Ulrich von Altenstadt

Städtebau zwischen Emotion und Wissenschaft

Merkur, Nr. 198, August 1964

 

In Deutschland wird der Städtebau zumeist als praktische, nicht aber als wissenschaftliche Aufgabe betrachtet. Alle Erfolgsmeldungen über die Beschaffung von Millionen neuer Wohnungen, die rüstige Baulanderschließung und den Straßenbau können nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der ganzen Zeit des hektischen Aufbaues – der meist ein Wiederaufbau war – die Frage nach dem Wesen der modernen Stadt unbeantwortet geblieben ist.

»Städteplanung geht uns alle an« hieß vor einigen Jahren das Motto einer Dortmunder Veranstaltung. Es war das erste seiner Art. Heute beschäftigen sich Theologische Akademien mit der »Stadt von morgen«, und der Deutsche Werkbund, bislang mit der »guten Form« befaßt, bemüht sich um die geistigen Grundlagen städtischen Zusammenlebens. Literaten wie Ludwig Marcuse meditieren über die Frage, was eigentlich Urbanität sei, und Monsignore Paul Adenauer ist, wie man vernimmt, Mitglied des »Beirates für Städtebau und Raumordnung bei der Bundesregierung« geworden.

Die Institute für Stadtplanung und Stadt-Soziologie schießen wie Pilze aus dem Boden, und Teppichfirmen erteilen Forschungsaufträge an Soziologen, um die Wohnwünsche des Städters zu ergründen. Allenthalben also ein hitziges öffentliches Interesse am Städtebau, das man sich eher für die ersten Jahre nach Kriegsende gewünscht hätte, als die Weichen für unseren Städtebau gestellt wurden. Doch damals erschöpfte man sich in der Lösung quantitativer Fragen, statt zunächst über qualitative nachzudenken.

Bis heute ist die Stadtplanung nicht über das Hinterher-Reagieren hinausgekommen. Was wir Planung nennen, ist in den meisten Fällen nur Reaktion auf bereits eingetretene Katastrophen oder Übelstände, nicht aber Vorsorge für eine noch unbekannte Zukunft, und selten nur Erforschung von Zusammenhängen. Unsere Planung schwärmt heute vom Wohnen in der Natur und zerstört zugleich immer größere Teile davon. Sie dezentralisiert unter immensen Kosten die Städte, weil man z. B. bislang kein geräuschloses und abgasfreies Auto konstruierte; wird das Elektroauto konstruiert, war alle Mühe umsonst. Sieht man näher zu, muß man konstatieren, daß das Handwerkszeug der Planer – von gewissen Techniken der Ingenieure abgesehen – immer noch vorwiegend emotioneller (künstlerischer, ideologischer, politischer) Natur ist. Die exakten Wissenschaften finden bislang kaum Anwendung im Städtebau. Dennoch hat die Gesellschaft gerade auf diesem Gebiet ein Anrecht darauf, genauso wie ein Bauherr erwarten darf, von seinem Architekten mit den neuesten Techniken und Organisationsformen beraten zu werden. Wenn auch die Planung einer Lebenstotalität — und darum handelt es sich beim Städtebau – den Planern größeren Widerstand entgegensetzt als in rein technischen Teilbereichen, ist es doch unumgänglich, daß hier wie überall Information durch die Wissenschaft vor allen praktischen Schritten erfolgen muß.

Der Schweizer Architekt Marcel Herbst erklärte kürzlich die Situation: Verfolgt man die Bemühungen auf dem Gebiet der Stadtplanung in diesem Jahrhundert, so fällt auf der einen Seite eine große Unsicherheit jener Leute auf, die als Stadtplaner fungieren; auf der anderen Seite ist man überrascht, mit welcher Sicherheit therapeutische Maßnahmen und Planungskonzepte angepriesen werden. Sowohl die Sicherheit als auch die Gewißheit der Planenden haben eine gemeinsame Wurzel: die Uninformiertheit.

Dieser Zustand hängt vor allem damit zusammen, daß wir zur Zeit weit davon entfernt sind, über den Begriff der Stadt selbst eine einheitliche Wert- oder Funktionsvorstellung zu haben. Jeder Besucher von einschlägigen Tagungen wird entdecken, daß die Teilnehmer an Städtebau-Diskussionen regelmäßig in zwei Parteien zerfallen: den einen bedeutet die Großstadt »Entartung, Dekadenz und ungesunde Lebensweise« – sie fordern ein Leben in natürlicher Umgebung; den anderen bedeutet sie die Möglichkeit zu freier menschlicher Entfaltung. Dem einen gelten Hochhäuser als »schwindelerregende Wohnwaben für entwurzelte Miethaus-Nomaden«, dem anderen die Vorort-Eigenheime als Brutstätten eines primitiven Provinzialismus. Der Kleinhaus-Idylle steht unversöhnlich die Forderung nach Urbanität und rationeller Konstruktion gegenüber.

»Unsere Städte und Dörfer sind krank«, erklärte noch kürzlich Bundeswohnungsminister Lücke vor dem Deutschen Städtetag, der diesen Vorwurf jedoch im Namen von 480 Städten öffentlich zurückwies: unsere Städte seien weder Steinwüsten noch Lasterhöhlen, sie seien vielmehr ganz einfach in Gefahr, von »einigen wenigen, aber einflußreichen Außenseitern« in gigantische Riesendörfer verwandelt zu werden. Zur Abschrekkung verwies der Städtetag auf den Nordosten der USA, wo ein einziger ungeheurer Städtebrei von 650 km Länge entstanden sei. Diesem verhängnisvollen Drang in die Vororte gelte es Einhalt zu gebieten.

Das Rezept des Städtetages: keine Förderung des Einfamilienhauses um jeden Preis. Vorrangig sei ein Sanierungsgesetz, mit dessen Hilfe die Städte ohne Verminderung der Wohndichte aufgelockert und durchgrünt werden könnten (Das Sanierungsgesetz läßt auf sich warten). Tatsächlich ist eine Eigentumspolitik, die jedem Bundesbürger zu einem Grundstück mit Obstbäumen, Kartoffelacker und 1 1/2 geschossigen Häuschen mit deutschem, landschaftsgebundenem Steildach verhelfen möchte, rein ideologischer Natur.

Sie ist fraglos nicht nur aus wohnhygienischen Erwägungen zu erklären, sondern vor allem aus der Vorstellung, den Einzelnen durch Besitz gegen den Kommunismus zu immunisieren. Der Forderung nach gesellschaftsbildender Kraft des Städtebaues – Minister Lücke nennt ihn ein »gesellschaftspolitisches Vehikel« – konnte damit jedoch kein schlechterer Dienst erwiesen werden. Denn die Dissoziierung des modernen westlichen Menschen findet ihren genauesten Ausdruck im »dissoziierten Eigenheim im dissoziierten Vorort« (Doernach). Der Wunsch nach totaler Privatisierung des Grund und Bodens mag eine begreifliche Reaktion auf totale Katastrophen, auf die allgemeine Erfahrung der Staats-Allmacht sein – für den gesellschaftspolitischen Ehrgeiz des Staates bedeutet sie eine Bankrotterklärung, einen Rückzug in die Vereinzelung. Wohlgemerkt: Ich weiß nicht zu sagen, ob unsere Gesellschaft überhaupt noch irgendwelche nennenswerten Antriebe zum »Gemeinsinn« besitzt; es könnte durchaus sein, daß unsere dissoziierten Vorstädte wirkliche Abbilder sind.

