Merkur, Nr. 550, Januar 1995

Philosophische Voraussetzungen der akademischen Freiheit?

von Richard Rorty

Es gibt eine Reihe von Philosophen (zu der auch ich selbst gehöre), die ihr Bestes tut, um die herkömmlichen Unterscheidungen zwischen Objektivem und Subjektivem, Vernunft und Leidenschaft, Erkenntnis und Meinung, Wissenschaft und Politik zu komplizieren. Wir bieten strittige Umdeutungen dieser Unterscheidungen und formulieren sie in einer Art und Weise, die von der Tradition abweicht. So bestreiten wir zum Beispiel, daß die Suche nach objektiver Wahrheit eine Suche nach Realitätsentsprechung sei, und treten dafür ein, sie solle statt dessen als Suche nach möglichst umfassendem intersubjektivem Einvernehmen aufgefaßt werden. Daher wird uns oft der Vorwurf gemacht, wir brächten die Überlieferungen und Praktiken in Gefahr, die den Menschen vorschweben, wenn von »akademischer Freiheit«, »wissenschaftlicher Integrität« oder »Standards der Forschung« die Rede ist.

Dieser Ansicht ist auch mein bekannter Fachkollege John Searle. In einem kürzlich erschienenen Artikel beschreibt Searle den überlieferten Vernunftgedanken des Abendlands, den er mit einem Schlagwort als »Westliche Rationalistische Tradition« bezeichnet.1 Diese Tradition, meint er, sei von philosophischer Seite unter Beschuß geraten, und dieser Angriff werde unter anderem von Thomas Kuhn, Jacques Derrida und mir selbst geführt. Desweiteren behauptet Searle, die gravierendste Einzelfolge der Ablehnung der Westlichen Rationalistischen Tradition bestehe darin, »daß sie dieMöglichkeit schafft, herkömmliche Maßstäbe derObjektivität, derWahrheit und der Rationalität preiszugeben, und einem Bildungsprogramm Tür und Tor öffnet, zu dessen vorrangigen Zwecksetzungen die Herbeiführung gesellschaftlicher und politischer Umgestaltungen gehört«.

Searle verzeichnet eine ganze Reihe philosophischer Thesen, die nach seiner Anschauung maßgeblich sind für die Westliche Rationalistische Tradition, doch ich werde hier nur auf zwei eingehen, nämlich die These, wonach sich die Erkenntnis, um mit Searle zu reden, im Regelfall auf eine bewußtseinsunabhängige Wirklichkeit bezieht, sowie die These, wonach die Erkenntnis durch Sätze zum Ausdruck gebracht wird, »die deshalb wahr sind, weil sie diese Realität genau wiedergeben«. Ich bin mit keiner dieser beiden Thesen einverstanden, sondern vertrete ebenso wie Kuhn die Meinung, daß wir Behauptungen, denen zufolge »sukzessive wissenschaftliche Überzeugungen immer wahrscheinlicher werden oder der Wahrheit in immer besserer Weise näherkommen, jeglichen Sinn absprechen und zugleich darauf hinweisen sollten, daß keine Beziehung zwischen Überzeugungen und einer vermeintlich bewußtseinsunabhängigen oder ›äußeren‹ Welt der Gegenstand von Wahrheitsansprüchen sein kann«.2

Ebenso wie Hilary Putnam bin ich der Ansicht, daß »Elemente dessen, was wir ›Sprache‹ oder ›Geist‹ nennen, derart tief in die sogenannte ›Realität‹ eindringen, daß schon das bloße Vorhaben, uns als ›Abbildner‹ von etwas ›Sprachunabhängigem‹ zu geben, von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Der Realismus ist ebenso wie der Relativismus ein aussichtsloser Versuch, die Welt von Nirgendwoher zu betrachten.«3 Kuhn, Putnam, Derrida und ich selbst wären vermutlich allesamt der gleichen Meinung wie Donald Davidson, der es für »müßig« erklärt, »die Vorstellung, wonach das Reale und das Wahre ›von unseren Überzeugungen unabhängig‹ seien, entweder abzulehnen oder zu akzeptieren. Die einzige einleuchtende positive Bedeutung, die wir dieser Formulierung beilegen können − die einzige Verwendung, die sich von den Absichten der Befürworter dieser Vorstellung herschreibt −, rührt von der Idee der Übereinstimmung her, und das ist eine Idee ohne Gehalt«.4

Die ins Detail gehenden Auseinandersetzungen zwischen Philosophen, die − wie Davidson, Putnam, Derrida, Kuhn und ich selbst − den Ausdruck »Übereinstimmung mit der Wirklichkeit« für nichtssagend erachten, einerseits und Philosophen wie Searle andererseits sind für Nichtspezialisten ebenso verwirrend wie die Auseinandersetzungen zwischen Theologen, die über Transsubstantiation streiten oder die Frage aufwerfen, ob eine Wiedergeburt als Zwitter schlimmer ist als eine Wiedergeburt als Tier. Das Technische und Kleinkarierte beider Arten von Streitpunkten ist schon von sich aus ein Grund für den Verdacht, daß die Fragestellungen, um die es bei diesen Auseinandersetzungen geht, nicht sonderlich eng mit unseren gesellschaftlichen Praktiken verknüpft sind.

Angenommen, die von Searle so bezeichneten »herkömmlichen Maßstäbe der Objektivität, der Wahrheit und der Rationalität« seien nichts weiter als die im akademischen Bereich normalen Verfahrensweisen. (Statt dessen können wir auch, um Searle einen Argumentationsvorteil einzuräumen, von der Annahme ausgehen, daß jene Maßstäbe nichts anderes sind als die vor der Trübung des Wassers durch Leute vom Schlage Kuhns, Derridas und Rortys üblichen Verfahrensweisen.) Dann vermag ich für die Ansicht, daß man durch Preisgabe des Vertrauens in die Übereinstimmung als Wissenschaftler an Glaubwürdigkeit verliere, ebensowenig einen Grund zu erkennen wie für die Ansicht, daß man zu einem weniger aufrichtigen Gerichtszeugen werde, sobald man nicht mehr an Gott glaubt. Auf beiden Seiten der Auseinandersetzung um die Übereinstimmung halten die Philosophen in sehr viel höherem Maße an diesen »herkömmlichenMaßstäben« fest als an der Bedeutung beziehungsweise an der Bedeutungslosigkeit der Idee der »Übereinstimmung«.

Searle hat allerdings insofern recht, als die Bösewichter dazu neigen, in diesem Meinungsstreit meine Seite zu favorisieren. Es gibt wirklich Menschen, die nicht die geringsten Bedenken haben, wenn es darum geht, Fachbereiche und ganze Fächer der Universität in Stützpunkte politischer Machtausübung zu verwandeln. Die Verehrung, die Searle und ich für die Traditionen der Universität empfinden, wird von diesen Leuten nicht geteilt, denen es vielmehr gelegen käme, philosophische Stützen zu finden für die Behauptung, daß diese Verehrung gar nicht angebracht sei. Das folgende Zitat ist ein Beispiel für die Art rhetorischer Äußerungen, die Searle genüßlich anführt, um den schlimmen Einfluß von Ansichten wie den meinen zu veranschaulichen: »Von den einflußreichsten modernen Philosophien und Theorien ist bewiesen worden, daß Ansprüchen auf Vorurteilslosigkeit, Objektivität und Allgemeingültigkeit nicht zu trauen ist; diese haben ihrerseits die Tendenz, in ihrer Reichweite begrenzte historische Bedingungen zu reflektieren.5

