der deutschen Ideengeschichte sperren zu wollen. In jedem Fall ist unverkennbar − erst recht mit gewachsenem Abstand −, wie sehr der intellektuelle Konservatismus der siebziger und achtziger Jahre noch spezifisch deutschen intellektuell-politischen Traditionen verhaftet blieb. Aber diese Nahrung ist inzwischen aufgebraucht. Die alten Wegweiser aus Begriffen und Argumenten besagen in einer Welt jenseits der klassischen technisch-industriellen Moderne nicht mehr allzu viel, und der Konservatismus hat es versäumt, im intellektuellen Raum wie in der Politik, über eine zeitgemäße Neuausrichtung nachzudenken.

Der Konservatismus verharrt insofern vor einer Schwelle, die mindestens so hoch ist wie die der Nachkriegszeit und vielleicht sogar eher mit der skizzierten Herausforderung am Beginn des 20. Jahrhunderts vergleichbar. Man müßte zumindest prüfen, ob die bisherigen Kategorien noch einmal weitergetragen werden können oder welcher Art von Transformation es bedürfte, um sie zukunftsfähig zu halten. Was läßt sich, um ein Beispiel zu nennen, von dem konservativen Begriff der Moderne und der Modernisierung zwischen Freyer und Lübbe in der Ära der »Zweiten Moderne« und »Reflexiven Modernisierung« noch retten? Auf der Linken haben sich auch die Intellektuellen der jetzt älteren Generation vor gedanklichem Stillstand bewahren können, während ihre konservativen Generationsgenossen viel eher die Melodien der siebziger Jahre weiterspielen.

Auf der anderen Seite verfügte diese Generation noch über ein ausgeprägtes und gleichzeitig selbstverständliches Bewußtsein ihrer eigenen intellektuellen Wurzeln, das in der jetzigen mittleren und jüngeren Generation verlorenzugehen scheint. Muß man sich heute überhaupt noch gegenüber Carl Schmitt oder − für die Linke gilt im Grunde das gleiche − Adorno positionieren? Wenn das nichtmehr der Fall ist, wird niemand die Vorzüge bestreiten können: vom endgültigen Zusammenbruch einer bildungsbürgerlichen Elitenkultur bis zur Aufsprengung einer nationalen Geistesgeschichte durch die massive Rezeption vor allem französischer, teils auch englischer und amerikanischer Philosophie, Literatur- und Sozialwissenschaft seit den achtziger Jahren. Nicht zufällig ist der sehr »deutsche« Streit um den Neokonservatismus der »Tendenzwende« zeitgleich mit dieser Zäsur verschüttet worden. Aber es ist immer noch besser, Traditionen zu kennen, als irgendwann von ihnen überrascht zu werden.

 

IV

Man kann über die Konservativen nicht sprechen, ohne ihre politisch-ideologischen Gegner ins Auge zu fassen. Der Befund, der politische Konservatismus leide unter programmatischer Auszehrung, läßt jedenfalls eine Umkehrung der Perspektive ratsam erscheinen: Es könnte ja sein, daß ehemals konservative Begriffe und Denklinien sich inzwischen in intellektuellen Diskursen und politischen Bewegungen wiederfinden, die wir gewöhnlich dem linken Lager zurechnen. In der Tat haben die Schwierigkeiten des Konservatismus mit fundamentalen Wandlungen ihrer Gegner zu tun. Die Linke der frühen siebziger Jahre, so weit sich ihr Bogen von Ehmkes Strategieplanung im Kanzleramt bis zu der irrlichternden Erbmasse der Studentenbewegung spannte, einte ein noch weitgehend ungebrochener Zukunftsoptimismus hinsichtlich der Erreichbarkeit einer besseren Gesellschaft, sei es durch demokratische Planung, sei es durch Revolution und Gewalt. Diese Visionen sind auf radikale Weise zertrümmert worden, und trotz aller beflissenen Euphorie über die Zukunft einer Science-Society ist deshalb der ideenpolitische Hintergrund der Regierung Schröder von dem der Regierung Brandt völlig verschieden. Kurz gesagt: Die »grün-alternative«, die postmoderne, die zivilisationskritische Wendung der Linken zumal in Deutschland seit den späten siebziger Jahren stellt eine Zäsur dar, deren Bedeutung sich erst in historischer Perspektive erweisen wird. Sie hat maßgeblich dazu beigetragen, bei den Konservativen jene Leerstelle zu erzeugen, in die der Neoliberalismus dann um so leichter eindringen konnte.