Umso mehr ist es erlaubt, die These »Bodenbesitz schafft Bürgersinn« mit einem Fragezeichen zu versehen. Wer sich heute die Bauvorschriften für Einfamilienhäuser ansieht, wird zugeben müssen, daß die Beschränkungen der Freiheit (Abstände, Bautiefen, Dachformen etc.) kaum weniger groß sind als in mittelalterlichen Städten, die aber keinen Privatbesitz an Grund und Boden, sondern nur Gemeinschaftseigentum der Zünfte oder sonstiger Gruppen kannten. Die Einschränkung ist nur fühlbarer, da man sich ja auf eine vermeintliche persönliche Freiheit eingerichtet hat. Die wahren Nutznießer unserer heutigen Bodenpolitik sind die Grundstücksspekulanten, die ihre Herkunft aus dem agrarwirtschaftlichen Denken nur zu gut begriffen haben: Boden als Produktionsmittel (für Bankguthaben).

Der Deutsche Städtetag hätte im übrigen seine Beispiele gar nicht in den USA zu suchen brauchen. Auch in der Bundesrepublik breiten sich jetzt schon die Vororte unaufhaltsam über das Land aus, nur in seltenen Fällen in Form durchdachter Siedlungsorganismen, meist einfach wie ein wahllos um sich greifender Präriebrand. Beispielsweise sollen in einem solchen Vorort, der zur Zeit bei Hamburg entsteht, auf einem Gebiet von rund 300 ha – in noch relativ konzentrierter Bauweise – 20 000 Menschen wohnen. Auf einer nur halb so großen Fläche, dem Frankfurter Stadtgebiet innerhalb der Wälle, lebten in der 1. Hälfte des vorigen Jahrhunderts etwa doppelt soviel Einwohner, und das einschließlich ihrer Arbeits-Stätten, wenn man die Äcker nicht mitrechnet, die vor der Stadt lagen.

Die neue Hamburger Siedlung, obwohl schon recht grün und locker angelegt, soll eine sogenannte Grüne Mitte erhalten, die mit 400 x 1 000m Größe z. B. in Köln vom Rhein bis zur Kirche St. Aposteln am Neumarkt reichen würde. Zwei Schulen und einige öffentliche Einrichtungen sollen das Zentrum »beleben«. Diese Zahlen genügen, um zu zeigen, daß der heute geforderte Landbedarf pro Einwohner allein für das Wohnen viermal so groß ist wie vor 150 Jahren. Er steigt bis auf das Hundertfache, wenn man den Bedarf für Industrien, Sozialflächen und Verkehr hinzurechnet.

Wer nun erklärt, daß Baugrund nicht produzierbar sei wie eine materielle Ware, und wer daher eine höhere Dichte der Einwohnerzahlen je Hektar fordert, wird von der offiziellen Städtebaumeinung mit folgender Rechnung abgefertigt: in den kommenden Jahrzehnten werden noch ca. 6 Millionen Wohneinheiten gebraucht. Von diesen werden 4,5 Millionen auf Neuland errichtet werden. Wird der Anteil der Eigenheime auf 30-40% der Wohneinheiten und der notwendigen Folgeeinrichtungen wie Straßen, Schulen, Versorgungsbetrieben usw. auf 38-40% der Gesamtfläche veranschlagt, ergibt sich ein Bedarf von 75 000 ha Bauland. Dies entspricht einem Rechteck von 15 x 50 Kilometern, also rund 0,3% des gesamten Bundesgebietes. Nach dieser Version fehlt es nicht an Bauland, sondern nur am Tempo der Erschließung. Die Bemühungen der Bundesregierung, zur Senkung der Baulandpreise in der Lüneburger Heide und im Moorgebiet der Ems Grundstücke aus Bundesbesitz zur Verfügung zu stellen, sowie die unentwegt propagierten Forderungen nach »Entballung« und »Durchforstung« der Großstädte zeigen, daß man der Regierung wenigstens das Fehlen eines eindeutigen Programmes nicht vorwerfen kann.

Man ignoriert dabei jedoch einfach den Unterschied, daß eine Wohnung ohne ausreichende Verbindung zum öffentlichen Bereich der Stadt weniger Wert hat, als die gleiche Wohnung in urbaner Lage – es sei denn, die Kommunikationsmittel würden entscheidend verbessert. Wie ist es zu dem heutigen »Notstand« gekommen? Ein Rückblick auf die Entwicklung der letzten 100 Jahre mag die Herkunft der Probleme noch einmal zeigen.

Mit Beginn der Neuzeit hatte sich die Kriegstechnik gewandelt und Mauern und Wälle überflüssig gemacht. Die alsbald einsetzende Bevölkerungsvermehrung sprengte endgültig den Rahmen der eng zusammengedrängten mittelalterlichen Stadt. Die Ansiedlungen wuchsen alsbald nach allen Seiten über die alten Stadtgrenzen hinaus und begannen, die Landschaft aufzufressen. Durch die zugleich einsetzende Industrialisierung wurden erstmalig Keile in die bislang homogene Stadtstruktur getrieben. Die Einheit von Arbeiten und Wohnen, wie sie den Handwerkerhaushalt gekennzeichnet hatte, begann zu zerfallen. Die Handwerksbetriebe wuchsen zunächst im Innern der alten Wohnquartiere zu Manufakturen heran, siedelten sich dann aber in Form von Fabriken vor den Toren an, weil sie mehr und mehr Fläche brauchten. Die zugehörigen Arbeiter wurden in Mietskasernen, die eilfertige Spekulanten auf den Äckern des Umlandes errichteten, untergebracht. Die Planlosigkeit dieser Vorgänge wurde erst später als Gefahr erkannt und mit General-Bebauungsplänen bekämpft.

Die Zustände im alten Berlin, Hannover, Hamburg oder Oberhausen sind bekannt. Eine Reaktion auf die unmenschlichen Verhältnisse war unausbleiblich und führte um die Jahrhundertwende zur Propagierung der sogenannten »Gartenstädte«, zuerst in England, dann auch auf dem Kontinent. Nicht nur die Reichen sollten künftig Wohnungen im Grünen besitzen, sondern jedermann. Durch Eigentumsideologie und Naturschwärmerei gefördert, hatte diese Vorstellung eine weitere räumliche Explosion der Städte zur Folge – eine Entwicklung, die mit dem Aufkommen der modernen Transportmittel noch beschleunigt wurde. Man braucht heute nicht mehr in der Nähe seines Arbeitsplatzes zu wohnen. Zunächst erfolgte die Besiedlung der Landschaft mehr linear entlang vorhandener Straßen und Bahnlinien, immer noch in relativ kompakter Form, was den Einsatz von Massen-Transportmitteln begünstigte. Erst das Automobil als individuelles Verkehrsmittel ermöglichte eine flächige Ausbreitung der Wohnsiedlungen, die bis auf den heutigen Tag andauert. (Das konsequenteste Beispiel derartiger Flächenausbreitung auf der Grundlage des Automobils ist Los Angeles). Natürlich zerstören diese Verkehrsmittel mehr und mehr das Bild der alten »gewachsenen«, homogenen Stadt. Der Autofahrer muß freilich den Gewinn an räumlicher und zeitlicher Beweglichkeit mit einem Verlust an ungezielten Kontakten bezahlen, wie sie dem Fußgänger noch beschieden waren.