Ich muß Searle zugeben, daß dem Gremium, das diesen gräßlichen Satz produziert hat, tatsächlich Personen angehört haben, die wirklich glauben, daß die von Kuhn, Derrida und mir vertretenen philosophischen Ansichten die Konsequenz nach sich ziehen, die Universitäten könnten mit Begriffen wie »Vorurteilslosigkeit« und »Objektivität« nichts mehr anfangen. Diese Personen sind jedoch im Irrtum. Was wir bestreiten, ist die Möglichkeit, diese Vorstellungen durch Bezugnahme auf den Begriff »Übereinstimmung mit der bewußtseinsunabhängigen Wirklichkeit« zu erklären oder zu verteidigen. Philosophen, die in diesem Meinungsstreit auf meiner Seite stehen, sind der Ansicht, daß wir das mit derRede von der geforderten Vorurteilslosigkeit und Objektivität der akademischen Forschung Gemeinte nur erklären können, indem wir aufzeigen, in welcher Art und Weise freie Universitäten tatsächlich funktionieren. Verteidigen können wir solche Universitäten nur, indem wir auf den von ihnen erbrachten Nutzen hinweisen sowie auf ihre Rolle bei der Aufrechterhaltung und Funktionserleichterung demokratischer Regierungsformen und liberaler Institutionen.

Die hier getroffene Unterscheidung ähnelt der zwischen der Aussage »Mit dem Christentum können wir nichts mehr anfangen« und der Aussage »Durch Bezugnahme auf die aristotelischen Begriffe ›Substanz‹ und ›Akzidens‹ können wir das Abendmahl nicht erklären«. Zur Zeit des Konzils von Trient meinten viele gescheite Leute, die christliche Religion und damit die Stabilität der gesellschaftspolitischen Ordnung Europas würden in Gefahr geraten, wenn man die aristotelisch-thomistische Erklärung des Abendmahls fallenließe. Damit waren sie jedoch im Irrtum. Das Christentum hat den Verzicht auf diese Erklärung überdauert und lebt in einer den Läuterungsvorstellungen der Protestanten entsprechenden Form weiter. Philosophen, die in diesem Meinungsstreit auf meiner Seite stehen, sind der Ansicht, es sei aufrichtiger und klarer gedacht, wenn wir den Versuch erkenntnistheoretischer Rechtfertigungen der akademischen Freiheit unterließen und diese Freiheit statt dessen gesellschaftspolitisch begründeten. Die vorurteilslose, objektive Forschung würde es, wie wir meinen, nicht nur aushalten, wenn man sich unsere philosophischen Anschauungen zu eigen machte, sondern sie würde womöglich in einer unseren Läuterungsvorstellungen entsprechenden Form weiterleben.

Ein Resultat der Übernahme unserer Anschauungen könnte zum Beispiel darin bestehen, daß der »Physikneid« eine geringere Rolle spielt und daß die Unterscheidungen zwischen den Fächern nichtmehr in der phallogozentrischen Terminologie von »hart« und »weich« formuliert werden. Biologen und Historiker würden dann womöglich aufhören, die Nase über Kollegen in anderen Fachbereichen zu rümpfen, die zur Untermauerung ihrer Schlußfolgerungen nicht auf experimentelle Daten oder Archivbestände verweisen können. Vielleicht würden wir dann aufhören, uns über die witzlose und fade Frage auseinanderzusetzen, ob literaturwissenschaftliche Doktorarbeiten nicht bloß Meinungsäußerungen darstellen, sondern etwas zur Erkenntnis beitragen. Soziologen und Psychologen würden sich dann womöglich nicht mehr fragen, ob sie sich nach strengen wissenschaftlichen Verfahrensweisen richten, sondern allmählich das Problem aufwerfen, ob sie ihren Mitbürgern irgendwelche Vorschläge über wünschenswerte Änderungen unserer Lebensweise oder unserer Institutionen zu machen haben.

Der entscheidende Schachzug derjenigen, die im Streit über das Wesen der Objektivität auf meiner Seite stehen, läuft auf folgendes hinaus: Der einzige Unterschied zwischen geweihtem und ungeweihtem Brot liegt in den jeweils angemessenen sozialen Praktiken; und genauso ist der einzige Unterschied zwischen erwünschter Objektivität und unerwünschter Politisierung nichts anderes als der Unterschied zwischen den gesellschaftlichen Praktiken, die jeweils in ihrem Namen zur Anwendung kommen. Nach unserer Behauptung kommt es nicht darauf an, ob Christus wahrhaftig im Brot anwesend ist, sondern darauf, ob wir eine geweihte Hostie genauso behandeln sollten wie einen Imbiß. Es kommt nicht darauf an, ob vorurteilslose und objektive Forschung zur Übereinstimmung mit der bewußtseinsunabhängigen Realität führt, sondern darauf, wie man es der alten Garde verwehren kann, die Jungtürken kaltzustellen, während man gleichzeitig die Jungtürken daran hindert, die Universität zugrunde zu richten.

Eine gesunde und freie Universität unternimmt es, nach bestem Vermögen Raum zu schaffen für Generationswandel, radikale religiöse und politische Meinungsverschiedenheiten und neue Gegenstände sozialer Verantwortung. Sie wurstelt sich durch. Für dieses Durchwursteln gibt es ebensowenig Regeln wie für die Berufungsrichter, die alte Verfassungsbestimmungen an neue gesellschaftspolitische Situationen anpassen. Die bei den Gremiensitzungen literaturwissenschaftlicher Fachbereiche geführten Auseinandersetzungen sind nicht mehr oder weniger rational als die Auseinandersetzungen auf Fachtagungen, wo Verfassungsrichter über anhängige Sachen diskutieren.

Rechtsphilosophen von Cardozo bis Dworkin lassen uns wissen, daß Bestrebungen, fein säuberliche Grenzen zwischen Recht und Moral oder zwischen Jurisprudenz und Politik zu ziehen, bisher kaum zu Erfolgen geführt haben. Die Frage, ob die Richter der höheren Instanzen das bereits gegebene Recht auslegen oder neues Recht schaffen, sei ebensomüßig wie die philosophische Frage, ob die Literaturwissenschaft Erkenntnisse oder Meinungsäußerungen hervorbringt. Doch die Einsicht in dasMüßige jener Frage führt nicht dazu, daß diese Philosophen oder sonst jemand das Ideal einer freien und unabhängigen Richterschaft weniger hochschätzt. Sie führt auch nicht dazu, daß wir die Fähigkeit verlieren, gute Richter von schlechten Richtern zu unterscheiden, und zwar ebensowenig, wie wir durch das Fehlen einer Erkenntnistheorie der Literaturwissenschaft die Fähigkeit verlieren, gute und schlechte Literaturkritiker oder langweilige Pedanten und originelle Geister auseinanderzuhalten.

Allgemeiner gesprochen, sollten uns die Erfahrungen, die jeder Kollege im Hinblick auf Entscheidungen über Lehrpläne und Berufungen gesammelt hat, davon überzeugen, daß die Unterscheidung zwischen Hochschulpolitik und vorurteilslosem Streben nach Wahrheit recht verschwommen ist. Diese Verschwommenheit führt aber nicht dazu − und sollte nicht dazu führen −, daß wir freie und unabhängige Universitäten weniger hochschätzen. Weder Philosophen noch sonst jemand kann uns hübsch trennscharfe Unterscheidungen bieten zwischen angemessener sozialer Nützlichkeit und unangemessener Politisierung. Wir haben jedoch eine Menge Erfahrungen darüber gesammelt, wie diese Grenze immer wieder neu gezogen wird und wie sie angepaßt werden muß, um den Bedürfnissen jeder neuen Generation zu genügen. Das ist uns in einer Art und Weise gelungen, die es ermöglicht hat, unseren Hochschulen die Gesundheit und Freiheit zu erhalten.