Die damit verknüpfte Abwanderung der Aufklärungskritik, überhaupt der vielschichtigen Traditionen der Kulturkritik, von der rechten auf die linke Seite des politischen Spektrums wäre ein Thema für sich. Man träfe dann unter anderem auf die politischen Ambivalenzen der postmodernen Philosophie, die seit den achtziger Jahren den intellektuellen Generalbaß großflächiger gesellschaftlicher, politischer und mentaler Verschiebungen geliefert hat und müßte rekonstruieren, warum eigentlich die »Entschleunigung« der Moderne von den Konservativen zu den Linken gewechselt ist. Diese Verschiebung ist zwar nicht mit der ersten Ölkrise und dem Tschernobyl-Schock vom Himmel gefallen, sondern hat Vorläufer, die mindestens bis zu den zivilisationskritischen Reformbewegungen der vorletzten Jahrhundertwende zurückreichen und auch die »Dialektik der Aufklärung« einschließen. Aber sie hat sich in den vergangenen 25 Jahren zu einem Paradigmawechsel verdichtet, der inzwischen in der Sozialisation mehrerer politischer Generationen − grob gesagt: in den Jahrgängen seit etwa 1950 − tiefste Prägespuren hinterlassen hat. Das gilt nicht nur für die Umprägungen im Binnenraum linker Wählerschaft. Weil sie das konservative Unbehagen an der Moderne integrieren konnte, hat diese neue politische Grundhaltung eine enorme Ausstrahlungskraft und Verallgemeinerungswirkung erzielt. Nicht zufällig hat man den Eindruck, daß gerade diese Generationen den Konservativen strukturell abhanden gekommen sind. Man kann das demographisch und mit Wähleranalysen belegen[1. Vgl. Tobias Dürr /Rüdiger Soldt (Hrsg.), Die CDU nach Kohl. Frankfurt: Fischer 1998.], aber eben auch auf den Ausfall einer erkennbaren Formation konservativer Intellektueller in der mittleren und jüngeren Generation hinweisen, die sich diesseits der Militanz einer »Jungen Freiheit« bewegt.

Der Konservatismus hat von der aufklärungsskeptischen und ökologischen Wende des Zeitgeistes jedenfalls wenig profitiert. Das ist durchaus erklärungsbedürftig, denn die ökologische Programmatik hat im weiteren Umfeld des intellektuellen Neokonservatismus schon früh eine auffällige Rolle gespielt, ist hier jedenfalls früher aufgegriffen worden als im Umkreis der Frankfurter Schule; das belegen zahlreiche Veröffentlichungen Hermann Lübbes oder Niklas Luhmanns aus den achtziger Jahren. Aber im Zweifelsfall wurde häufig der technischen Rationalität der Vorrang vor der um sich greifenden Sehnsucht nach Entlastung und Stabilität − man könnte meinen, ein Fest für den Konservatismus! − gegeben. Die damals vieldiskutierte, kühl-abwehrende Reaktion Odo Marquards auf die Ängste nach der Tschernobyl-Katastrophe (Zeit, 12.Dezember 1986) ist ein Beispiel dafür. Hier zeigte sich noch einmal die intellektuelle Wirkmächtigkeit der Vorgängergeneration, die mit Gehlen, Freyer und anderen den deutschen Konservatismus wenige Jahrzehnte zuvor so erfolgreich auf die vorbehaltlose Bejahung der technisch-industriellen Moderne »umgepolt« hatte.[1. Vgl. Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. München: Beck 2000.]