Die gleiche Maßstabsänderung vollzog sich bei den Gebäuden. Mit Rücksicht auf die neuen Anforderungen der Bauherren wurden auch neue Bautechniken und eine Vielfalt neuer Materialien entwickelt. Die mechanisierte Industrie und das Auftreten immer größerer Menschenmengen erlaubten und forderten bei gleichzeitigem Fortfall hierarchischer Ordnungen die Errichtung von Gebäuden, die hinsichtlich Größe, Qualität, Material und Standort an keine Regeln mehr gebunden war. Die damalige Stadtbaukunst nahm von den ökonomischen und sozialen Kräften, die das Stadtgefüge so elementar verändern sollten, wenig Notiz, sondern betrieb künstlerisch-räumliche Gestaltung und verdeckte das Chaos mit schönen Fassaden.

Jürgen Pähl hat in seinem Buch »Die Stadt im perspektivischen Zeitalter« (Bauwelt-Fundamente, Ullstein) gezeigt, wie etwa seit dem 15. Jahrhundert die bis dahin unbewußt aus den gesellschaftlichen Ordnungskräften erwachsene Stadtgestalt nun zielbewußt zum räumlichen Kunstwerk wurde (Achse von Versailles und Karlsruher Fächer-Plan). Ebensowenig, wie es im Mittelalter »künstlerischen« Städtebau gegeben hatte, konnte freilich die Stadtbaukunst des 19. Jahrhunderts die Stadt des Industriezeitalters formen: im Gegenteil, sie stand der Einsicht in die tatsächlich formenden Kräfte hindernd im Wege.

Die moderne Architektur der zwanziger Jahre zog ihre Konsequenzen aus alledem. Die sogenannte Charta von Athen aus dem Jahre 1933 war eine wichtige Etappe auf dem Wege zu neuen städtebaulichen Vorstellungen. Hier wurde dem durch vier Jahrhunderte gültigen Konzept der Stadt als Architekturkunstwerk ein neues Schema entgegengestellt: Gliederung nicht mehr durch Plätze und Monumentalachsen, sondern nach Funktionen. Als solche wurden »Arbeiten – Wohnen – Sich-Erholen – Verkehr« herausgestellt. Le Corbusier, Hilberseimer und andere bedeutende Architekten der ersten Jahrhunderthälfte proklamierten zuerst diese neue Stadtgliederung, in der jeder Funktion ihr eigener, von der anderen ungestörter Bereich angewiesen wurde; heute wird in jedem Planungsamt danach verfahren. Der – trotz allem idealistischen Pathos der Charta – stark mechanistische, man möchte sagen, zweidimensionale Charakter dieses Schemas entspringt zugleich den physiologisch-hygienischen Vorstellungen seiner Entstehungszeit. Wir werden sehen, daß der psychologisch-soziale Bereich des Daseins, wie ihn unsere Zeit herausgebildet hat, in diesem Konzept zu kurz gekommen war.

Kaum glaubte man, die Entwicklung notdürftig im Griff zu haben, da wurden schon wieder neue Bewegungen sichtbar – hervorgerufen durch die rapide Ausdehnung des sogenannten »tertiären Sektors« der Verwaltungs- und Dienstleistungsbetriebe. Es ist eine längst bekannte Tatsache, daß sich in den vornehmen Villenvierteln der Jahrhundertwende heute keine Wohnungen mehr befinden, sondern die Büros von Großhandels-, Film-, Ingenieur- oder Radio-Firmen. Die Verlagerung der Arbeitsplätze aus den Industrien in die Dienstleistungsbetriebe wird in den nächsten 20 Jahren von 40% auf 60% zunehmen. (May sagt im Rhein-Main- Gebiet sogar 80% für 1985 voraus.) Weil alle Betriebe in die Innenstadt streben, dringen die Cities, in dauernder Vergrößerung begriffen, immer weiter in die umgebenden ursprünglichen Wohngebiete vor, setzen Ring um Ring an und verändern von innen her die Struktur der so unterwanderten Gebiete.

 

 

Man kann diesen Prozeß geradezu handgreiflich verfolgen. Meist wird zunächst das Parterre der Häuser ausgehöhlt und für Geschäftszwekke freigemacht, während oben noch private Mieter wohnen. Aber auch diese weichen im Lauf der Zeit, weil Geschäfte höhere Mieten zahlen und die Wohnqualitäten des alten Viertels mehr und mehr zu wünschen übrig lassen. Schließlich werden die Wohnhäuser abgerissen und zweckentsprechende höhergeschossige Bürohäuser errichtet. Ein neuer Cityteil ist fertig und die ehemaligen Bewohner ziehen in neuerschlossene Wohngebiete viele Kilometer weit entfernt an den Stadtrand, bis die City sie vielleicht auch hier eines Tages einholt. Aber nicht nur diese eigentliche Umlagerung bildet ein städtebauliches Problem, sondern auch der Platzbedarf, den das Wachstum des tertiären Sektors mit sich bringt; denn gleichzeitig werden die Fabriken nicht etwa kleiner, sondern nur menschenleerer.

Ein weiteres Problem, die zunehmende Freizeit, bereitet den Stadtplanern vergleichsweise noch wenig Kopfzerbrechen, obwohl die Anzeichen beunruhigend genug sind. In den USA wird die 35-Stunden Woche angestrebt, um der zu erwartenden Freistellung von Arbeitern aus automatisierten Betrieben sowie der allgemeinen Bevölkerungszunahme zu begegnen: man rechnet jährlich mit einem Bedarf von rund vier Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen. Bei gleichbleibender Produktionsziffer müssen bereits beim Schritt von der 45- zur 35 Stundenwoche 25% zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. Daneben gibt es weitere gleichlaufende Tendenzen außerhalb des Arbeitsprozesses. Es steigt nämlich, wie Müller-Ibold nachweist, der prozentuale Anteil der Nicht-Erwerbstätigen innerhalb der Einwohnerzahl erstens infolge erhöhter Lebenserwartung, zweitens infolge längerer Berufsausbildung, drittens infolge Frühinvalidität dank besserer Sozialleistungen. Diese Tendenzen werden neben den schon genannten Ursachen den Bedarf an Raum im städtischen Gefüge noch steigern. Wissenschaftler wie Fritz Baade sagen darum: Die Weltbevölkerungszahl wird eines Tages nicht von der Nahrungsmittelproduktion, sondern vom Platzmangel begrenzt werden.

Neben der geschilderten Umlagerung der städtischen Wohnbereiche in die Außenbezirke vollzog sich unmerklich auch eine Änderung in der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung selbst. Nachdem der ländliche, selbstproduzierende Großfamilienhaushalt längst aufgegeben war, ging die Entwicklung lange in Richtung auf eine fortschreitende Verkleinerung des Familienverbandes, bis heute mit der Reduktion auf Elternpaar und Kinder sowie eine steigende Zahl von Einzelpersonen die Grenze erreicht ist. Verlängert man diese Tendenzen, so muß man sogar bezweifeln, ob es in kommenden Generationen ein familiäres Zusammenleben überhaupt noch geben wird. Frauenberufe, Emanzipation, Individualisierung, Delegierung der Erziehung an Kindergarten und Schule, Scheidungsquoten, freie Gruppierung: all das deutet auf eine weitere Differenzierung dessen, was man heute als Familie begreift, und damit auf eine immer stärkere Auflockerung der bisherigen Wohngemeinschaft.