Diese gesammelten Erfahrungen lehren uns unter anderem, daß die Hochschulen wahrscheinlich nicht lange gesund und frei bleiben, sobald Personen außerhalb der Universität beim erneuten Ziehen der Grenzlinie mitwirken. Die Ordnung der Hochschulangelegenheiten durch andere ist das einzige, was erwiesenermaßen schädlicher ist als die eigenständige Ordnung dieser Angelegenheiten durch die Universität selbst, wobei man deren Angehörige ständig und ergebnislos darüber streiten läßt, was als Wissenschaft oder gelehrte Forschung gelten soll. Solange wir diese Einsicht nicht vergessen und es fertigbringen, die Traditionen des Anstands im Hochschulbereich lebendig zu erhalten, werden sich die »herkömmlichen Maßstäbe der Objektivität, der Wahrheit und der Rationalität«, von denen bei Searle die Rede ist, von selber finden. Diese Maßstäbe stehen nicht unter der Vormundschaft der Philosophen, und Meinungswandlungen auf seiten der Philosophieprofessoren werden uns nicht dazu veranlassen, diesen Maßstäben abzuschwören oder sie zu verändern. Nelson Goodman hat einmal über die Logik gesagt, der Logiker könne lediglich angeben, welche deduktiven Argumente die Leute normalerweise als triftig gelten lassen; ihre Vorstellungen von deduktiver Gültigkeit könne der Logiker nicht korrigieren. Ebenso können die Philosophen auf die Frage nach Maßstäben oder Methoden vorurteilsloser und objektiver Forschung lediglich mit einer Schilderung antworten, die angibt, wie die von uns am meisten bewunderten Personen ihrer Forschung nachgehen. Über unabhängige Auskünfte darüber, wie man zu objektiver Wahrheit gelangt, verfügen wir nicht.

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Soviel zur globalen Argumentation, die ich hier vorlegen will. Jetzt möchte ich mich den eher technischen Aspekten der Meinungsverschiedenheit zwischen Searle und mir zuwenden. Bei der von Searle aufgeworfenen Hauptfrage geht es darum, ob man auch dann, wenn der Glaube an eine bewußtseinsunabhängige Wirklichkeit verlorengeht, auf die Objektivität vertrauen und auf Objektivität pochen kann. Darauf erwidern Philosophen, die in diesem Meinungsstreit auf meiner Seite stehen, Objektivität hänge nicht davon ab, daß man Übereinstimmung mit Objekten erzielt, sondern davon, daß es zur Verständigung mit anderen Subjekten kommt: zur Objektivität sei nichts weiter erforderlich als Intersubjektivität. Wenn Searle meint: »Falls es so etwas wie objektive Wahrheit und Gültigkeit gar nicht gibt, könnte man genauso gut über die Persönlichkeit des Sprechers und über seine Motive bei der Äußerung der betreffenden Aussage reden«, replizieren wir also, niemand habe je behauptet, daß es so etwas wie objektive Wahrheit und Gültigkeit gar nicht gebe. Was wir sagen, ist vielmehr dies: daß das Reden über die Bewußtseinsabhängigkeit oder Bewußtseinsunabhängigkeit der Realität gar nichts einbringt, sofern es um das Streben nach objektiver Wahrheit geht.

Das einzige, worüber man sich unterhalten kann, sind die Verfahren, deren wir uns bedienen, um zwischen den Forschern Einigkeit herzustellen. Das Strittige und Verwirrende des Problems der bewußtseinsunabhängigen Realität geht unter anderem darauf zurück, daß der Begriff »Unabhängigkeit« eine Mehrdeutigkeit enthält. Searle drückt sich in seinen Schriften mitunter so aus, als müßten Philosophen, die wie ich selbst kein Vertrauen in eine »bewußtseinsunabhängige Realität« haben, bestreiten, daß es Bergegab, ehe den Menschen die Vorstellung »Berg« in den Sinn kam oder ehe das Wort »Berg« in ihrer Sprache auftauchte. Das wird aber von keinem bestritten. Niemand glaubt, es gebe eine Kausalkette, die dafür sorgt, daß Berge zu einer Wirkung von Gedanken oder Worten werden. Was Personen vom Schlage Kuhns, Derridas und Rortys glauben, ist vielmehr, daß es witzlos sei zu fragen, ob es wirklich Berge gibt oder ob es nur zweckdienlich ist, daß wir über Berge reden. Außerdem halten wir es für witzlos zu fragen, ob beispielsweise Neutrinos wirkliche Entitäten sind oder bloß nützliche heuristische Fiktionen. Das ist es, was wir mit der Behauptung meinen, es sei witzlos zu fragen, ob die Wirklichkeit von unseren Aussagen über sie unabhängig ist. Unter der sicherlich gegebenen Voraussetzung, daß es sich auszahlt, über Berge zu sprechen, besagt eine der offensichtlich wahren Aussagen über Berge, daß es sie gab, ehe von ihnen die Rede war.Wenn man das nicht glaubt, ist man wahrscheinlich außerstande, die üblichen Sprachspiele zu spielen, die sich des Wortes »Berg« bedienen. Die Nützlichkeit dieser Sprachspiele steht aber in keinem Zusammenhang mit der Frage, ob die ansichseiende Realität, losgelöst von der für die Menschen zweckmäßigen Beschreibungsweise dieser Realität, Berge enthält.

Bei dieser Frage geht es um die andere, die nichtkausale Bedeutung des Wortes »Unabhängigkeit«. Wer sich auf meine Seite schlägt, meint, es gebe gar nichts, was möglicherweise von Antworten auf in diesem Sinne verstandene Unabhängigkeitsfragen abhängen könnte. Daher könnten wir auch ganz gut ohne den Begriff der ansichseienden Realität auskommen. Nach Davidson sollte die Frage, ob dasWirkliche »von unseren Überzeugungen unabhängig« sei, deshalb nicht gestellt werden, weil er meint, die einzige Bedeutung von »Unabhängigkeit«, um die es hier gehe, sei nicht »kausale Vorbedingung«, sondern »ansichseiende Existenz«. Davidson hält den Begriff »Übereinstimmung mit der Realität« deshalb für unnütz, weil es sich bei der relevanten Realität um die »ansichseiende« Realität handele. Wir, die wir mitDavidson einverstanden sind, meinen, das ganze von Aristoteles ebenso wie von Locke, Kant und Searle ins Auge gefaßte Vorhaben einer Unterscheidung zwischen an sich Existierendem und mit Bezug auf menschliches Bewußtsein Existierendem lohne sich nicht mehr. Ebenso wie der beabsichtigte Nachweis der Heiligkeit des Abendmahls wirkte auch dieses Vorhaben früher einmal spannend, verheißungsvoll und potentiell nutzbringend. Es hat sich aber nicht bezahlt gemacht, sondern als Sackgasse erwiesen.

