Merkur, Nr. 786, November 2014

Journal (XX)

von Stephan Herczeg

Im Aldi-Prospekt ist schon Herbst. Und in mir auch. Mit Sommergefühlen habe ich für dieses Jahr abgeschlossen, mein innerer Blattabwurf hat begonnen, und die Gemütsverdunkelung setzt früher ein. Ich sitze an einem Samstagnachmittag in einem Fußgängerzonen-Café und lese abwechselnd die Neue Zürcher Zeitung und den Aldi-Prospekt.

Seit ein paar Wochen begeistere ich mich nach langer Pause wieder am nüchternen Charme der Neuen Zürcher, die mich an mein Zeitungslesen in den achtziger Jahren erinnert. Alles schön schwarzweiß. Die Titelseite und überhaupt sehr viele Seiten ohne Fotos. Einfach nur Artikeltext. Auch so ein Trugschluss der deutschen Zeitungsmacher, immer alles bebildern zu müssen, in dem schöngerechneten Glauben, die Zeitung für die Nichtzielgruppe der Nichtzeitungsleser dadurch wieder attraktiv und funky zu machen. Als ob gerade heute ein genereller Mangel an Bildern auszumachen wäre, dabei sind es doch die guten, langen Texte, die fehlen. In der Neuen Zürcher dominiert ein vermeintlich sachlicher Schreibstil, auf witzelnde Bezugnahmen und Querverweise wird verzichtet, und man muss sich ein wenig anstrengen, um mitzubekommen, welche politische Meinung einem im Amtsblattdeutsch beiläufig untergeschoben werden soll. Dieses latent Manipulative ist es wahrscheinlich, das mich an die Zeitungslektüre der Achtziger erinnert, mich auf eine gewisse Weise herausfordert und deshalb auch nicht stört.

Alles hingegen stört mich im und am Aldi-Prospekt, weil mir darin ein Leben vorgeführt wird, das ich nicht führe, aber möglicherweise doch gerne hätte. »Willkommen in der Familie« lautet das Prospektmotto, das von einer jungen deutschen Blondfamilie, bestehend aus einem Baby, einem Zweijährigen, einer Jungmutter mit Strickjacke und einem Vater mit Deep-V-Neck-Shirt und Dreitagebart illustriert wird, die zusammen auf einem hochflorigen, weißen Synthetikteppich herumlungern, ohne dabei fernzusehen oder tätowiert zu sein. Auf der folgenden Seite sind Vater und Mutter schon halbnackt, begrabschen sich und das vor ihnen liegende Neugeborene im grünen »Baby-Body«. Es ist vollkommen klar, dass demnächst ein weiteres Kind gezeugt werden wird, was aber aus Modelgagengründen nicht gezeigt wird. Nach einem kurzen »We love basics«-Intermezzo im Mittelteil das Prospekts, mit Damen-Outdoor-Sweatjacken, Langarm-Basic-Shirts und Viskose-Socken, beginnen dann auch noch die Frankreich-Aktionswochen mit einem antihaftbeschichteten Crêpe-Maker, Madeleines in blickdichten Tüten, einem No-Name-Pastis und Gebirgssalami aus reinem Schweinefleisch. Ständig ist alles »nach französischer Art«. Das hat mir in meinem herbstlichen Gemütszustand gerade noch gefehlt, der sich auch durch den Massagestuhl in eleganter Lederoptik und den Multizerkleinerer im Prospektabspann nicht mehr erhellen lässt.