Die erste Hälfte dieses Jahrhunderts brachte nun eine Reihe von Lösungsversuchen, die jedoch alle nur in Reaktion auf gefühlte oder bewiesene Übelstände konzipiert wurden. Gehen wir sie der Reihe nach durch:

 

Das funktionsgetrennte Stadtmodell

Wir sahen bereits, daß die Forderungen der Charta von Athen nach Trennung von Wohnen, Arbeiten, Verkehr und Erholung als Reaktion auf das chaotische Durcheinander der Gründerzeit-Stadt verstanden werden muß. Zugleich ist sie natürlich ein Ergebnis analytischen Denkens, das angesichts der Unmöglichkeit, die komplexen Zusammenhänge des Stadtorganismus in einem kohärenten Denkmodell zu beschreiben, den Ausweg der reinlichen Trennung wählte. Ähnliche Versuche der Gliederung in übersichtliche Elemente sind die Nachbarschafts-Gedanken des Städtebaues der 40er und 50er Jahre oder die von Reichow propagierte »autogerechte« Stadt. Wir erleben jedoch heute, daß diese Betonung von Einzelaspekten, die Überbetonung beispielsweise hygienischer Gesichtspunkte (der Wohnung im Grünen) kein befriedigender Weg der Planung ist.

Die Ergebnisse sind teilweise alarmierend. So sind die Selbstmordziffern in jenen Städten, die nichts anderes sind als Schlafstädte, zu hoch, als daß ihre Bewohner als »glücklich« gelten dürften. Selbst jene als »Stätten neuer Menschlichkeit« und als »Oasen guter nachbarlicher Kontakte« so sehr gepriesenen neuen Siedlungen wie die »Neue Vahr« in Bremen sind Enttäuschungen geblieben. Die formale Phantasielosigkeit der in eintönigen Zeilen angeordneten Blöcke, der völlige Mangel an städtischer Vielfalt, aber auch an Gartenstadtcharakter, verleiht diesen Siedlungen etwas ausgesprochen Tristes.

Christiane Rochefort hat in ihrem Buch »Die Enkel des Jahrhunderts« die französische Erscheinungsform solcher Siedlungen ironisch beschrieben. Ihre Bewohner, deren gesellschaftliche Kontakte über die Benutzung gemeinsamer Waschküchen nicht hinauskommen, träumen derweil vom »Ambiente« unhygienischer, dichtgedrängter, vollgestopfter italienischer Städte, die sie beim letzten Urlaub besuchten.

 

Ein soziologisches Stadtmodell

Versuche, von soziologischer Seite eine städtebaulich brauchbare Beschreibung »der Gesellschaft« zu entwerfen, sind in neuerer Zeit Rene Königs »Gemeindesoziologie« und Hans Paul Bahrdts »Soziologie der Großstadt«. Wurde bei der rein funktionellen Betrachtungsweise der Charta von Athen die Stadt als ein riesiges Produktions- und Konsumationszentrum aufgefaßt, in dem z. B. den Grünanlagen nur die Rolle von Luftfiltern zugewiesen wurde (also sanitäre Aufgaben wie der Kanalisation), so wird heute offenbar, daß Leben mehr ist als Wohnen, Arbeiten, Verkehren und Sich-Erholen. Die Begriffe der Charta werden der Wirklichkeit nicht gerecht, weil sie ein zu grobes Netz auswerfen. So können z. B. Begriffe wie Arbeiten und Wohnen nicht gleichgeordnet werden, weil es sich im einen Fall um eine Tätigkeit, im anderen um einen Zustand handelt. Erst heute beginnen wir, städtisches Leben mehr als Struktur zu begreifen denn als statisches System.

Der Soziologe Hans Paul Bahrdt hat nun ein Begriffspaar aufgestellt, mit dem sich vielleicht arbeiten läßt. Seine These lautet: Eine Stadt ist eine Ansiedlung, in der das gesamte, also auch das alltägliche Leben, die Tendenz zeigt, sich zu polarisieren, d. h. entweder im sozialen Aggregat- Zustand der Öffentlichkeit oder in dem der Privatheit stattzufinden… Die Lebensbereiche, die weder als »öffentlich« noch als »privat« charakterisiert werden können, verlieren hingegen an Bedeutung. Je stärker Polarität und Wechselbeziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre sich ausprägen, desto »städtischer« ist, soziologisch gesehen, das Leben einer Ansiedlung. Es läßt sich, besonders in unserer Zeit, deutlich beobachten, daß eine Privatsphäre niemals autark ist, daß sie sich gewissermaßen nicht selbst ernähren kann, sondern Impulse aus dem Bereich der Öffentlichkeit braucht… Ein Merkmal sozialer Ordnungen, die den Aggregatzustand der Öffentlichkeit kennen, ist der hohe Grad an Bewußtheit vieler in ihr vorkommender sozialer Verhaltensweisen. Die Distanz, der ständig wachsame Umgang mit Halbfremden, der Zwang zur Selbstdarstellung und damit zu einer Distanzierung zu sich selbst, die Konfrontation mit vielen Möglichkeiten der Soziierung, unter denen gewählt wird,… all das führt zu höherer Bewußtheit und zu einer Vergeistigung des gesellschaftlichen Lebens.

Aus den Darlegungen von Bahrdt folgt, daß eine Stadt den gleichmäßigen Wechsel zwischen Öffentlichkeit und Privatheit begünstigen und nicht erschweren sollte. Nicht Trennung, sondern Mischung der Funktionen wäre demnach die neue Devise. Verschiedene Architekten fordern heute, die Arbeitsstätten mit den Wohnstätten, soweit sie sich gegenseitig nicht belästigen, bewußt wieder zu verbinden, wobei die fortschreitende Entwicklung sauberer Energie (Elektrizität) zu Hilfe kommt. Das Grundmodell für eine solche Mischung ist die

 

Vertikale Stadtstruktur

Sie betrachtet das »Parterre« der Stadt als den Bereich der Öffentlichkeit. Dort sind die Läden, Schulen, Verwaltungen, Erholungsstätten in horizontaler Erstreckung kontinuierlich untergebracht. Darüber erhebt sich der vertikale Bereich der Privatheit in Form von Hochhäusern, in denen sich Wohnungen befinden. Privater und öffentlicher Bereich sind also nur durch wenige Sekunden Aufzugsfahrt voneinander getrennt. Den unvorhergesehenen baulichen Bedürfnissen der wachsenden City stehen keine »Ringe« von Wohnquartieren mehr hindernd entgegen: der öffentliche Bereich breitet sich unter den vertikalen Wohnquartieren hinweg mühelos aus. Das Problem, auch für kinderreiche Familien brauchbare Wohnungen in den Hochhäusern zu schaffen, soll dadurch gelöst werden, daß durch die terrassenförmige Anordnung der Etagen jede Wohnung über einen kleinen Gartenhof – auf dem Dach der unteren Wohnung – verfügt, in dem die Kinder einen gewissen Auslauf haben.