Ein weiterer halbwegs technischer Hinweis, den ich hier geben muß, betrifft eine Mehrdeutigkeit, die im Begriff der genauen Wiedergabe oder Darstellung lauert. Searle behauptet, wie wir uns erinnern, daß die Westliche Rationalistische Tradition der Ansicht sei, Erkenntnis werde durch Sätze zum Ausdruck gebracht, »die deshalb wahr sind, weil sie diese (bewußtseinsunabhängige) Realität genau wiedergeben«. Wir Davidsonanhänger wollen einen Unterschied machen zwischen zwei Bedeutungen des Begriffs der genauen Wiedergabe. In der nichtphilosophischen Bedeutung dieses Ausdrucks läuft die an einen Zeugen gerichtete Frage, ob er eine Situation richtig wiedergegeben habe, auf die Frage hinaus, ob er aufrichtig sei oder sorgfältig geantwortet habe. Mit der Aussage, daß gute Historiker ihre Archivfunde genau wiedergeben, meinen wir, daß sie sich bei der Suche nach einschlägigen Dokumenten gründlich umsehen, daß sie keine Belege verwerfen, die geeignet sind, die von ihnen selbst vertretene historische These in Frage zu stellen, daß sie keine Zitate in irreführenderWeise aus dem Zusammenhang reißen, daß sie im Kollegenkreis die gleiche historische Darstellung geben wie uns gegenüber usw.Wenn man davon ausgeht, daß ein Historiker die ihm bekannten Fakten genau wiedergibt, unterstellt man, daß er sich so verhält, wie sich tüchtige und redliche Historiker nun einmal verhalten. Es heißt nicht, daß man von irgendwelchen Voraussetzungen ausgeht, die die Realität früherer Ereignisse, die Wahrheitsbedingungen von Aussagen über solche Ereignisse, den notwendig hermeneutischen Charakter der Geisteswissenschaften oder irgendeine andere philosophische Thematik betreffen. Doch wenn Philosophen die Frage erörtern, ob Erkenntnis in der Genauigkeit der Darstellung oder Repräsentation bestehe, geht es ihnen nicht um Aufrichtigkeit oder Sorgfalt. Bei der zwischen Repräsentationsverfechtern wie Searle und Repräsentationsgegnern wie mir selbst strittigen Frage geht es lediglich um folgendes: Können wir Stücke der Welt und Stücke von Überzeugungen oder Sätzen derart paarweise anordnen, daß wir imstande sind anzugeben, daß die Beziehungen zwischen den letzteren den Beziehungen zwischen den ersteren entsprechen? Können wahre Überzeugungen oder Sätze nach dem Vorbild der gegenständlichen Malerei behandelt werden?

Offenbar gibt es einige Fälle, in denen es zumindest auf den ersten Blick tatsächlich möglich ist, sie derart zu behandeln, so zum Beispiel den Satz »Die Katze ist auf der Matte«. Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer Fälle, in denen gar nicht klar ist, wie die Vorstellung von den »Stücken der Welt« anzuwenden wäre. Hierzu gehören Sätze wie »Neutrinos haben keine Masse« oder »Das Streben nach wissenschaftlicher Wahrheit verlangt akademische Freiheit«. Wir Philosophen zanken uns endlos darüber, ob sich die Begriffe der Übereinstimmung und der Darstellung auch auf diese schwierigeren Fälle übertragen lassen. Sobald wir es müde sind, darüber zu streiten, beginnen wir uns über die Frage zu zanken, ob es außer der Kohärenz im Verhältnis zu unseren sonstigen Überzeugungen noch ein weiteres Kriterium für die genaue Wiedergabe der Wirklichkeit durch eine Überzeugung gibt und ob wir, falls es keines gibt, einen Unterschied machen sollten zwischen dem Kriterium der wahren Überzeugung und dem Wesen der wahren Überzeugung. Searles These, wonach die Korrespondenztheorie der Wahrheit von moralischer oder sozialer Bedeutung ist, verquickt die philosophische mit der nichtphilosophischen Bedeutung des Ausdrucks »genaue Darstellung«. Sollten wir Repräsentationsgegner und Feinde des Übereinstimmungsgedankens je siegreich aus unserem Streit mit Searle hervorgehen, wird das für Historiker und Physiker kein Grund sein, sich anders zu verhalten als jetzt. Und vermutlich wird es ihre Stimmung oder ihre Leistungsfähigkeit ebenso wenig heben, falls Searle und die übrigen Repräsentationsfreunde den Sieg davontragen. Redlichkeit, Sorgfalt, Wahrhaftigkeit und weitere moralische wie soziale Tugenden stehen einfach nicht in einem derart engen Zusammenhang mit dem, was wir Philosophieprofessoren letztlich für die am wenigsten problematische Beschreibungsweise der Beziehung zwischen menschlicher Forschung und dem übrigen Universum erachten.

Die soeben aufgestellte Behauptung über einen fehlenden engen Zusammenhang wird hier nicht als wahre philosophische Aussage über die notwendige ahistorische Beziehung der Philosophie zur übrigen Kultur vorgetragen, sondern bloß als wahre soziologische Aussage über den zur Zeit bei den meisten Menschen bestehenden Mangel an Interesse für Philosophie, einerlei, ob es sich um Intellektuelle oder Nichtintellektuelle handelt. Damit verhält es sich so ähnlich wie mit der wahren Aussage, daß die Anerkennung der von Paulus vorgeschlagenen Ethik der Liebe nicht davon abhängt, ob man den orthodoxen (im Gegensatz zum arianischen) Standpunkt hinsichtlich der Beziehung zwischen der ersten und der zweiten Person der Trinität gelten läßt. Dies ist keine wahre ahistorische Aussage über das Verhältnis zwischen Ethik und Theologie, sondern eine wahre soziologische Aussage über die Christen von heute.

Ganz anders lagen die Dinge zu einer Zeit, da nicht nur die körperliche Unversehrtheit eines Menschen von seinen theologischen Überzeugungen abhing, sondern auch seine Entscheidung, welche Wagenlenker er im Hippodrom anfeuern sollte. Falls sich Searle durchsetzt − falls es ihm also gelingt, uns (oder sogar die für finanzielle Förderung zuständigen Stellen) zu überreden, daß die Beziehung zwischen der Westlichen Rationalistischen Tradition und den gängigen akademischen Praktiken wirklich ein Voraussetzungsverhältnis ist und daß die Widerlegung von Kuhn, Derrida und Rorty ein dringendes soziales Bedürfnis darstellt −, dann wird sich der Hochschulbereich aufspalten in diejenigen, die die philosophische Mannschaft der Repräsentationsfreunde anfeuern, und diejenigen, die ihren Gegnern Beifall spenden (und damit um der philosophischen Korrektheit willen selbstlos auf Fördermittel verzichten). Geistes- und Naturwissenschaftler werden sich auf den Weg begeben, um bei den übrigen Forschern Erkundigungen einzuziehen und sich von den Stiftern fragen zu lassen, auf welcher Seite man denn eigentlich stehe. Das wäre meiner Meinung nach bedauerlich, und sei es auch nur deshalb, weil es eine Vergeudung der Zeit und der Gefühlskräfte der Menschen wäre.

Besser wäre es, einen Unterschied zu machen zwischen den privaten theologischen oder philosophischen Überzeugungen der jeweils betroffenen Personen und der Ethik des akademischen Bereichs, also den Gepflogenheiten und Praktiken, die zu bestimmen helfen, welches die Einstellung der Studenten zu ihren Büchern, der Dozenten zu den Studenten, des Verwaltungspersonals zu Dozenten und Geldgebern usw. sein sollte. Um die Freiheit und Entpolitisierung der Hochschule wahren zu helfen, sollten wir beispielsweise dafür sorgen, daß Professoren die Überzeugungen ihrer fundamentalistisch gesinnten Studenten nicht verhöhnen, daß Stifter keine bestimmten Personen benennen, die auf die von ihnen finanzierten Lehrstühle berufen werden sollen, und daß die Schlußfolgerungen, zu denen ein Wissenschaftler im Hinblick auf umstrittene Fragestellungen seines Fachgebiets oder mit Bezug auf politische oder philosophische Probleme gelangt, belanglos bleiben für seine Zugehörigkeit zur Universität. Doch darüber, ob Wahrheit beanspruchende Sätze die bewußtseinsunabhängigeWirklichkeit genau wiedergeben, sollten wir uns keine Sorgen machen.

