Merkur Nr. 827, April 2018

“Dann wählen wir uns ein anderes Volk…”
Populisten vs. Elite, Elite vs. Populisten

von Philip Manow

 

Bei den Debatten, die momentan unter dem Oberbegriff »Populismus« stehen, gewinnt man mitunter den Eindruck, hier gäben vornehmlich Repräsentanten der Oberschicht zu Protokoll, wie sehr sie mittlerweile von der Unterschicht angewidert sind. Denn die wählt doch tatsächlich anders, als ihr vorher – natürlich nur mit den allerbesten Absichten und mit sehr vielen guten Gründen – nahegelegt worden war: für das wirtschaftlich verheerende und komplett irrationale »Leave« statt für das vernünftige »Remain«; für einen Troll als Präsidenten statt für eine erfahrene und seriöse Profipolitikerin; für den Rückfall in solche Atavismen wie Abschottung, Nationalismus und Unmenschlichkeit statt für Weltoffenheit, die Vereinigten Staaten von Europa und »Mitmenschlichkeit« (Bedford-Strohm). Aber was tun, wenn die Leute nicht wählen, wie sie sollen? Zur Rettung der Demokratie die Wahlen abschaffen?[1. Vgl. David Van Reybrouck, Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Aus dem Englischen von Arne Braun. Göttingen: Wallstein 2016.] Oder einfach die Idioten davon ausschließen?[2. Vgl. Jason Brennan, Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Berlin: Ullstein 2017.]

Für die US-Demokraten sollen nun Trumps Russlandverbindungen den Weg zum Impeachment ebnen, um auf diesem Weg den historischen Irrtum des amerikanischen Volks zu korrigieren, Hillary Clinton nicht zur Präsidentin gewählt zu haben. Man fragt sich bisweilen, wer genau hier gerade durchdreht – die Populisten oder ein sich selbst als liberal etikettierendes Milieu, das aber auch dem Kokettieren mit Attentats- und anderen politischen Gewaltfantasien wieder einiges abgewinnen kann?[3. Vgl. David Bromwich, The Age of Detesting Trump. In: vom 13. Juli 2017.] Oder womöglich beide?

Ralf Dahrendorfs Definition von »populistisch« als beliebte Bezeichnung für einen Politiker, der eine andere Meinung vertritt, hat angesichts dieser Diskussionslage viel für sich. Das ist im Wesentlichen ein Vorschlag zur sofortigen Beendigung der Debatte. Dabei ist ein alternativer Definitionsvorschlag, der verspricht, den Populismusbegriff nicht lediglich als politischen Kampfbegriff zu nutzen und auf den sich fast alle einigen zu können scheinen, vor einiger Zeit von Jan-Werner Müller formuliert worden. Er will Populismus rein formal verstehen, also unabhängig von jeglicher inhaltlichen Ausrichtung, und stellt dabei auf den moralischen Alleinvertretungsanspruch der Populisten ab, ihren offensichtlichen Antipluralismus, wenn sie das wahre Volk, zu deren authentischen Sprechern sie sich zuvor selbst ernannt haben, den korrupten, völlig losgelösten Eliten gegenüberstellen.

Für Müller ist daher klar: »populism isn’t about policy content« beziehungsweise »populism is always a form of identity politics« – »wir gegen sie«, aber eben eine Form der Identitätspolitik, die dem anderen die Legitimität grundsätzlich abspricht.[4. Jan-Werner Müller, What is Populism? London: Penguin 2017.] Ein ausgewiesener Experte für die neuen populistischen Parteien wie Cas Mudde folgt Müller im Wesentlichen, wenn er in diesem Zusammenhang von einer »dünnen Ideologie« spricht (»a set of ideas that appears in combination with quite different, and sometimes contradictory, ideologies«) und feststellt, Populismus sei »unrelated to the left/right-distinction«.[5. Cas Mudde/Cristóbal Rovira Kaltwasser, Populism. A Very Short Introduction. Oxford University Press 2017.] Auch Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, weiß, dass es sich beim Populismus um eine »Strategie handelt, … die mit nahezu jeder beliebigen inhaltlichen Ausrichtung kombiniert werden kann, … an den konkreten politischen Zielen kann man eine populistische von einer nichtpopulistischen Bewegung also nicht unterscheiden«. Bei aller verbleibenden Unklarheit über das populistische Phänomen soll zumindest eins als sicher und völlig unkontrovers gelten: »Unbestreitbar ist allein, dass der Populismus mehr Form als Inhalt ist und mehr Stil als Programm.«[6. Andreas Voßkuhle, Demokratie und Populismus. In: FAZ vom 23. November 2017; Christian Joppke, Erst die Moral, dann das Fressen. In: FAZ vom 12. Juni 2017.]