Diese »vertikale Stadtstruktur« war in Rotterdams berühmter Lijnbaan bereits einmal verwirklicht, ist aber nie recht weiter entwickelt worden, auch wenn sie, von allen psychologischen Vorteilen abgesehen, eine beträchtliche Ersparnis an Bodenfläche bringen könnte. Projekte dieser Art rechnen mit einer Einwohner-Dichte von 1000 Personen je ha Netto-Bauland oder 500 Personen je ha Brutto-Bauland. Sie bringen in den Geschoßflächen 50% Arbeitsplätze für den tertiären Sektor und 50% Wohnflächen unter – bei Geschoßflächenzahlen, die bei 3,3 (netto) oder 2,3 (brutto) liegen, also nach den zur Zeit gültigen Bauordnungen nicht zulässig sind.

Die letzten Vorbilder gemischter und dichter Stadt-Quartiere sind vor 100 Jahren in der Gründerzeit entstanden. Die auf Grund ihrer Fehler eingetretene Reaktion hat es aber bis heute verhindert, mit unseren jetzigen technischen Mitteln neue Realisierungen auch nur zu versuchen. Als Reaktion auf die Disparatheit der Meinungen entstanden die Gedanken zum

 

formalistischen Städtebau

Oswald Matthias Ungers veröffentlichte im WERK (Juli 1963) seinen Entwurf für die neue Wohnstadt im Norden Kölns und schreibt dazu u. a.: Wenn gesagt wird, die Entstehung der verschiedenartigen Stadtgebilde sei eine Folge soziologischer, technischer, kultureller oder zeitgeschichtlicher Anlässe, dann ist das eine Erklärung, die von einer Zweckgesinnung ausgeht. Die Forderungen, die aus einer solchen Gesinnung abgeleitet werden, können aber lediglich Modifikationen in der Anordnung des strukturellen Gefüges erreichen … Die Architektur und mit ihr der Städtebau enthalten (aber) ihre eigene Gesetzlichkeit, die im Wesen der Gestaltung begründet liegt… Die hier gezeigten Entwürfe gehen von dem Gedanken aus, einzelne autonome Körper so zueinanderzu stellen, daß sich dazwischen neue räumliche Bezüge ergeben. Positive Körperform und negativer Zwischenraum werden in Korrelation gebracht.

Hier spricht einer der bewußt künstlerischen Architekten, die von der Gestaltung her der heute völlig ungeordneten städtischen Umwelt Ausdruck und Bedeutung zurückgeben wollen. Da die Gesellschaft selbst offenbar keinen »Stil« zu bilden mehr imstande ist, übernimmt der Planer (Gestalter) diese Aufgabe für sie. Dabei muß allerdings gefragt werden, wie denn der Stil des Planers für die Gesellschaft verbindlich werden soll, ja, ob es überhaupt noch auf »Stil« ankommt; denn der diktatorische Aspekt dieser Methodik ist nicht zu verkennen. Auch läuft der Architekt bei diesem Vorgehen Gefahr, gewissen Modeströmungen zu verfallen, es sei denn, er betrachtet sich als eine Art »Medium«, durch das hindurch die lebendigen Kräfte der Zeit Form gewinnen.

Die Wurzeln dieser Gesinnung werden noch deutlicher, wenn der »individuelle Bau« gefordert wird, wie es in einem von Ungers und Gieselmann verfaßten Manifest »Zu einer neuen Architektur« geschieht. Architektur ist partielle Schöpfung. Jeder schöpferische Vorgang aber ist Kunst… Technik und Konstruktion sind nur Hilfsmittel der Verwirklichung … Folgt man den Methoden der technisch-funktionellen »Architektur«, so ergibt sich Uniformität… Architektur verliert ihren Ausdruck bei Anwendung technisch funktioneller Methoden. Die Folge ist, daß Wohnblocks wie Schulen, Schulen wie Verwaltungsgebäude und Verwaltungsgebäude wie Fabriken aussehen. Ein leeres Gerüst wird vorgehängt. Form wird durch die Anwendung von mathematischem… Schematismus auswechselbar. Die so entstehende »Architektur« ist Ausdruck einer materialistischen Gesellschaftsordnung, deren Prinzipien Primat der Technik und Gleichmachung sind. Das Verhältnis zur Umwelt wird programmatisch festgelegt und dadurch spannungslos. Durch diesen Mangel an Vitalität entsteht ein geistiges Vakuum.

Die gleiche Haltung zeigte sich kürzlich bei der Beurteilung des Preisgerichts das über Arbeiten für den Wettbewerb um das Kultur- und Geschäftszentrum zwischen Dom und Römerberg in Frankfurt zu entscheiden hatte. Alle Pläne, die eine neutrale, nicht mit »Bedeutung« und »Ausdruck« aufgeladene Architektur zeigten, erhielten die Zensur: Eine andere Gruppe reihte die einzelnen Gebäude sowohl im Grundriß wie im Aufriß recht unvermittelt nebeneinander, ohne daß eine innere Ordnung erkennbar geworden ist.

Die hier sichtbar werdende Denkweise ist der eine Partner einer Dauer-Kontroverse, die unsere gesamte moderne Architektur durchzieht: objektive und subjektive Methoden, Konstruktivisten und Funktionalisten stehen sich in extremen Positionen gegenüber. Es geht dabei um die Frage, wie es gelingen kann, die von unserem Preisgericht gewünschte »innere Ordnung« in der Architektur auszudrücken, da sich unsere Gesellschaft doch gerade durch die Abwesenheit solcher Ordnungen auszeichnet. Ironisch zitiert der Schweizer Architekt Lucius Burckhardt einen literarischen Beitrag zu diesem Thema:

Die spukhaften Reisen des französischen Surrealisten Henri Michaux führen unter anderm zu einem sehr vernünftigen Volk. Es bewohnt nicht die Häuser, die es baut, sondern lebt daneben in bescheidenen Erdkammern. Davon gewinnt natürlich die Architektur: ohne Rücksicht auf Brauchbarkeit wird sie zum Ausdruck künstlerischer Phantasie. Analog dazu hat der amerikanische Architekt Louis Kahn den Begriff der »background-architecture« geprägt. Darunter sind die auf Dauer zielenden künstlerischen Sonderleistungen zu verstehen, die für die schnellebige, sich nach ökonomischen und soziologischen Gesetzen mit einer »naiven« Architektur formierenden Stadt von heute den Hintergrund bilden.

Die Gegenposition gegen die Auffassungen vom »individuellen Bauen« ist damit bereits angedeutet. So zeigten etwa die letzten Wettbewerbe für die Bochumer Universität und die Freie Universität Berlin bestimmte Lösungen, die eine Neutral-Struktur aufweisen (tragende Konstruktion, Transportnetze) und in die mehr oder weniger mobil oder spezialisiert die gefoxderten »Organe« (Institutionen) gleichsam eingenistet sind (Schulze-Fielitz, Candilis-Woods). Die Tendenz zur Groß-Struktur, die den notwendigen »objektiven« Rahmen auch für individuelle Einzellösungen bildet, sowie Unabhängigkeit von Einzelgrundstücken und ihren willkürlichen Begrenzungen werden hier von den Architekten zur Demonstration neuer städtebaulicher Denkweisen benutzt. Die deutlichste Formulierung dieser Gedanken gelang bisher Schulze-Fielitz in seinen Raumstadt-Projekten.