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Soweit habe ich geltend gemacht, daß die Philosophie im Hinblick auf unsere Praktiken keinen großen Unterschied macht und daß es ihr auch gar nicht gestattet werden sollte. Dieser Standpunkt mag jedoch seltsam wirken, wenn sich derjenige, der ihn vertritt, selbst einen Pragmatisten nennt. Wir Pragmatisten behaupten ja, daß jeder Unterschied einen Unterschied bezüglich der Praxis machen muß. Wir halten es für wichtig, Gründe dafür anzuführen, daß die im Sinne Searles definierte Westliche Rationalistische Tradition verfehlt ist. Wir beharren auf dem Versuch, eine andere und bessere Tradition anzubahnen. Wie können wir also, ohne unaufrichtig zu sein, behaupten, philosophische Kontroversen spielten keine sonderlich große Rolle?

Wir Pragmatisten können unseren Standpunkt, wie ich meine, von Widersprüchen freihalten, indem wir sagen, kurzfristig gesehen spielten diese Kontroversen zwar keine große Rolle, doch auf lange Sicht könnten sie durchaus von großer Bedeutung sein. Der Christ, der glaubt, Gott werde ihn mit dem Feuer der Hölle strafen, wenn er falsch schwört, wird kurzfristig gesehen ebenso handeln wie der Atheist, der glaubt, er sei außerstande, mit sich selbst ins reine zu kommen, wenn er durch Meineid gegen den Gesellschaftsvertrag verstößt. Doch auf lange Sicht kann es einen gewaltigen Unterschied machen, ob eine Gesellschaft durch die Furcht ihrer Angehörigen vor nichtmenschlichen Vergeltungsmaßnahmen oder durch weltliche Empfindungen des Stolzes, der Treue und der Solidarität gelenkt wird. Der Physiker, der nach eigener Darstellung im Begriff ist, die absolute, intrinsische, ansichseiende Beschaffenheit der Realität aufzudecken, und sein Kollege, der nach eigener Darstellung geeignetere Werkzeuge zur Prognose und Steuerung der Umwelt zusammenbastelt, werden beim Wettrennen um die glänzenden Trophäen ihres Berufs weitgehend gleich handeln. Doch auf lange Sicht werden Physiker, deren Rhetorik nicht auf den Westlichen Rationalismus, sondern auf den Pragmatismus zurückgeht, womöglich bessere Bürger einer besseren Wissenschaftlergemeinschaft sein.

Tiefe emotionale Bedürfnisse werden von der Westlichen Rationalistischen Tradition erfüllt, aber nicht alle derartigen Bedürfnisse sollten erfüllt werden. Tiefe emotionale Bedürfnisse wurden auch vom Glauben an nichtmenschliche Richter und nichtmenschliche Vergeltung erfüllt. Dies waren die Bedürfnisse, auf die Dostojewski mit der Bemerkung hinwies: Wenn Gott nicht existierte, wäre alles erlaubt. Doch diese Bedürfnisse sollten nicht befriedigt, sondern − wie es in gewissem Maße geschehen ist – sublimiert oder verdrängt werden. Ich habe die Ähnlichkeiten zwischen dem theologischen und dem philosophischen Glauben hervorgehoben, weil die rationalistische Tradition des Abendlands nach meiner Anschauung eine säkularisierte Umdeutung der monotheistischen Tradition des Abendlands ist: die letzte Wende der »Onto-Theologie«, von der bei Heidegger die Rede ist. Im Hinblick auf die absolute Wahrheit und die ansichseiende Realität sehen wir Pragmatisten ebenso schwarz wie die Aufklärung im Hinblick auf den Zorn Gottes und das Jüngste Gericht. John Dewey zitiert an einer Stelle die von G.K. Chesterton stammende Bemerkung: »Der Pragmatismus beruht auf den menschlichen Bedürfnissen, und eines der ersten menschlichen Bedürfnisse besteht darin, mehr zu sein als ein Pragmatist.«6

Damit hatte Chesterton nicht unrecht, und Dewey gab das auch zu. Dewey war sich durchaus im klaren darüber, daß es, wie er selbst sagt, so etwas gibt wie »eine vermeintliche Notwendigkeit des ›menschlichen Geistes‹, an gewisse absolute Wahrheiten zu glauben«. Er meinte jedoch, diese Notwendigkeit habe nur in einem früheren Stadium der menschlichen Geschichte existiert, nämlich in einem Stadium, über das wir nunmehr hinausgehen könnten. Er glaubte, wir seien an einem Punkt angelangt, an dem es möglich und nützlich wäre, uns dieser Notwendigkeit zu entwinden. Dabei sah er ein, daß sein Rat manchen intuitiven Vorstellungen zuwiderlief und auf die jetzt von Searle geleistete Art von Widerstand stoßen würde. Dennoch meinte er, die durch Bestrebungen zur Veränderung unserer intuitiven philosophischen Vorstellungen ausgelöste zeitweilige Beunruhigung würde durch das langfristige Heil aufgewogen, das die Befreiung von überholten Bedürfnissen bewirkt.

Nach Deweys Ansicht entstand das Bedürfnis nach einer Unterscheidung zwischen dem Streben nach Wahrheit »um ihrer selbst willen« und dem Streben nach dem von Bacon als »Verbesserung des Menschenloses« bezeichneten Ziel aus spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen. Diese Bedingungen waren im antiken Griechenland vorherrschend, und aufgrund dieser Gegebenheiten war es nützlich, bestimmte Unterscheidungen zu treffen, die im Laufe der Zeit Bestandteile unseres Common sense wurden. Zu diesen Unterscheidungen gehörten zum Beispiel die zwischen Theorie und Praxis, Geist und Körper, Objektivem und Subjektivem, Moral und Besonnenheit sowie all die übrigen, die von Derrida unter der Rubrik »Gegensatzpaare der abendländischen Metaphysik« zusammengefaßt werden.

Dewey war gern bereit einzuräumen, daß diese Unterscheidungen zu ihrer Zeit nützlich gewesen waren. Damals stellten sie weder Verwechslungen dar noch Unterdrückungswerkzeuge, noch Irreführungen. Im Gegenteil, es waren Instrumente, die von griechischen Denkern zur Veränderung und oft zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse benutzt wurden. Doch im Laufe zweier Jahrtausende waren diese Instrumente zu alt geworden, um noch Nutzen zu bringen. Ebenso, wie viele Christen über das Bedürfnis hinausgewachsen sind, nach der Übereinstimmung zwischen den Sätzen des Glaubensbekenntnisses und der objektiven Wirklichkeit zu fragen, so könnte, wie Dewey meint, die Zivilisation insgesamt über die vermeintliche Notwendigkeit des Glaubens an absolute Wahrheiten hinauswachsen.