Diese Innovation droht seitdem zur Falle zu werden. Entsprechend schwach blieben die politischen Konsequenzen eines ökologischen Konservatismus, wie sie zumeist mit der Formel von »schwarz-grün« abgekürzt werden. Die Aneignung konservativer Denkmuster durch die Linke geht über die aufklärungsskeptische, grün angefärbte Neuorientierung sogar noch hinaus. Dabei muß man gar nicht an komplizierte geistesgeschichtliche Überlagerungen denken, wie sie etwa für das Verhältnis der Frankfurter Schule zur Liberalismuskritik Carl Schmitts heftig diskutiert worden sind. Auffälliger ist der durchaus selbstbewußte »Diebstahl« von Prinzipien, die der Konservatismus allzu leicht preisgegeben hat. Das gilt zwar nicht für Leitbegriffe wie »Tradition«, »Erbe« oder »Autorität«, aber zum Beispiel − als metapolitisches Prinzip kaum weniger grundlegend − für die Ironie. Von der romantischen Ironie bis zu Thomas Mann hatte die Ironie nicht nur ein Fundament des Konservatismus, sondern auch eine seiner wichtigsten Brücken zu den Intellektuellen gebildet, denn »Ironie ist eine Form des Intellektualismus, und ironischer Konservativismus ist intellektualistischer Konservativismus«, heißt es in den Betrachtungen eines Unpolitischen von 1918. Danach war es nicht nur für die Konservativen schwer, ironisch zu bleiben, aber aus der Nachkriegsgeneration gingen einige der bedeutendsten Ironiker unter den deutschen Intellektuellen − oder: Konservative unter den deutschen Ironikern − hervor, man muß nur die Namen Niklas Luhmann (1927−1998), Thomas Nipperdey (1927−1992) und Johannes Gross (1932−1999) nennen.

Es ist nur ein Zufall, daß sie alle relativ früh verstorben sind, aber kein Zufall, daß sie keine Nachfolger gefunden haben. Jetzt droht den Konservativen die Ironie abhanden zu kommen. Vor allem aber ist in der Zwischenzeit, am einflußreichsten mit Richard Rorty, die Ironie als Geisteshaltung und politisches Prinzip, als eine Art melancholische Restutopie jenseits der Aufklärung für das linke und liberale Lager reklamiert worden. Man könnte andere Beispiele anschließen und etwa den Weg verfolgen, den die »Böckenförde- Doktrin« − die Überzeugung, die liberale politische Ordnung beruhe auf Voraussetzungen, die durch diese Ordnung selber nicht garantiert werden können − vom Schmittianismus (an Carl Schmitt führt eben doch kein Weg vorbei!) zu den linksliberalen »Verfassungspatrioten« zurückgelegt hat. Das ist im übrigen symptomatisch dafür, daß der Konservatismus die ihn früher geradezu definierende Grundfrage nach der Wertefundierung in der säkularisierten Moderne immer mehr den Liberalen überlassen hat.

 