 

Die Raumstadt

Sie ist, kurz gesagt, eine Reaktion auf das Eingeständnis der Planer, daß alle Festlegungen bereits den Keim zur Fehlinvestition enthalten müßten. Schulze-Fielitz fordert daher totale Flexibilität und als deren Vorbedingung den systematisierten Raum. Die Aufteilung des Raumes in städtischen Verdichtungszentren sollte so erfolgen, daß sie einem kontinuierlichen System folgt, wobei die Geometrie der Körper solche kontinuierlichen Strukturen anbietet: als vielseitigste und höchstwertige die Tetraeder-Oktaeder-Struktur.

Eine derartige Systematisierung der Raumteilung sei auch ökonomischer, weil sie alle drei Dimensionen des Raumes erfasse, also »Abfall durch Zufall« nicht kenne, und weil sie zum Beispiel, auf tragende Strukturen oder ausfüllende Teile angewandt, Austauschbarkeit und damit eine verbilligte Serienherstellung ermöglichte. (Während bei Automobilen unbrauchbar gewordene Teile einfach und billig gegen neue ausgewechselt werden können, ist die Veränderung eines Bauwerkes heute noch fast ebenso umständlich wie vor 1000 Jahren).

Diese Raumstadt besteht also aus einem Knochengerüst von minderer Flexibilität, in das füllende Teile mit größerer Flexibilität (das Fleisch) eingebaut sind. Ein konstruktives Skelett nimmt Wohnungen, Büros, Läden, Plätze und Freiräume als Zellen der Stadt auf. So bietet sich das Bild einer vororganisierten Makrostruktur, in die sich die Kleinstruktur nach Belieben einnistet. Nicht-Festlegung und Mobilitätsmöglichkeiten sind die Hauptmerkmale dieser Raumstadt, die Schulze-Fielitz folgendermaßen beschreibt:

Vielgeschossige, bewohnte Raumtragwerke überbrücken große Spannweiten durch ihre große statische Höhe, erheben sich über Verkehrsstränge und Wasserläufe. In den Zentren der Verdichtung löst sich die Stadt vom Boden, der dem mechanischen Verkehr überlassen wird. Große Strukturhaufen bilden sich – Gipfel und Täler . . . Bei geeigneter Detailausbildung erlaubt die Maßkoordination die Auswechslung aller Teile untereinander. Anpassung an dynamische Funktionen ist möglich. Elektronische Rechenzentren untersuchen die statischen Bedingungen der Veränderung, automatische Fabriken produzieren die materielle Substanz der Stadt. Die Raumstadt ist eine Science-fiction des Urbanismus, die heute schon verwirklicht werden könnte.

Ein Blick auf die neue Kölner City-Schnellstraße in der Nähe der Oper oder auf die von Tiefgaragen unterhöhlten Geschäftsbauten und Fußgängerplateaus so mancher Innenstadt lehrt, daß schon manche »Utopie« im Ansatz Wirklichkeit wird, während amtierende Stadtbaumeister sie noch als »Unfug« bekämpfen und von den Möglichkeiten der Systematisierung aus Gefühlsgründen keinen Gebrauch machen.

 

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Natürlich erhebt sich die Frage, welche Rolle der Architektur innerhalb einer so umfassenden modularen Ordnung, in der die Stadt gewissermaßen als ein Superbaukasten vorgefertigt erscheint, zukommen soll. Wie stets, so sind auch hier Gefahren und Chancen gegeneinander abzuwägen. Sobald die Architektur einer solchen Raumstadt als ein sich dauernd in Veränderung befindlicher Prozeß gedacht wird, der nur zeitweise und stellenweise zu Verfestigungen gelangt, verliert das Detail jeden Anspruch auf Kunst.

Andererseits kann die Architektur vielleicht auf dieser neuen Grundlage die strukturelle Naivität mittelalterlicher Städte zurückgewinnen, und damit zugleich ein neues Freiheitsgefühl. Arnold Gehlen hat betont, daß unsere Gesellschaft »weitgehend nach dem Prinzip der vorbereiteten Vollzüge, an den Schienen der Eisenbahn ablesbar, arbeite«. Hierzu ist zu sagen, daß die »Utopisten« es sind, die hin und wieder eine Art Entgleisung herbeiführen: eine Mutation des Denkens, die auch der Städtebau sich gelegentlich leisten sollte.

Das Mittelalter prägte einst den Satz: »Stadtluft macht frei«, womit gleichzeitig die Freiheit von feudaler Bedrückung und die Freiheit von der Unbill des Lebens in der feindlichen Natur gemeint war. Seit dem Auftauchen der industriellen Großstadt geriet dieser Satz immer mehr in Vergessenheit. Von Ebenezer Howards Garden-Cities bis zu Frank Lloyd Wrights Broadacre-City reicht eine ununterbrochene Kette von Natur-Aposteln unter den Architekten. Nun wird niemand die Schattenseiten planloser Großstadt-Entwicklung verteidigen wollen. Aber der konstruierte Gegensatz zwischen gesundem Leben in der »Natur« und dem ungesunden Stadt-Dasein bedarf immer wieder der Korrektur. Und seit Cezanne das Wort von der »Kunst als Schöpfung parallel zur Natur« geprägt hat, haben wir gelernt, Phänomene wie das künstliche Gebirge Manhattans oder eine nächtliche Raffinerie einer schönen Landschaft oder einem Sonnenuntergang als gleichwertige Erlebnisse zuzugesellen. Eine Fahrt durch das nächtliche Ruhrgebiet ist anders; aber ist sie weniger eindrucksvoll als eine Wanderung durch Hochwald? Jedenfalls wird uns nichts anderes übrig bleiben, als die Stadt in einem neuen Sinne als Kunstwerk zu begreifen und zu versuchen, sie bewußt daraufhin anzulegen. Denn wir haben erlebt, daß jene schizophrene Angst vor dem »Unnatürlichen« nur dazu führt, durch kümmerliche Anpassung, Auflockerung, landschaftsgebundenes Bauen, »organische« Gartenkunst usw. gleichermaßen beiden Bereichen den ihnen eigenen Atem zu nehmen.

 

Wissenschaftliche Methoden

Auf der Suche nach neuen Wegen, die immer sorgfältiger zwischen Emotion und Erkenntnis zu unterscheiden haben wird, entwickelt die Stadtplanung neuerdings Modelle nach Art der exakten Wissenschaften: unter bestimmten, willkürlich gewählten Voraussetzungen werden frei von allen angelernten oder angewöhnten Formvorstellungen Ergebnisse ermittelt, die jeweils die adäquatesten Lösungen des so gegebenen Problems darstellen.

So gibt es Experimente, die man als eine Art von »Lockerungsübung« ansehen kann: Aufgaben zum Beispiel, Gebäude- und Straßenstrukturen zu entwerfen für Städte, in denen es nicht regnet (Klimatisierung) oder die Sonne nicht scheint; in denen es nur öffentliche Verkehrsmittel (Taxen, Bahnen etc.) gibt oder die Woche nur 20 Arbeitsstunden hat. Ebenso finden Elektronenrechner für die Lösung komplizierter Verkehrsprobleme, für die eine Programmierung seit einiger Zeit genügend vereinfacht ist, immer häufiger Anwendung. In der amerikanischen Zeitschrift »Architectural-Forum« vom Oktober 63 wird eine von dem Mathematiker-Architekten Alexander entwickelte Methode geschildert, die er »the hierarchical decomposition of Systems which have an associated linear Graph« nennt.