Von Hegel lernte Dewey, alles historisch zu fassen, einschließlich der von Hegel selbst gegebenen anschaulichen, aber veralteten Darstellung der Vereinigung von Subjekt und Objekt am Ende der Geschichte. Dewey verzichtete wie Marx auf Hegels Begriff des absoluten Geistes, hielt aber an Hegels Einsicht fest, daß es typisch sei für Ideen und Bewegungen, die − wie die griechische Metaphysik, das Christentum, der Aufstieg des Bürgertums, das Hegelsche System − alsWerkzeuge der Befreiung begonnen hatten, sich im Laufe der Zeit in Instrumente der Unterdrückung zu verwandeln und Bestandteile der »Kruste der Konvention« zu werden, wie Dewey das nennt. Zu diesen Ideen gehört nach Deweys Meinung auch die Idee der »absoluten Wahrheiten«. Die pragmatische Theorie der Wahrheit sei »wahr impragmatischen Sinne von Wahrheit: sie funktioniert, sie löst Probleme, beseitigt Unklarheiten und sorgt dafür, daß der einzelne ein stärker experimentelles, weniger dogmatisches und weniger willkürlich skeptisches Verhältnis zum Leben hat«. Der Pragmatist, fährtDewey fort, »gibt sich durchaus zufrieden, wenn die Wahrheit seiner Theorie darin besteht, daß sie in diesen verschiedenen Weisen funktioniert, während er den stolzen Besitz der Wahrheit als unanalysierbarer, unverifizierbarer und wirkungsloser Eigenschaft gern dem Intellektualisten überläßt«. Chestertons Bemerkung zeigt, wie Deweymeint, »daß der Haupteinwand der Verfechter des Absolutismus gegen die pragmatische These des persönlichen (oder ›subjektiven‹) Faktors unserer Überzeugungen darauf hinausläuft, daß es dem Pragmatisten gelungen ist, den Saft des Persönlichen auf das Denken des Absolutisten überschwappen zu lassen«.7

Damit will Dewey sagen, daß Chesterton insgeheim zugibt, für die absolutistische Wahrheitsauffassung gebe es kein besseres und vielleicht überhaupt kein anderes Argument, als daß sie ein menschliches Bedürfnis erfüllt. Über dieses Bedürfnis kann man nach Deweys Ansicht hinauswachsen. Das Kind wächst über das Bedürfnis nach elterlicher Versorgung hinaus sowie über das Bedürfnis, an die Allmacht und Wohltätigkeit der Eltern zu glauben. Ebenso werden auch wir im Laufe der Zeit vielleicht über das Bedürfnis hinauswachsen, auf Götter zu vertrauen, denen an unserem Glück liegt, und an die Möglichkeit zu glauben, uns mit einer als »inneres Wesen der Wirklichkeit« bezeichneten nichtmenschlichen Macht zu verbünden. Damit könnte es uns zugleich gelingen, über das Bedürfnis, uns selbst für zutiefst sündig und schuldig zu erachten, ebenso hinauszuwachsen wie über das Bedürfnis, vor dem Relativen ins Absolute zu fliehen. Zu guter Letzt, meint Dewey, werde die Unterscheidung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven und die Unterscheidung zwischen dem Relativen und dem Absoluten vielleicht ebenso überholt wirken wie die Unterscheidung zwischen Seele und Körper oder die Unterscheidung zwischen natürlichen und übernatürlichen Ursachen.

Dewey war sich jedoch völlig im klaren darüber, daß die von den alten Unterscheidungen immer noch geleistete nützliche Arbeit von neuen Unterscheidungen übernommen werden müßte. Ebenso war er sich ganz im klaren über die von Berkeley formulierte Notwendigkeit, »mit dem Volk zu reden und mit den Gelehrten zu denken«, also mit verschiedenen Leuten verschieden umzugehen. Daher sind Deweys Schriften manchmal ein verwirrendes Gemisch von Beschwörungen vertrauter Unterscheidungen und nicht ohne weiteres einleuchtenden philosophischen Umdeutungen dieser Unterscheidungen. Zumindest beim »Volk« haben seine Schriften oft nur Verwirrung ausgelöst. Darum sollte man sich nicht darüber wundern, wenn man darauf stößt, daß Dewey zur gleichen Zeit, da er die pragmatische Wahrheitstheorie energisch gegen seine absolutistischen Gegner verteidigt, Sätze schreibt wie: »Die Universitätsfunktion ist die Wahrheitsfunktion«, und: »Das einzige, was in der Idee der Universität enthalten und ihr wesentlich ist, ist die Idee derWahrheit.«8

Die Nichtphilosophen, die diese Sätze in einem 1902 erschienenen Artikel über die akademische Freiheit zu lesen bekamen, faßten die »Idee der Wahrheit« wahrscheinlich ungefähr im Sinne der Idee einer genauen Darstellung des inneren Wesens der Wirklichkeit auf. Auch heute noch wird dieser Ausdruck von den meisten Menschen in diesem Sinne verstanden. Den Versuch, solche Darstellungen zu erlangen und die objektive Wahrheit zu erreichen, bringen sie automatisch in Gegensatz zu dem Bestreben, die Menschen glücklich zu machen und menschliche Bedürfnisse zu erfüllen. Dieses Bestreben, sagen sie, beinhalte ein subjektives Element, das aus den Natur und Geisteswissenschaften ausgeschlossen werden sollte. Wenn solche Menschen aus dem Munde Searles und anderer Autoren erfahren, von Kuhn, Derrida und mir werde bestritten, daß wahre Überzeugungen etwas darstellen und daß die Realität ein inneres Wesen besitze, können sie durchaus zu der Ansicht gelangen, die Universität sei in Gefahr und zur Erfüllung des Bedürfnisses nach Erhaltung der akademischen Freiheit sei es vielleicht erforderlich, diese gefährlichen Philosophen zu widerlegen.9

Dewey würde vermutlich sagen,wir sollten die akademische Freiheit wählen, wenn es jemals dahin käme, daß wir eine Entscheidung treffen müßten zwischen den für die akademische Freiheit ausschlaggebenden Praktiken und Überlieferungen einerseits und repräsentationalismusfeindlichen Theorien der Wahrheit und der Erkenntnis andererseits. Es sind die dringenden Dinge, denen wir Vorrang geben sollten. Philosophische Meinungsänderungen stehen nach Deweys Anschauung im Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts. Ihm hätte gar nichts daran gelegen, die freien Hochschuleinrichtungen den eigenen philosophischen Überzeugungen zu opfern. Aber natürlich kam es ihm gar nicht in den Sinn, daß man je vor eine solche Wahl gestellt werden würde. Er sah keine Spannungen zwischen seiner philosophischen und seiner politischen Tätigkeit. Meine Unterscheidung zwischen kurzfristigen und langfristigen Auswirkungen philosophischer Meinungsänderungen hätte er, wie ich glaube, akzeptiert.

Nichts − nicht einmal dasWesen derWahrheit und der Erkenntnis – ist es wert, daß man sich den Kopf darüber zerbricht, sofern dieses Kopfzerbrechen keinen Unterschied hinsichtlich der Praxis macht. Es gibt jedoch alle möglichen Arten undWeisen, einen Unterschied zu machen. Eine davon ist der über einen langen Zeitraum hin erfolgende allmählicheWandel der Bilder, die uns, wie Wittgenstein sagt, gefangenhalten. Bilder, die uns gefangenhalten, wird es immer geben, denn nie werden wir der Sprache oder den Metaphern entrinnen: nie wird es uns gelingen, Gott oder das ansichseiende Wesen der Wirklichkeit von Angesicht zu Angesicht zu erblicken. Alte Bilder können jedoch Nachteile aufweisen, die sich dadurch vermeiden lassen, daß man neue Bilder skizziert. Die Flucht vor Vorurteilen und Aberglauben ist nach DeweysMeinung keine Flucht aus der Erscheinung in die Wirklichkeit, sondern eine Flucht aus der Erfüllung alter Bedürfnisse in die Erfüllung neuer Bedürfnisse. Das ist kein Fortschritt von der Finsternis ans Licht, sondern ein Reifungsprozeß. Nach Deweys Anschauung wird die Flucht aus der Westlichen Rationalistischen Tradition zwar tatsächlich vom Irrtum zur Wahrheit führen, aber dadurch werden wir nicht von der Scheingestalt der Dinge zu ihrer eigentlichen Beschaffenheit gelangen. Durch diese Flucht entrinnen wir lediglich unreifen Bedürfnissen, nämlich Bedürfnissen, die Chesterton empfand, Dewey dagegen nicht.

