Merkur, Nr. 744, Mai 2011

Verführung des Absoluten. Warum wir unsere Institutionen lieber pflegen statt verachten sollten

von Uwe Volkmann

 

Mit dem Parlamentarismus in Deutschland hat es seit jeher seine eigene Bewandtnis. Die meiste Zeit über hat man ihn als eine Einrichtung anerkannt, auf die man aus praktischen Gründen nicht verzichten kann, wie ein notwendiges Übel, das seine Existenz letztlich nur dem Mangel einer besseren Alternative verdankt. Wirklich ins Herz geschlossen hat man ihn hierzulande nur selten. »Wie alles was besteht und erträglich funktioniert, ist er nützlich, nicht mehr und nicht weniger«, brachte Carl Schmitt die Sache 1926 in seiner Abhandlung Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus auf den Punkt.

Auch mit der Idee der Demokratie schien er vor allem unter dem Gesichtspunkt jener Nützlichkeit verbunden, die von Lästigkeit nicht weit entfernt ist. Wer Demokratie wollte, musste danach den Parlamentarismus in Kauf nehmen. Er galt dann aber oft nur als eine Notlösung oder Minderform von Demokratie, die hinter ihrer eigentlichen und wahren Gestalt uneinholbar zurückbleibt. Heute deutet vieles darauf hin, dass selbst dieser Zusammenhang vielen fraglich geworden ist. Volksentscheide über Rauchverbote oder Schulreformen werden als Kampfabstimmungen gegen parlamentarische Mehrheiten inszeniert, in Demonstrationen gegen Großprojekte entlädt sich offene Empörung des Volkes gegen seine gewählten Vertreter, und an den Wahlen zu den Parlamenten nehmen immer mehr Bürger gar nicht mehr teil, weil sie sich davon ohnehin nichts versprechen.

Bis in intellektuelle Kreise hinein gilt Politik in den Formen und Verfahren der repräsentativen Demokratie nun als »Monolog eines Autistenclubs«, der sich um Bürgerinteressen nicht schert, im Gegenteil die »Bürgerausschaltung« zu seinem Beruf gemacht hat und nun fürchten muss, vom »Bürgerzorn« irgendwann hinweggefegt zu werden, wie es Peter Sloterdijk in seinem Essay Der verletzte Stolz formulierte (Spiegel, 8. November 2010). Passend dazu hat die deutsche Gesellschaft für Sprache den »Wutbürger« zum Wort des Jahres gewählt; es stehe, so heißt es in der Begründung, für die Empörung in der Bevölkerung, »dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden«. Auf den zweiten Platz kam das Kürzel »Stuttgart 21«, das zugleich das wichtigste Exempel für das war, was den »Wutbürger« zu einemsolchen werden ließ. So wird der Abgrund auf den Begriff gebracht, der sich zwischen dem Volk und seinen Repräsentanten auftut. In alledem wird der Parlamentarismus mehr oder weniger deutlich in einen Gegensatz zur Demokratie gerückt, so dass er nicht Demokratie gewährleistete oder überhaupt erst ermöglichte, sondern im Gegenteil nur als eine besonders raffinierte Form ihrer Verhinderung erschiene.

Am Anfang hatte alles noch ganz anders geklungen. Als der Parlamentarismus hierzulande erstmals als reale Möglichkeit am Horizont sichtbar wurde, auf der Grundlage einer sibyllinischen Klausel in der Wiener Bundesakte von 1815, die alle Länder des Bundes auf eine »landständische Verfassung« verpflichtete, wurde er von den Machthabern und den alten Eliten gerade deshalb bekämpft, weil man darin die Vorboten der radikalen Volksherrschaft und einer neuen, demokratischen Bürgerlichkeit heraufziehen sah.

Im Auftrag Metternichs machte sich deshalb sein Hofpublizist Friedrich von Gentz in einer bis heute berühmten Streitschrift Über den Unterschied zwischen den landständischen und Repräsentativ-Verfassungen (1819) daran, jene Klausel so zu deuten und umzudeuten, dass sie möglichst wegführte von einem Repräsentativsystem, von allem, was irgendwie auch nur in die Nähe einer parlamentarischen Demokratie zu weisen schien. Jedes Repräsentativsystem, schrieb er, gründe »stets in letzter Instanz auf dem verkehrten Begriff von einer obersten Souveränität des Volkes«, es atmete gleichsam den Pesthauch der Revolution, die das »Phantom der sogenannten Volksfreiheit (d.h. der allgemeinenWillkür) an die Stelle der bürgerlichen Ordnung und Subordination«, den »Wahn allgemeiner Gleichheit der Rechte … an die Stelle der unvertilgbaren, von Gott selbst gestifteten Standes- und Rechtsunterschiede« setzen wollte.