Es handelt sich hierbei um den (gelungenen) Versuch, mit den Methoden der Gruppen-Theorie und der Mengenlehre aus einer größeren Zahl von Faktoren diejenigen auszusondern, die hinsichtlich einer bestimmten Tatsache (Entwicklungsrichtung, Kosten u. a.) die größte Übereinstimmung zeigen. Die Faktoren-Gruppen wurden vorher bis ins Einzelne mittels eines graphischen Verfahrens analysiert. Im vorliegenden Fall diente die Methode zur Auffindung der günstigsten Trasse für eine Fernstraße in einer Region. Es läßt sich denken, daß die Methode auch geeignet sein könnte, um städtebauliche und stadt-ökonomische Probleme deutlich zu machen und zu lösen.

Schon längst werden Methoden der Extrapolation von Tendenzen, deren Art, Umfang und Richtung vorher auf statistischem Wege festgestellt wurden, dazu benutzt, um Voraussagen für Entwicklungen auf soziologischem und ökonomischem Gebiet zu machen. Die Gesellschaft Prognos in Zürich hat kürzlich solche Strukturuntersuchungen und Prognosen für 6 westdeutsche Großstädte durchgeführt und als Ergebnis eine starke Entwicklung des süddeutschen Raumes München-Ingolstadt für die Zukunft vorausgesagt. In entsprechender Weise empfehlen sich gründliche Untersuchungen über die Möglichkeiten und Grenzen der zeitlichen Homogenisierung: kann man z. B. die Arbeitszeiten – und damit auch den Büroschluß, der unseren Verkehrsexperten heute so viel Sorgen macht – derart über die Tag- und Nachtstunden und über Sonn- und Feiertage verteilen, daß niemand länger arbeitet, aber zu jeweils anderen Zeiten, ohne daß dabei die notwendigen Kontakte zwischen den arbeitenden Gruppen allzu sehr beeinträchtigt werden?

Eines der wichtigsten Hilfsmittel künftiger städtebaulicher Planungen wird aller Voraussicht nach die noch junge Wissenschaft von der Kybernetik sein. Ihre Möglichkeiten werden freilich davon abhängen, wieweit es gelingt, die hochgradige Unbestimmtheit des »Systems« Stadt in beschreibbare Systeme zu zerlegen und zu transformieren. Die einzige mir bekannte Architektengruppe, die zur Zeit derartige Hilfsmittel für ihre Planungen verwendet, sind die Züricher Architekten F. Schwarz, R. Gutmann und (als Soziologe) Lucius Burckhardt, zu denen inzwischen Marcel Herbst, ein Schüler des jetzt in den USA lehrenden Mathematikers Rittel, gestoßen ist. Zur Zeit plant diese Architektengruppe das Wachstum einer Gemeinde in der Region von Zürich, die jetzt 400 Einwohner hat und deren Endausbau auf 13 000 Einwohner geschätzt wird. In Stichworten seien einige der Probleme angedeutet, die das Architektenteam bei dieser Aufgabe studiert:

Wir betrachten die Siedlung als Beziehungssystem. Der Reichtum der Beziehungen – der Arbeit, des Güteraustausches, der menschlichen Kontakte – ist Reichtum überhaupt. Es liegt nicht in der Hand des Planers, die Beziehungen selbst zu planen, wohl aber, sie zu ermöglichen. Sind die Zwischenstufen des Ausbaues der Gemeinde nur Fragmente des Endzustandes? Oder findet in den Zwischenstufen eine mehrmalige fundamentale Veränderung des Charakters der Siedlung statt? Können die jeweiligen Bewohner einer Zwischenstufe über Dinge, die den Endzustand betreffen, zuverlässige Beschlüsse fassen?

Im allgemeinen betrachtet man die Dichte als Charakteristikum der Besiedlung und die Leitbilder der Siedlungspolitik beziehen sich stets auf eine wünschbare Dichte, sei es im Sinne einer »Vermenschlichung« durch Verminderung der Dichte und vermehrte Durchgrünung oder umgekehrt im Sinne der heute beliebten »Gesellschaft durch Dichte«. Dichte als solche ist aber formal ungenügend beschrieben. Wir benötigen eine genauere Kenntnis der Beziehungen zwischen Dichte und Nutzung.

Marcel Herbst stellte mit Hilfe des Konzentrationsmaßes des Mathematikers Lorenz einen Konzentrations-Dichte-Index auf, der es erlauben soll, unter Zugrundelegung der Stadt als eines »Mensch-Maschine-Systems« »mit Hilfe der Korrelations- und Regressions-Analyse Gesetzmäßigkeiten herauszufinden, die es gestatten werden, den Wachstumprozeß einer Agglomeration zu simulieren.« Das wäre ein wichtiger Schritt, um bei der Planung viel stärker, als es bislang möglich war, zukünftige Entwicklungen einzukalkulieren.

Einen weiteren Versuch, eine Theorie des Systems »Stadt« aufzustellen, unternahm im vergangenen Jahr Yona Friedmann (Paris) mit den Mitteln der formalen Logik (La theorie des systemes comprehensibles, Paris 1963). Ein wesentliches Ziel dieser Theorie, die noch in Arbeit ist, besteht darin, das »surplus raisonable«, wie Friedmann es nennt, für das Stadtsystem zu finden. Es geht um die Frage nach dem vernünftigen Mehr-Aufwand, der nötig ist, um die Forderungen nach biologischem Gleichgewicht, nach einem vernünftigen (ökonomischen) System der Verteilung und nach Mobilität und Kommunikation in einem solchen Stadt-System erfüllen zu können. Friedmann kommt zu dem Ergebnis, daß die gegenwärtige Organisation der Stadt, die Kapazität der Verteilernetze, die Ausnutzung des räumlichen Volumens u. a. nicht in der Lage seien, rational und ökonomisch zu funktionieren. Er schlägt daher die Raumstadt als neuen Stadttypus vor. Es wird interessant sein, den weiteren Verlauf dieser Arbeiten zu verfolgen, die darauf abzielen, eine Matrix zu schaffen, mit deren Hilfe wenigstens die Ökonomie (im weitesten Sinne) und der Grad der Entspannung zum augenblicklichen Stand der Technik für eine vorgeschlagene Maßnahme kontrolliert werden kann.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Der Städtebau ist heute im Begriff, seine Grundlagen mit Hilfe der verschiedenen Wissenschaftszweige neu zu entdecken. Die größten Schwierigkeiten bereitet dabei eine befriedigende Definition des Begriffs »Urbanität« – vor allem, wenn man die Einwände gegen Modelle wie etwa die Raumstadt bedenkt: Welche Planungsbehörde wird imstande sein, die erforderliche, beinahe unfaßliche Koordinationskraft aufzubringen? Wer wird sich getrauen, ihr die Legitimation dafür zu geben? Welchen Umfang werden die, mit der Verdichtung zunenmenden gegenseitigen Abhängigkeiten der Bewohner untereinander und von der Planungsbehörde annehmen? Wie kann der Gewinn an Urbanität in ein günstiges Verhältnis zu den notwendigen Reglementierungen gebracht werden? Hat die gegenwärtige Erscheinung der wuchernden Vorstädte nicht vielleicht ihren Grund vor allem in der Ratlosigkeit der Gesellschaft, die den rechtlichen und organisatorischen Fragen der Verdichtung nicht gewachsen ist und auf dem Wege des geringsten Widerstandes ins freie Feld ausweicht?