Aber ist dem wirklich so? Reicht es, Populismus allein als Antipluralismus zu fassen, allein als Kennzeichnung einer besonderen Intensität politischer Ausgrenzungsrhetorik zu verstehen, oder führt das nicht vielmehr zu einer »Verschiebung der Streitgegenstände ins gleichsam Musische« (Dietmar Dath)? Wenn man meint, Populismus sei mehr Form als Inhalt, mehr Stil als Programm, wird die Kritik an ihm zur reinen Stilkritik: Ein pikiertes Bürgertum möchte, dass die Ungewaschenen sich doch bitte erst einmal waschen, bevor sie artig am Diskurstisch Platz nehmen dürfen. Dass man, solange das nicht geschieht, auch über ihre Inhalte nicht weiter zu sprechen braucht, ist dann nur ein ganz angenehmer, aber natürlich völlig unbeabsichtigter Nebeneffekt.[7. Jan-Werner Müller ist völlig eindeutig darin, dass er gerade nicht vorschlägt »to exclude those who exclude«. Und auch sonst findet man in den einschlägigen Debatten selbstverständlich immer die Mahnung, sich inhaltlich mit den Positionen der Populisten auseinanderzusetzen. Abgesehen davon, dass diese Einlassungen (»Sorgen und Ängste der Leute ernst nehmen«) oft in einem schwer erträglichen sozialtherapeutischen Ton gehalten sind und damit die Markierungen, die man behauptet überschreiten zu wollen, erst noch einmal nachzeichnen, bleiben sie darüber hinaus meist völlig inhaltsleer, weil die Probe aufs Exempel dann sehr selten gemacht wird. Da muss zumeist ein »Wir schaffen das« als Diskursplatzhalter reichen – auch weil die eigene Position inhaltlich so gesichert meistens nicht ist, zumindest nicht so gesichert, wie die vielen rhetorischen Gesten es suggerieren wollen. Im Zweifel greifen dann auch andere Formeln: »nicht hinterherlaufen«, »keine Plattform bieten«, »Wasser auf die Mühlen von« etc.]

Man wird eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen populistischen Strömungen nicht vermeiden können, nicht zuletzt, weil die antipluralistische Definition sich in der politischen Praxis andauernd selbst dementiert. Ihre Suggestion »Komm zurück, wenn der Schaum vorm Mund weg ist, dann können wir über alles reden« ist unehrlich, primär ein Instrument der Selbstberuhigung und Auspolsterung bürgerlicher Sekurität, und spielt im Kern die diskursiven Ausgrenzungsstrategien der Populisten nur zurück. Notwendig wäre stattdessen ein substantielles Konzept, das dann auch Fragen nach der Varianz zu beantworten haben wird, also nach den Gründen, warum der Populismus hier so, etwa rechts, und dort anders, etwa links, auftritt. Denn der Populismus ist ja eben nicht, wie Cas Mudde meint, unverbunden mit links oder rechts. Diese Sicht ist meines Erachtens analytisch unpräzise. Er ist vielmehr aus systematischen und nicht nur zufälligen Gründen manchmal mit der Linken und manchmal mit der Rechten verbunden. Wenn man beginnt, nach den Ursachen für diese Unterschiede zu fragen, sich also auf die politischen Inhalte einlässt, wird es vielleicht möglich sein, ein besseres Verständnis dieses zunehmenden politischen Protestverhaltens zu entwickeln.