 

 

Im Rahmen des Wunsches nach einer möglichen Gemütserhellung und der Erweiterung einer in mir verspürten Engstirnigkeit könnte ich es doch einfach mal mit der Lektüre eines religionsfreundlichen Sachbuchs versuchen. Nahm ich mir vor, dachte ich mir. Die religionsunfreundlichen Denkweisen, mit denen man im Freundes- und Bekanntenkreis nie aneckt, kennt man ja schon. Und der simplizistische mediale Nichtglaubenskonsens, wie er sich in Form von Religionswitzchen der Titanic oder in der heute-show zeigt, geht einem seit einiger Zeit sowieso zunehmend auf die Nerven. Kurz und naiv also Ein säkulares Zeitalter von Charles Taylor als E-Book heruntergeladen, in der Printausgabe 1200 Seiten dick. Man wird wohl etwas länger darin herumlesen müssen, was sich auch daran bemerkbar macht, dass der auf dem E-Book-Reader in Prozenten angegebene Lesefortschritt nur stündlich um ein einzelnes Prozent ansteigt. Charles Taylor, kanadischer Politikwissenschaftler und Philosoph, beschreibt darin sehr unmissionarisch und in einem essayhaften, manchmal etwas langatmigen Stil die europäische Geschichte der Säkularisierung vom Hochmittelalter bis in die Gegenwart. Er folgt insbesondere der Frage, wie und wieso sich eine zunächst religiös-theistische Gesellschaft, die noch vor fünfhundert Jahren ihr Dasein vollkommen selbstverständlich als gottgegeben und wenig veränderbar hinnahm, zu einer stark individualistischatheistisch geprägten Gesellschaft entwickelt hat, in der Religiosität nur noch eine untergeordnete Rolle spielt und der Drang nach Selbstverwirklichung ein noch immer vorhandenes Spiritualitätsvakuum ausfüllt.

Taylors über Hunderte von Seiten ausgebreitete Antwort lässt sich hier in einem Satz nicht zusammenfassen – unter anderem sieht er als gläubiger Katholik den religiösen Glauben natürlich nicht durch Aufklärung und Wissenschaft widerlegt –, aber seinen geistesgeschichtlichen Marsch durch die Jahrhunderte habe ich mit Interesse gelesen. Apropos Spiritualitätsvakuum: Falls man dieses nicht bereits durch Yogakurse, Zen-Meditation, Marathonläufe, Veganismus oder vehementen Glauben an Homöopathie aufgefüllt hat, bleibt einem ja immer noch Facebook zur Reaktivierung der aus der Kindheit hinübergeretteten Restreligiosität. (Mal abgesehen davon, dass Facebook prinzipiell und immer mit allem in Verbindung gesetzt werden muss und schon alleine deshalb den Charakter einer Religion angenommen hat.) Wie dem auch sei: Ein entfernter Bekannter, mit dem man auf Facebook befriendet war, ist vollkommen überraschend und unter tragischen Umständen vor einem Jahr verstorben. Sein Facebook-Account existiert weiterhin und wird noch immer von einigen seiner Facebook-Freunde als Trauerforum benutzt (um nicht zu sagen missbraucht), deren Befindlichkeits-Posts regelmäßig in meiner Timeline auftauchten, bis ich es irgendwann nicht mehr aushalten konnte und den Toten entfrienden musste, was mir auch nicht gerade pietätvoll vorkam.

»Grüße nach oben« samt eingebettetem Youtube-Musikvideo wurden über Facebook versandt, von Engeln war die Rede, dass er es »auf dem Sonnendeck krachen lassen« sollte und dass man sich »irgendwie« sicher sei, dass der Tote diese Nachrichten lese. Nun könnte man sagen: Lass doch die Leute auf ihre Weise trauern, selbst wenn es öffentlich auf Facebook stattfindet. Aber mich störte der von mir vermutete, nicht konsequent zu Ende gedachte und gelebte Atheismus dieser Leute, die in ihrem Alltag sehr wahrscheinlich mit Religion nichts groß zu tun haben, aber in Extremsituationen dann doch sofort und unreflektiert in eine naive Kindchenreligiosität mit Engeln, Paradies und Auferstehung verfallen. Man wird wohl in seinem Testament vorsorglich sämtliche Zugangsdaten aller Social-Media-Accounts aufführen und einen seiner atheistischen Freunde mit der Löschung aller Konten beauftragen müssen.

 


Weitere Beiträge aus der Reihe Zweite Lesung.