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Daß wir uns inzwischen »jenseits von links und rechts« befinden und die Frage nach dem Konservatismus sich damit von selber erledigt habe, wird man nach alldem nicht glauben können − und so hatte Anthony Giddens seine Formel ja auch gar nicht gemeint. Aber der Konservatismus ist immer schon, und wahrscheinlich mehr als Liberalismus und Sozialismus, durch seine jeweiligen politisch-weltanschaulichen Gegner mitdefiniert und durch deren Veränderung zu Reaktionen gezwungen worden. In den letzten zwei, drei Jahrzehnten aber haben die Konservativen den Fehler begangen, es sich im Windschatten der politischen, programmatischen und intellektuellen Debatten − und oft genug: Selbstzerfleischungen − der Linken allzu bequem zu machen. Sie haben dem inneren Streit ihres Gegners zugeschaut, ihn gerne hämisch kommentiert, dabei aber übersehen, daß ihr eigener Diskussionsbedarf eigentlich mindestens ebenso groß gewesen wäre. Der Traditionalismus ist ein Selbstläufer, der Konservatismus jedoch nicht, wie wir seit Karl Mannheim wissen. Liest man Der lange Weg nach Westen, Heinrich August Winklers Darstellung bundesrepublikanischer Geschichte, dann hat seit den siebziger Jahren nur die Linke gestritten − über sich selbst, über die Nation, über die deutsche Geschichte. Darin mag eine gewisse Einäugigkeit des Autors zum Ausdruck kommen, aber es spiegelt doch insgesamt zutreffend die ungleichen Diskursanteile wider.

Wenn der Konservatismus diesen Rückstand aufholen will, muß er als politische Bewegung wieder mit den Intellektuellen ins Gespräch kommen − zunächst einmal ganz unabhängig davon, welchem Lager diese sich selber zuordnen. Aber man wird auch nach einer jüngeren Generation konservativer Intellektueller fragenmüssen. Die letzte als solche erkennbare Generation ist immer noch die um die Jahrgänge 1926 bis 1932 herum konzentrierte, die seit den sechziger Jahren erheblichen Einfluß in Politik und Öffentlichkeit ausgeübt hat. Hat etwa die so prononcierte Selbststilisierung konservativer Intellektueller in Deutschland nach 1945 als »Anti-Intellektuelle« − von Gehlen bis Schelsky, von Tenbruck bis Sontheimer – ihren möglichen Nachfolgern den Boden unter den Füßen weggezogen?

Welche prägenden Erfahrungen kommen für die Konservativen überhaupt in Frage? Wie hilflos sie allem, was mit ’68 abgekürzt wird, gegenüberstehen, zeigte sich am Anfang dieses Jahres wieder einmal an den Debatten über die »Vergangenheit« Trittins und Fischers. Von der deutschen Vereinigung scheint eine solche Initialzündung ebenfalls nicht auszugehen; jedenfalls ist ein unverkniffener, moderner Konservatismus der vielbesungenen »Generation 1989« oder »Generation Berlin« bisher nicht zu erkennen. Wenn die perhorreszierte »Kulturrevolution« im Gefolge der Studentenbewegung den Konservativen vor drei Jahrzehnten neue Impulse gegeben hat − wieso läßt sie dann die gegenwärtige Kulturrevolution kalt? Erleben wir nicht im Moment ein weit ausgreifendes Zerbröseln bürgerlich-ziviler Verhaltensstandards, gegenüber dem die antibürgerliche Bürgerlichkeit der Achtundsechziger scharf hervortritt, und wäre das nicht ein großes Thema für Konservative? Oder die Bildungs- und Wissenschaftspolitik als Paradedisziplin des damaligen Neokonservatismus: Warum fällt Konservativen heute nichts anderes ein, als sich den Funktionsimperativen der Marktökonomie zu beugen, sobald Zauberworte wie Zukunftsfähigkeit, Standort oder Internet fallen? Wo ist der Bezug auf Werte, Bildung und Traditionen geblieben, mit dessen Hilfe sozialdemokratischen Bildungsministerinnen entgegengehalten werden könnte, daß es wichtigere Erziehungsideale gibt als die flächendeckende Computerausstattung der Schulen? Erst wenn es auf solche Fragen keine Antworten mehr gibt, ist der Konservatismus in Deutschland tatsächlich historisch am Ende. Bis dahin aber würden nicht nur die Konservativen selber davon profitieren, ihr Programm, ihre intellektuelle Agenda für die Zukunft öffentlich, selbstkritisch und selbstbewußt neu zu diskutieren.