 

Die Ungewaschenen

Das Absehen von den inhaltlichen Positionen und das alleinige Abstellen auf die Ausgrenzungsrhetorik der Populisten mag zunächst den Vorteil haben, den Populismusbegriff aus dem direkten Streit herauszuhalten, bedeutet aber eben auch, dass man es sich erlaubt zu ignorieren, um was es politisch genau geht, wie die Positionen aussehen und warum. Das ist zumindest kompatibel mit der in dieser Debatte vorherrschenden Haltung, dass den populistischen Positionen die Unvernunft ohnehin so offensichtlich eingeschrieben ist, dass darüber kein weiteres Wort zu verlieren sei – was nichts anderes ist als die Selbstdementierung des pluralistischen Plädoyers, mit dem man zuvor hantiert hatte, um überhaupt erst ein Konzept des Populismus zu gewinnen. Insbesondere vermeidet man es so, grundlegende Verteilungs- und Knappheitsfragen zu thematisieren, etwa Fragen nach den Gewinnern und Verlierern von Weltoffenheit und Mitmenschlichkeit, Fragen, die zu stellen eine (deutsche) Mittelschicht nicht mehr für schicklich hält, auch weil sie mit ihrer lebensweltlichen Realität kaum mehr Berührungspunkte aufweisen.

Oder auch Fragen nach der demokratischen Legitimation einer Europäischen Union, gegenüber der sich in Deutschland nun wieder exakt jenes Biedermeier durchzusetzen scheint, das man im Kaiserreich schon einmal eingeübt hatte: Man verzichtet ganz freudig auf politische Teilhabe und unterwirft sich einer demokratisch nicht hinreichend legitimierten europäischen Techno- und Juridokratie, solange die nur für die Aufrechterhaltung einer funktionierenden Marktordnung sorgt. Von der profitieren aber nicht alle gleichermaßen, so dass der Saldo aus politischem Verlust und ökonomischem Gewinn möglicherweise nicht alle derart nonchalant auf das manifeste europäische Demokratiedefizit schauen lässt?

Zumindest scheint die Beobachtung nicht völlig irrelevant, und das ist jetzt überhaupt nicht zynisch gemeint, dass emphatische Bekenntnisse etwa zu maximaler kosmopolitischer Moral stabil mit gewissen sozioökonomischen Eigenschaften derer korrelieren, die das vorzugsweise vertreten, also etwa selten von Leuten kommen, die der Lohnkonkurrenz in niedrigproduktiven Dienstleistungsberufen ausgesetzt sind. Dass die SPD keine Arbeiterpartei mehr ist und daher Arbeiterinteressen auch nur noch im Ausnahmefall vertritt, könnte recht sparsam mit jeder beliebigen Erhebung zur sozialen Zusammensetzung ihrer Funktionärsschicht erklärt werden. Doch ist es dann Schuld der Arbeiter, sich von einer TVÖDSPD, die lieber Bundeslöschtage mit Heiko Maas feiert, nicht mehr vertreten zu fühlen.[8. Daniel Oesch, Explaining Workers’ Support for Right-Wing Populist Parties in Western Europe. Evidence from Austria, Belgium, France, Norway, and Switzerland. In: International Political Science Review, Nr. 3, 2008.] Hält man aber die sozioökonomischen Voraussetzungen der eigenen Haltung und die der Haltung der anderen systematisch außen vor, weil man den Diskurs nur im Register der Moral führen will, versagt man als Elite.[9. Insbesondere, wenn man unter Populismus eine »particular moralistic imagination of politics« versteht, wie Jan-Werner Müller.]

 

 