Festzustellen ist jedenfalls, daß vor allem bei der jüngeren Generation in der ganzen Welt »Urbanität« ein neues, irrational gelenktes Leitbild geworden ist – und zwar als Reaktion gegen die Begriffe der »Stadtlandschaft« und der »Schlafstädte«. Die Erscheinung selbständiger, aber ganz unterschiedlicher »Charakterbildung« von Quartieren hat junge nachdenkliche Leute in Paris, darunter den Amsterdamer Constant Nieuwenhuis, der an einem Buch über diese Fragen arbeitet, dazu gebracht, Untersuchungen anzustellen, welche Stadtquartiere sich mehr und welche sich weniger durch Stimmung, Atmosphäre, durch »Ambiente« auszeichnen, und warum. Sie haben regelrechte Landkarten mit »Ambiente-Zentren« und dazwischenliegenden Durststrecken hergestellt – mit der Forderung, das »Ambiente« zum gravierenden Bestandteil neuer Stadtplanung zu machen.

Diese Überlegungen führen immer weiter weg vom »cartesianischen« Städtebau eines Le Corbusier mit seinen isolierten Wohnmaschinen und der strikten Trennung aller Funktionen. Man hat die sterile Ordnungstätigkeit der Planer satt und will die Entwicklung der Stadt zu einem »naiven Kunstwerk« wenigstens dort zugelassen wissen, wo sie mit den Interessen der Gemeinschaft nicht in Konflikt gerät. Alle neueren Wettbewerbs-Projekte zeigen deutlich die Tendenz, durch Mischung und Konzentration von Funktionen jenes »Ambiente« zu erzeugen, das ein so spezifisches Element der Großstadt ist: Theater sollen nicht mehr als isolierte Monumente bürgerlicher Kulturpolitik im städtischen Park stehen, sondern in das pulsierende Leben der City eingebunden sein; Wohnen und Arbeiten sollen wieder verbunden werden und die Kinder nicht in isolierten Quarantäne-Zonen aufwachsen.

Vor kurzem hat Ludwig Marcuse in seiner Betrachtung »Die Großstadt, auch ein Produkt der Illusion« die Frage aufgeworfen: »Sind Großstädte auch heute noch eine Notwendigkeit?« Er sagt dazu: Gegen die Entballung sind mehrere Argumente vorgebracht worden, von denen ich eines in den Mittelpunkt rücken möchte: Es ist der sogenannte Drang zur Großstadt. Man behauptet, es könne statistisch nachgewiesen werden, daß es nicht vor allem ökonomische Motive sind, welche den Städten neue Städter zuführen.

Ist der Drang zur Stadt also eine Sehnsucht aus der Partikularität heraus? Eher eine Sehnsucht weg von dem Auf-Sich-Gestellt-Sein! Die Weltstadt ermöglicht zwar nicht das Leben in der Welt, aber das Leben im Schwärm. Sie ist ein Flucht-Ziel… Sollte sich herausstellen, daß die Menschen-Ballungen zum guten Teil genährt werden von jenem Drang… es würde Erhebliches beitragen zur Diagnose jener Wucherungen. Die Großstädte wären dann nicht Verurteilte, die am Ende unseres Jahrhunderts doppelt soviel Menschen aufnehmen müssen, sondern eine beträchtliche Summe von Krankheitsfällen.

Auf Marcuses Fragen kann man mit ziemlicher Gewißheit eines antworten: Ja, die Großstädte sind auch heute noch notwendig, und sei es nur aus ökonomischen Gründen. Gewiß sind viele Tendenzen sichtbar, die in Zukunft einmal die konzentrierte Stadt überflüssig machen könnten. Man denke an Erscheinungen wie Telefon, Radio und Fernsehen, Flugzeug und Auto, das Versandgeschäft, den Fernseh-Unterricht, von alters her die Wasser- und Stromleitung, neuerdings auch die Automation. All dies bedeutet, daß wir Dienstleistungen erhalten, Kontakte aufnehmen und an gewissen Vorgängen teilnehmen können, ohne in einer Stadt zu wohnen, weil der Anschluß an ein »Netz« (Post-Straßen-Wasser-Strom-Flug-Netz) entweder einen Ortswechsel unnötig macht oder ihn zeitlich in starker Raffung ermöglicht. Zu diesen Tendenzen der Dezentralisierung muß auch die Erscheinung der »temporären« Urbanität bestimmter Gebiete gerechnet werden: St. Moritz im Winter, Langeoog oder Norderney im Sommer, Fußballstadien etc.

Diesen Tendenzen steht indessen nicht nur die Tatsache entgegen, daß für eine Mehrzahl aller Funktionen noch kein »Netz« existiert. Hinzu kommt der durch keine neuere Entwicklung nachhaltig unterbrochene Sog der Großstadt. Das ohnehin bevölkerte Paris – ein Schreckbild für die »Auflockerer« – verzeichnete in den letzten Jahren regelmäßig einen Zuzug von 200 000 Menschen jährlich. Und eine Befragung, die im Auftrag des London County Council durchgeführt wurde, ergab folgendes: Viele der Befragten ziehen es vor, in der Nähe des Schauplatzes irgendeiner Aktivität zu wohnen. Wohnungen an einer Hauptstraße oder bei einer Schule sind deshalb so beliebt, weil dort »etwas los« ist, wohingegen eine mehr zurückgezogene Lage von 25% der dort Wohnenden bemängelt wird, weil sie sich »abgeschnitten« fühlen.

Aber noch ein anderer Aspekt sollte uns interessieren, der sich beispielsweise in der Tatsache zeigt, daß die Hochschulen der USA, die bislang dem Ideal der ländlichen Campus-Anlage huldigten, heute teilweise in die Städte zurückgehen. Man kauft im Zuge der Sanierung der Innenstädte für viel Geld Gelände zum Bau von Hochschulen – mit der Begründung, es habe sich gezeigt, daß die Isoliertheit des ländlichen Campuslebens den Studenten die Fähigkeit zum Kontakt mit dem »wirklichen Leben« nimmt.

Hier wird wieder bewußt, was von je den Charakter der Städte ausmachte: sie sind Experimentierfelder des menschlichen Zusammenlebens und als solche die Pioniere für die sozialen Probleme von morgen. Daß der beklagte Provinzialismus unseres bundesrepublikanischen Daseins zum Teil seinen Ursprung darin hat, daß seine einzige Weltstadt (Berlin) von ihrer Funktion zur Zeit beurlaubt ist, kann gar nicht oft genug betont werden. Es gibt kein europäisches Land, in dem eine solche Unzahl von Kongressen und Tagungen an den verschiedensten Orten stattfinden wie in Westdeutschland.

Und wir wissen längst, daß alle Vorzüge der Dezentralisierung nicht den Ausfall eines zentralen Ortes wettmachen, an dem die Bevölkerungsdichte den Aufbau eines aktiven »Informationsnetzes« ermöglicht – und damit überhaupt erst die Bildung eines artikulierten Gemeinbewußtseins, das zu den Voraussetzungen jeder Kultur gehört.

 


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