*

Zum Schluß werde ich von Dewey ablassen und auf Searle zurückkommen. Nach Searles Anschauung trennt derUnterschied zwischen ihm und mir eine Person mit gehörigem Respekt vor harten Fakten und sonstigen damit zusammenhängenden intellektuellen Tugenden von einer Person, die »die allgemeine Atmosphäre einer vage literarischen Frivolität, von der die vernietzschte Linke durchdrungen ist«, genießt und fördert. Beziehungen, die ich weitgehend für Schnörkel erachte, sind nach Searles Ansicht Voraussetzungsverhältnisse.

Für Searles eigene realistische und repräsentationalistische Anschauung gibt es, wie er in Rationalität und Realismus selbst sagt, nur ein einziges Argument, nämlich daß diese Anschauung »die Voraussetzungen unserer sprachlichen und anderen Praktiken darstellt. Man kann nicht, ohne sich zu widersprechen, den Realismus leugnen und zugleich seinen gewöhnlichen Alltagspraktiken nachgehen, weil der Realismus die Bedingung der normalen Verständlichkeit dieser Praktiken ist. Man kann sich dies vor Augen führen, indem man über irgendeine Art von Alltagskommunikation nachdenkt. Nehmen wir zum Beispiel an, ich rufe meinen Automechaniker an, um herauszufinden, ob der Vergaser repariert ist … Nehmen wir nun an, ich habe einen dekonstruktivistischen Automechaniker erwischt, und er versucht mir zu erklären, daß ein Vergaser sowieso nur ein Text ist und daß es nichts gibt, worüber zu reden wäre außer der Textualität des Textes …Was man auch sonst noch über diese Situationen sagen kann, eines ist klar: die Kommunikation ist zusammengebrochen … Gestehen Sie mir die Annahme zu, daß diese Arten von Kommunikation zwischen Menschen auch nur möglich sind, dann werden Sie sehen, daß Sie die Voraussetzung einer unabhängig existierenden Realität brauchen.«

Als Produkt des Umsturzes der abendländischen Vernunfttradition erscheint mir dieser frivol literarische Automechaniker keineswegs glaubhaft. Den dekonstruktivistisch gesinnten Absolventen literaturwissenschaftlicher Studien, die, nachdem sie an der Universität keine Stelle gefunden haben, mit Glück als Automechaniker untergekommen sind, fällt es gar nicht schwer anzugeben, wo ihre Arbeit aufhört und wo ihre Philosophie anfängt. Wahrscheinlich würden sie sagen, daß es sich mit dem Unterschied, den die Dekonstruktion im Hinblick auf ihr Leben gemacht hat, nicht viel anders verhält als mit der Wirkung des Methodismus oder des Atheismus auf das Leben ihrer Vorfahren: Der Unterschied betrifft die Atmosphäre und das spirituelle Element. Womöglich würden sie sogar Dewey zitieren und genauso wie ich selbst sagen, sie hätten die Schriften Derridas nützlich gefunden, um »ein stärker experimentelles, weniger dogmatisches und weniger willkürlich skeptisches Verhältnis zum Leben« zu bekommen. Die gravierendere Frage betrifft jedoch, wie schon gesagt, das Voraussetzungsverhältnis. Was diese Frage anlangt, kann ich ein Stück des Wegs mit Searle zusammen gehen. So bin ich etwa durchaus einverstanden, wenn er in Anlehnung an Wittgenstein schreibt: »Für diejenigen unter uns, die in unserer Zivilisation erzogen wurden, insbesondere den wissenschaftlichen Bereichen unserer Zivilisation, fungieren die Prinzipien, die ich als die der Westlichen Rationalistischen Tradition vorgestellt habe, nicht als eine Theorie. Sie fungieren vielmehr als Teil des für selbstverständlich gehaltenen Hintergrunds unserer Praktiken. Die Bedingungen der Verständlichkeit unserer − sprachlichen und anderen − Praktiken können nicht selber innerhalb dieser Praktiken als Wahrheiten nachgewiesen werden. Anzunehmen, daß dies möglich sei, war der endemische Fehler der Letzt-Begründungsmetaphysik.«

Unsere Wege trennen sich an der Stelle, an der Searle meint, unsere Praktiken würden irgendwie unverständlich, wenn wir unser Handeln in verschiedenen Arten und Weisen beschrieben, vor allem wenn wir sie im Sinne der von Philosophen wie Davidson und Derrida nahegelegten nichtrealistischen und nichtrepräsentationalistischen Terminologie beschrieben. Searle läßt ebenso wie ich selbst gelten, daß es sich bei bestimmten Sätzen um intuitiv einleuchtende, unbeweisbare Selbstverständlichkeiten handelt. Aber während diese Sätze nach seiner Anschauung nicht in Frage gestellt werden können, ohne daß man die Praktiken selbst (oder zumindest ihre »Verständlichkeit«) in Zweifel zieht, halte ich sie für fakultative Deutungen unserer Praktiken. Wo Searle Bedingungen der Verständlichkeit oder Voraussetzungen erblickt, sehe ich rhetorische Schnörkel, die den Anwendern der betreffenden Praktiken das Gefühl vermitteln sollen, daß sie loyal an einer gewaltigen und starken Sache festhalten, nämlich am inneren Wesen der Realität. Meiner Ansicht nach ist der diesem Gefühl abgewonnene Trost im jetzigen Reifestadium der abendländischen Menschheit genauso unnötig und potentiell gefährlich wie der Trost, den man aus der Überzeugung schöpft, demWillen Gottes zu gehorchen.

Unnötig und gefährlich ist dieser Trost, weil unser Reiferwerden in der allmählichen Erkenntnis besteht, daß wir, sofern wir uns aufeinander verlassen können, ansonsten auf nichts weiter angewiesen sind. Religiös gesprochen, läuft das auf die Feuerbachsche These hinaus, daß Gott nichts weiter war als eine Projektion der besten – und mitunter der schlechtesten – Eigenschaften des Menschen. Philosophisch gesprochen, läuft es auf die These hinaus, daß alles, was Aussagen über Objektivität zur Verständlichkeit unserer Praktiken beitragen können, genausogut von Aussagen über Intersubjektivität geleistet werden kann. Politisch gesprochen, läuft es auf folgende These hinaus: Sofern es nur gelingt, Demokratie und gegenseitige Toleranz am Leben zu erhalten, läßt sich alles übrige dadurch erledigen, daß man sich zu einem vernünftigen Kompromiß durchwurstelt.