Dem Blick von außen fällt es offensichtlich leichter zu erkennen: »Die Unfähigkeit und die mangelnde Bereitschaft liberaler Eliten, die Migration und deren Folgen zum Gegenstand der Diskussion und der politischen Auseinandersetzung zu machen, wie auch die Behauptung, die gegenwärtige Politik sei für alle Beteiligten von Vorteil (eine Win-win-Situation), haben dazu geführt, dass der Liberalismus in den Augen vieler Menschen zum Synonym für Heuchelei geworden ist.«[10. Ivan Krastev, Europadämmerung. Ein Essay. Berlin: Suhrkamp 2017.] Die Selbstgerechtigkeit empört die Verlierer vorhersehbar: Aber ist die Empörung dann als schrille Empörung illegitim – und wer legte das fest? Und warum sollten sich die Empörten darum scheren, wenn ihnen auch das noch attestiert würde? Ein allein auf die Schärfe der Abgrenzungsrhetorik abstellender Populismusbegriff wird in diesem Konflikt parteiisch, weil er implizit mit dem Status quo verbunden ist. Er wird Teil der Elitenselbstvergewisserung oder muss dann zumindest so verstanden werden: Die Kritik an uns ist populistisch – und daher illegitim. »Hier leidet die Analyse … darunter, dass die Interpretation des Populismus aus der Perspektive jener Eliten stattfindet, die von den Bürgern als Problem diagnostiziert werden.«[11. Olaf Jann, »Heartland« – oder: Die Kritik der infamen Bürger. In: Dirk Jörke/Oliver Nachtwey (Hrsg.), Das Volk gegen die (liberale) Demokratie. In: Leviathan, Nr. 32, 2017 (Sonderband).]

 

Spaltungen

Was die genauen sozioökonomischen Charakteristika des populistischen Wählers anbetrifft, so ist es zutreffend, dass ein eindeutiger Nachweis einer besonderen Prädisposition bestimmter Gesellschafts- oder Arbeitsmarktgruppen bislang aussteht. Das Bild ist komplex und nicht ohne Widersprüche, variiert nicht zuletzt erheblich zwischen den Ländern. Andererseits sind auch bestimmte Korrelationen unübersehbar, etwa in den USA die Konfrontation zwischen den »deplorables« im Landesinnern und der »bicoastal elite«. Ähnliche Stadt-Land-Spaltungen sind beim Brexit offensichtlich und bestimmen auch die Konfliktlinien in Polen, Ungarn und der Türkei, wo PiS, FIDESZ und AKP die – fromme und konservative – Landbevölkerung gegen die urbanen Eliten in Warschau, Budapest und Istanbul in Stellung bringen.[12. David Goodhart, The Road to Somewhere. The New Tribes Shaping British Politics. London: Penguin 2017.]

Und es ist auch plausibel, dass diesen Konflikten eine ökonomische Verteilungsdimension zugrunde liegt: Sie sind zwar kulturell eingefärbt und verstärkt, aber dass beispielsweise die Globalisierungsverlierer Osteuropas eher auf dem Land oder in den alten Zentren der Schwerindustrie und des Bergbaus zu finden sind und die Gewinner eher in den Städten, kann wohl nicht ernsthaft bezweifelt werden.[13. Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa. Berlin: Suhrkamp 2014.] Und dass der Beitritt zur EU die hergebrachten ländlichen Strukturen in Ostmitteleuropa schockartig in Konkurrenz zu einer extrem hochgezüchteten und über Jahrzehnte massiv subventionierten westeuropäischen Landwirtschaft gesetzt hat, ist ebenfalls evident. Will man dann den Überbringer der schlechten Nachricht, dass Globalisierung (hier als Europäisierung) auch Verlierer produziert, beschimpfen?

Natürlich entschuldigt oder rechtfertigt eine solche Analyse nicht die Demontage einer unabhängigen Judikative, die die polnische PiS momentan betreibt, oder die Entmachtung unabhängiger Medien. Aber zum einen ist unklar, ob das ein Signum rechtspopulistischen Regierens generell ist oder eher ein ostmitteleuropäisches Spezifikum, das etwa in Rumänien substantiell gleichermaßen erfolgt, nur dort nicht verbunden mit einer scharfen Anti-EU-Polemik. Zum anderen sollte gerade das sozialwissenschaftliche Verstehen sich zunächst unabhängig machen vom politischen Verurteilen. Und wenn dieses Verstehen mit Konzepten wie »Globalisierungsverlierer« hantiert, bedeutet das auch keinesfalls eine herablassende »Pathologisierung bestimmter Gesellschaftsschichten«, meint Andreas Voßkuhle. Ganz im Gegenteil: Diese Herablassung ist eher verbunden mit dem formalen, aber latent moralisierenden Populismusbegriff, dem Voßkuhle das Wort redet.

Auch bei der Kontrastierung der unterschiedlichen AfD-Affinitäten der west- und ostdeutschen Wählerschaft sollte man in Rechnung stellen, dass das »historische Glück der Wiedervereinigung« im sogenannten Beitrittsgebiet untrennbar mit einem radikalen ökonomischen Schock verbunden war, der Episoden der Arbeitslosigkeit für viele mit sich brachte und für noch viele mehr die Möglichkeit einer solchen Episode erstmals in ihre Lebenswirklichkeit rückte. Arbeitslosigkeit konnte zwar in Ostdeutschland sozialstaatlich weitaus generöser abgefedert werden als das in Polen, Ungarn, Rumänien etc. nach 1989 möglich war, aber es bleibt das Faktum der drohenden Entwertung vieler Bildungs- und Erwerbsbiografien.

Es sollte nicht überraschen, dass vor diesem konkreten Erfahrungshintergrund die im Zuge der Agenda 2010 drastisch verkürzte Frist, bis man sich als Arbeitsloser faktisch auf Sozialhilfeniveau wiederfindet, anders als in Westdeutschland bewertet wurde. Und wenn man vor dem Hintergrund solch einschneidender biografischer Erfahrungen anders auf die §§ 1–4 des Asylbewerberleistungsgesetzes und die Flüchtlingskrise von 2015ff. schauen würde, wäre das ebenfalls nicht gänzlich verwunderlich. Wenn sich nun die zahllosen Hobbyethnologen und Küchenpsychologen über den »ostdeutschen Mann« beugen und kein Faktor zu abstrus ist, um nicht für eine Erklärung seiner faschistischen Prädisposition herhalten zu müssen, vom Ausstrahlungsgebiet des ehemaligen Westfernsehens bis zum Dreißigjährigen Krieg,[14. Als besonders schönes Beispiel für die freihändige Konstruktion ganz, ganz langer Kontinuitäten vgl. Magnus Brechtken, Das Selbstbild der Unberührbaren. In: FAZ vom 18. Dezember 2017.] sagt das viel über die Machtverteilung im bundesdeutschen Politikdiskurs und über dessen beliebteste Erzählfiguren, zu denen ja auch prominent die alternative Wahrheit gehört, dass wir hier eigentlich nur mit einem Ostphänomen konfrontiert sind. Mehr sagt das aber meistens auch nicht.

 

Verlierer von morgen

Zumindest – so viel lässt sich auch vor dem Hintergrund des noch recht unfertigen Forschungsstands sagen – sollte man nicht per definitionem von vornherein ausschließen, dass es spezifische sozioökonomische Lagen gibt, die zu populistischem Protestverhalten führen und die auch dessen jeweilige politische Ausprägung – links oder rechts – erklären. Die Mechanismen können durchaus nichttrivial sein, denn häufig »steht der neue Populismus nicht für die Verlierer von gestern, sondern für die voraussichtlichen Verlierer von morgen« (Krastev), es geht bei ihm also nicht notwendigerweise um die Verlierer, sondern um die, die etwas zu verlieren haben. Das lässt sich dann nicht so unmittelbar an den Daten ablesen, und die Beziehung zwischen extremem Wahlverhalten und Deprivation ist vermutlich auch nichtlinear: Die wirklich Abgehängten gehen gar nicht mehr wählen.[15. Armin Schäfer, Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Frankfurt: Campus 2015; ders.,/Hanna Schwander/Philip Manow, Der »sozial auffällige« Nichtwähler. Determinanten der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013. In: Harald Schoen/Bernhard Weßels (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2013. Wiesbaden: Springer 2016.] Natürlich kann es grundsätzlich sein, dass wir es eher mit einem Kulturkampf zu tun haben, einem cultural backlash gegen den seit den 1970er Jahren vollzogenen Wertewandel, und gar nicht so sehr mit wirtschaftlichen Problemen der Modernisierungsverlierer.[16. Aber hier besteht die Gefahr eines gängigen (Fehl)Schlusses vom sozioökonomischen Nichtbefund auf die Erklärungskraft soziokultureller Faktoren. Vgl. Ronald F. Inglehart/Pippa Norris, Trump, Brexit, and the Rise of Populism. Economic Have-Nots and Cultural Backlash. Harvard Kennedy School Faculty Research Working Paper, Nr. RWP16-026 vom August 2016. Dieser Fehlschluss findet sich wohl auch in Philip Manow/Hanna Schwander, It’s not the economy, stupid! Explaining the electoral success of the German right-wing populist AfD. University of Zurich: CIS Working Paper, Nr. 94, 2017.]