Es trägt zur Anerkennung dieser diversen Thesen bei, wenn man darüber nachdenkt, daß die eigenen Praktiken nichts enthalten, was einen dazu nötigen würde, ein intrinsisches von einem extrinsischen Merkmal der Wirklichkeit zu unterscheiden.10

Wenn man die Unterscheidung zwischen Intrinsischem und Extrinsischem fallenläßt − also die Unterscheidung zwischen der von menschlichen Bedürfnissen und Interessen unabhängigen und der mit Bezug auf diese Bedürfnisse und Interessen aufgefaßten Beschaffenheit der Dinge −, kann man auch auf die Vorstellung verzichten, es gebe einen gewaltig großen Unterschied zwischen dem Streben nach menschlichem Glück und dem Streben nach geistes- oder naturwissenschaftlicher Wahrheit. Denn jetzt wird man dieses letztere Streben nicht mehr als Versuch einer die menschlichen Bedürfnisse unberücksichtigt lassenden Darstellung der intrinsischen Realitätsmerkmale begreifen, sondern als Aufspüren von Realitätsbeschreibungen, die bestimmte menschliche Bedürfnisse erfüllen, und zwar ebenjene Bedürfnisse, die nach einhelliger Meinung der übrigen Forscher und Wissenschaftler erfüllt werden sollten. Der Unterschied zwischen schlechter Subjektivität und gesunder Forschung wird nun im Sinne des Unterschieds erläutert werden, der die Erfüllung privater, idiosynkratischer und womöglich geheimgehaltener Bedürfnisse von der Erfüllung solcher Bedürfnisse trennt, die weit verbreitet, allgemein bekannt und in freier Diskussion besprochen worden sind.

Dieser Schritt, bei dem die Objektivität im Sinne einer genauen Darstellung durch die Objektivität im Sinne von Intersubjektivität ersetzt wird, ist der ausschlaggebende Schachzug der Pragmatisten, der ihnen zu dem Gefühl verhilft, auch ohne den Ernst des »Realisten« moralisch ernsthaft sein zu können. Denn bei der moralischen Ernsthaftigkeit geht es darum, daß man die übrigen Menschen ernst nimmt, während man nichts anderem gleiches Gewicht beimißt. Laut pragmatistischer Anschauung stellt sich heraus, daß wir imstande sind, einander überaus ernst zu nehmen, ohne dem intrinsischen Wesen der Realität den geringsten Respekt zu zollen. Wir werden weder unsere politischen noch unsere akademischen Praktiken bloß deshalb ändern, weil wir aufgehört haben, uns mit Erkenntnistheorie abzugeben, oder weil wir uns eine nichtrepräsentationalistische Philosophie der Sprache und des Geistes zu eigen gemacht haben. Dagegen kann es sein, daß wir unsere Einstellung zu diesen Praktiken ändern, also unser Gefühl dafür, weshalb wir die Anwendung dieser Praktiken für wichtig halten. Unser neues Empfinden für das eigene Handeln wird seinerseits ebenso unbeweisbar und intuitiv sein, wie es früher die Westliche Rationalistische Tradition gewesen ist.

Nach pragmatistischer Überzeugung wird das neue Empfinden jedoch dem alten überlegen sein, und zwar nicht nur deshalb, weil es die Philosophen vom unaufhörlichen Hin und Her zwischen Skeptizismus und Dogmatismus befreien wird, sondern auch deshalb, weil es einige weitere Vorwände für Fanatismus und Intoleranz beseitigen wird.

Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte


Weitere Beiträge aus der Reihe Zweite Lesung.

FUSSNOTEN & QUELLENANGABEN

  1. John R. Searle, Rationality and Realism, What is at Stake?. In: Daedalus, Nr.4, Herbst 1993. Eine gekürzte Fassung ist unter dem Titel Rationalität und Realismus oder Was auf dem Spiel steht im Merkur erschienen (Nr. 542, Mai 1994).
  2. Thomas S. Kuhn, Afterwords. In: PaulHorwich (Hrsg.),World Changes. Thomas Kuhn and the Nature of Science. Cambridge: MIT Press 1993, S.330.
  3. Hilary Putnam, Reality with a Human Face. Cambridge: Harvard University Press 1990, S.28. − Putnam hältmich für einen Vertreter des »Kulturrelativismus« und hat trotzmangelnder Sympathie für Searles Einwände gegen Kuhn einiges übrig für SearlesKritik an mir und Derrida. Zu diesen Meinungsverschiedenheiten vgl. meinen Artikel Putnam and the Relativist Menace. In: Journal of Philosophy, Bd.XC, Nr.9 (September 1993), S.443−461.
  4. Donald Davidson, The Structure and Content of Truth. In: Journal of Philosophy, Bd.LXXXVII, Nr.6 (Juni 1990), S.305.
  5. The American Council of Learned Societies, Speaking for the Humanities. ACLS Occasional Paper, Nr.7 (1989), S. 18.
  6. John Dewey, A Short Catechism Concerning Truth. In: The Middle Works of John Dewey. Bd.6. Carbondale: Southern Illinois University Press 1978, S. 11.
  7. A Short Catechism Concerning Truth, S. 11. − Diese Stelle zitiert RobertWestbrook in seinem Buch John Dewey and American Democracy. Ithaca: Cornell University Press 1991, S.137 f. − Westbrook weist darauf hin, daß dieses Zitat nicht nur auf Chestertons, sondern auch auf Bertrand Russells Pragmatismuskritik paßt. Es ist ein treffender Beleg für die Radikalität und Originalität des Pragmatismus, daß er imstande ist, eine Voraussetzung in Frage zu stellen, die den ansonsten kaum verwandten Autoren Chesterton und Russell gemeinsam ist.
  8. Academic Freedom. In: The Middle Works of JohnDewey. Bd.2, S.55.
  9. Es ist aufschlußreich, derartige Attacken mit denen zu vergleichen, die in den dreißiger und vierziger Jahren von Philosophen gegen die logischen Positivisten verfaßt wurden. Der logische Positivismus war während seiner kurzen Blütezeit nicht weniger fanatisch, intolerant und grobschlächtig als sonst eine intellektuelle Bewegung, doch die damals dagegen geäußerten Warnungen, hier drohe der Zivilisation Gefahr, wirken heute ein wenig bemüht. Viele der jetzt an unseren Universitäten gängigen Schlagworte des »Poststrukturalismus« − also jene Schlagworte, die nach Searles Anschauung Beispiele sind für literarische Frivolität und gefährliche Politisierung − werden später einmal einen Eindruck von ebenso offensichtlicher Torheit und selbstgerechter Frechheit hinterlassen, wie ihn heute die Jugendexzesse der ersten Generation logischer Positivisten auf uns machen. Ein wenig Nutzen wird die kurze Herrschaft des Poststrukturalismus aber wahrscheinlich ebenso bringen wie die kurzeHerrschaft des logischen Positivismus.Genauso, wie der Positivismus viel zuviel für Wissenschaft und Philosophie in Anspruch nahm, übertreibt der Poststrukturalismus die Ansprüche für Literatur und Politik. Aber gerade durch derart heftige Pendelschwünge wird oft intellektueller Fortschritt erzielt.
  10. Dennoch kann man dem Common sense ohne weiteres zugeben, daß Dinosaurier und Berge schon lange existierten, ehe sie von jemandem als Dinosaurier und Berge beschrieben wurden, daß sie nicht erst durch das Denken dazu gemacht werden und daß Bankkonten sowie die Rollen der Geschlechter in einem Sinne soziale Konstruktionen sind, in dem Giraffen keine sozialen Konstruktionen sind. Ohne die Existenz menschlicher Gesellschaften hätte es weder Bankkonten noch Geschlechterrollen gegeben, während die Giraffen trotzdem vorhanden gewesen wären. Aber damit ist nicht gesagt, daß die Giraffen zur ansichseienden, von menschlichen Bedürfnissen und Interessen losgelösten Realität gehören. In einem umfassenderen Sinne des Ausdrucks »soziale Konstruktion« ist alles − einschließlich der Giraffen und Moleküle − sozial konstruiert, denn kein Vokabular (wie zum Beispiel das der Zoologie oder das der Physik) tranchiert die Realität an den Gelenken. Die Realität hat keine Gelenke, sondern nur Beschreibungen, deren einige gesellschaftlich nützlicher sind als andere.

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