Oder wir haben es mit einer komplizierten Kombination aus kulturellen Deutungs- und ökonomischen Verteilungskämpfen zu tun. Aber diese bislang offenen Fragen sollten nicht durch eine spezifische Fassung des Populismusbegriffs präjudiziert werden, auch und vor allem, weil man sich so von vornherein der Möglichkeit begibt, etwas zur offensichtlichen Varianz seines Auftretens aussagen zu können. Ein Konzept, das explizit davon absehen will, ob man es mit Links- oder Rechtspopulismus zu tun hat, ob der Populismus wohlfahrtsstaatschauvinistisch oder aber protektionistisch, xenophob oder vulgärmarxistisch auftritt, kann diese Unterschiede nicht erklären: Denn warum dominiert dann in Lateinamerika und Südeuropa der Linkspopulismus und in Nord- und Kontinentaleuropa der Rechtspopulismus?[17. Dani Rodrik, Populism and the Political Economy of Globalization. Discussion Paper, Harvard University 2017; vgl. Philip Manow, Links und rechts – zwei Spielarten des Populismus. In: FAZ vom 29. Januar 2018.] Und warum sehen wir in Deutschland neben der West-Ost-Varianz auch ein Nord-Süd-Gefälle in Bezug auf den AfD-Wahlerfolg? Man möge sich erinnern: Es war in der baden-württembergischen Landtagswahl von 2016, dass die AfD mit 15,1 Prozent zur drittstärksten Partei wurde, 2,4 Prozent vor der Sozialdemokratie. Konnte man in Baden-Württemberg die letzten fünfzig Jahre kein Westfernsehen empfangen? Ist man dort erst nach 1990 den ersten Ausländern begegnet? War im Ländle die Re-Education defizitär?

Bei der Bundestagswahl 2017 schnitt die AfD im Westen in Baden-Württemberg und Bayern und im Osten in Sachsen am besten ab – also eher in den jeweiligen Wohlstandsregionen. Wenn wir die spiegelbildliche politische Geografie Italiens betrachten, wo die Lega Nord für den rechtspopulistischen Protest steht, den man im Süden weniger findet, legt das ebenfalls die Hypothese nahe, dass ablehnende Haltungen zu Migration möglicherweise eher in den relativ wohlhabenden Regionen zu erwarten sind, wo Bürger das, was sie durch Steuern und Beiträge an den (Sozial)Staat leisten, und das, was der Staat für sie leistet, als zunehmend ungleichgewichtig empfinden – wobei dann jeweils innerhalb der Regionen Einkommen und populistisches Wahlverhalten vermutlich die erwartete negative oder, bei Einbezug des Nichtwählens, eine kurvilineare Beziehung aufweisen. Es wäre dann keineswegs verwunderlich, dass statistische Analysen entweder auf nationaler Ebene oder im europäischen Vergleich keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Deprivation und populistischem Protest feststellen. Der daraus häufig gezogene Schluss aber, dass der Populismus keine ökonomischen Gründe hat, muss damit noch nicht unbedingt gedeckt sein. Die kulturelle Erklärungsvariante hätte zumindest Schwierigkeiten zu erklären, warum ein die ganze Gesellschaft erfassender Wertewandel eine regional so unterschiedliche Gegenbewegung provozieren sollte – und die Linkspopulisten von Syriza, Podemos und La France insoumise gehen ja auch nicht gegen die Ehe für alle, sondern gegen den Euro auf die Straße.

Schließlich ist auch nicht klar, wie operationalisierbar ein auf einen moralischen Alleinvertretungsanspruch abstellender Populismusbegriff überhaupt ist. Die Ausgrenzungsrhetorik scheint doch eher wechselseitig zu sein. »Schande, Pack, braune Brut, Nazischlampe« – man hat nicht den Eindruck, dass irgendwer besonders zimperlich in seiner Wortwahl wäre. In vielen Varianten kombiniert der Liberalismus der Elite soziale Toleranz mit politischer Intoleranz: Verständnis für alles, was gesellschaftlich anders ist, keinerlei Verständnis für das, was politisch anders ist.[18. Jann: »… gerade kosmopolitisch gesinnte Gruppen [reklamieren] einen moralischen, sogar universellen Alleinvertretungsanspruch und sprechen Gegnern jegliche Legitimität ab«.]

Der Ausgrenzung von unten (»Wir sind das Volk«, »Volksverräter«) steht daher auch eine Ausgrenzung von oben gegenüber. In beiden ist immer schon ganz klar, wer legitimerweise dazugehört und wer nicht. Man wird einen Rassisten wie den AfD-Bundestagsabgeordneten Jens Maier einen Rassisten nennen (können) müssen, doch damit ist noch nicht viel gewonnen. Zumindest ist unklar, warum man dann für »Rassist« einen anderen Begriff erfindet: Populist, wenn es nicht vor allem um Assoziation und Dissoziation geht und um die Verteidigung des Status quo.

 

Was nun?

Was heißt das nun für unser Verständnis vom neuen populistischen Phänomen? Es heißt, dass wir den politischen Gehalt des jeweiligen Populismus ernst nehmen sollten. Man könnte ihm dann auch politisch und nicht immer nur moralisch oder im Modus der Stilkritik begegnen. Für ein vergleichendes Verständnis der unterschiedlichen Spielarten des Populismus in Europa und darüber hinaus gibt es mittlerweile auch plausible Argumente über den Zusammenhang zwischen dem jeweiligen Wirtschaftsmodell, dem Wohlfahrtsstaat und der Form außenwirtschaftlicher Einbettung auf der einen Seite sowie der spezifischen Herausforderung durch die Globalisierung und des politischen beziehungsweise populistischen Protests gegen sie auf der anderen.

Der südeuropäische Linkspopulismus etwa scheint eine Reaktion auf die Krise eines Wachstumsmodells zu sein, das nationale geldpolitische Souveränität zur Nachfragestimulierung benötigen würde, eine Souveränität, die mit der Einführung des Euro aber aufgegeben wurde. Der Rechtspopulismus im nördlichen Europa ist im Gegensatz dazu nicht als eine Reaktion auf die Verteilungsfolgen durch den Verlust der nationalstaatlichen Souveränität über Geld zu verstehen, sondern auf die Verteilungsfolgen durch den Verlust nationalstaatlicher Souveränität über Grenzen. Es geht also einmal um die freie Bewegung von Gütern und Geld und deren distributive Effekte und einmal um die Verteilungsfolgen der freien Bewegung von Personen.[19. Das Argument ist systematisch ausgearbeitet bei Dani Rodrik.]

Die osteuropäischen Länder gleichen in diesem Erklärungsmodell dem Norden, nur mit dem Unterschied, dass man die innereuropäische Migration befürwortet, weil man von ihr profitiert, die von außerhalb Europas dafür umso stärker ablehnt. Aber auch hier produziert der gemeinsame Markt natürlich Globalisierungsverlierer – und es sind diese Verlierer, die PiS, FIDESZ usw. organisieren. Man müsste eine solche Erklärung wohl auch in eine längerfristige Perspektive einbetten. Aus meiner Sicht lässt sich der populistische Protest als Globalisierungsprotest vor dem Hintergrund einer seit 1990 herrschenden liberalen Hegemonie deuten, die Francis Fukuyama so unvergleichlich treffend beschrieben hat. Das sollte aber eher nicht dazu verleiten, das undifferenzierte Konzept des Neoliberalismus in Anschlag zu bringen, weil das über die ganz unterschiedlichen politischen Ökonomien in Europa und Nord- und Südamerika hinwegsieht und weil man damit eben auch nicht in den Blick bekommt, dass diese in den letzten dreißig Jahren recht unterschiedliche Verlierergruppen und Gruppen derer, die etwas zu verlieren haben, hervorgebracht haben.