Die Gegenbewegung trat auf im Namen des monarchischen Prinzips und von alters her überlieferter Gewalt, sie wandte sich gegen Unordnung, Chaos und Unregierbarkeit, wie sie bezeichnenderweise gerade aus der Verbindung von Parlamentarismus und Volkssouveränität, aus einem Zuviel an Mitbestimmung zu resultieren schien. Und es war gerade diese Verbindung von Volkssouveränität und Parlamentarismus, die ein parlamentarisches System für die gebildeten Stände − Künstler, liberale Publizisten und Professoren, überhaupt das politisch interessierte Bürgertum − attraktiv machten, ihn wie die Verwirklichung der seinerzeit noch bescheidenen Hoffnungen auf demokratische Teilhabe erscheinen ließen. So wie der Parlamentarismus für die alten Eliten auf diese Weise zur Folie all ihrer Ängste und Befürchtungen wurde, wurde er für das liberale, demokratisch gesinnte Bürgertum zum Leuchtstern in eine bessere Zukunft. Der Kampf für die Demokratie in Deutschland begann so wesentlich als ein Kampf für den Parlamentarismus; war dieser gewonnen, schien auch alles andere erreicht.

Man tut gut daran, sich diesen ursprünglichen Zusammenhang noch einmal in Erinnerung zu rufen, wenn man heute über den Parlamentarismus spricht. Allerdings geriet die Liebesbeziehung der Deutschen zu ihren Parlamenten mit zunehmendem Zeitablauf in die Krise, und zwar merkwürdigerweise in etwa dem Maße, in dem sich die Parlamente ihrerseits größeren Einfluss erkämpften und sich zugleich zu einer Repräsentation des gesamten Volkes hin öffneten, kurz: je deutlicher sich der Parlamentarismus seiner heutigen Gestalt annäherte. Seine historisch vielleicht größten Sympathien genoss er gerade unter den Bedingungen des monarchischen Konstitutionalismus, als die Befugnisse der Parlamente noch eng begrenzt waren und ein strenger Zensus dafür sorgte, dass das Bürgertum dort weitgehend unter sich blieb. Für dieses vermengte sich der Repräsentationsgedanke dann wie von selbst mit der emphatischen Idee einer Selbstgesetzgebung der Nation, die im Parlament gleichsam als ihr besseres Ich dargestellt war, und was man immerhin an Unzulänglichkeiten wahrnehmen konnte, mochte man darauf schieben, dass die eigentliche und wahre Parlamentsherrschaft noch gar nicht erreicht war. Viele liberale Staatsrechtler der Zeit − Karl von Rotteck, Carl Theodor Welcker, Friedrich Christoph Dahlmann − waren selbst in diesen Honoratiorenversammlungen vertreten, redeten dort mit, und was sie dort erlebten, färbte auf ihr Schreiben ab, ließ den Parlamentarismus jedes Mal in hellerem Licht erstrahlen. Doch die Begeisterung ergriff zuletzt sogar die, die von ihm weitgehend ausgeschlossen waren, nämlich die Arbeiterbewegung, soweit sie auf Reform und Evolution statt auf gewaltsame Revolution setzte. In diesem Flügel bündelte und versammelte sie ihre Kräfte gerade für den Kampf um das allgemeine Wahlrecht, erhoffte sich also die Verwirklichung ihrer Forderungen wesentlich von angemessener parlamentarischer Repräsentation. Man träumte sich gleichsam in die Parlamente hinein, in den geheiligten Innenhof der politischen Freiheit, von dem aus, wäre man nur erst dort angekommen, die soziale Frage ihrer endgültigen Lösung zugeführt und die gesellschaftlichen Güter gerechter verteilt werden könnten.

Aber was man auf diese Weise dem parlamentarischen System an wohltätigen Wirkungen zuschrieb, bezog sich dann ebenfalls weitgehend auf eine Schimäre von ihm, die umso attraktiver schien, je ferner sie in der Zukunft lag und je weniger davon in der Wirklichkeit zu sehen war. Nahm sie hier erst Gestalt an, verflüchtigten sich alsbald auch die Sympathien und wichen die Illusionen einem Gefühl von Ernüchterung und Enttäuschung. Besonders deutlich wird diese, man möchte sagen: Gesetzmäßigkeit im Kaiserreich, in dem das allgemeine und gleiche Wahlrecht zumindest auf Reichsebene durchgesetzt war und sich gerade zum Ende hin die Kräfteverhältnisse mehr und mehr zugunsten des Reichstags verschoben. Von hier aus wird der Parlamentarismus immer mehr mit Parteiengezänk und Handlungsunfähigkeit gleichgesetzt, bis er am Ende schließlich einem neuen kriegerischen Heroismus erlag, ein ganzes Volk keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche kennen wollte.

In solchen patriotischen Aufwallungen wird eine geheime Sehnsucht sichtbar, die durch das parlamentarische System, je stärker es in seiner Eigenart historisch erkennbar wird, notwendig unbefriedigt und dauerhaft uneingelöst bleibt. Diese Sehnsucht ist diffus, sie wirkt in ihren einzelnen Äußerungen oft widersprüchlich und ist vielleicht doch in ihrem Kern immer dieselbe. Sie führt weg von der Logik von Mehrheit und Minderheit, heraus aus dem Korsett der Formen und Verfahren; statt dessen geht sie auf das Ganze des Denkens und Empfindens, auf eine neue Tiefe, Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit im politischen Handeln, ein neues Absolutes, und der »Wutbürger« unserer Tage ist vielleicht nur die vorerst letzte Gestalt, die diese Sehnsucht für jedermann sichtbar auf der öffentlichen Bühne artikuliert. In ihrer historisch ersten und überlieferten Form tritt sie auf als die Sehnsucht nach einer ursprünglichen Freiheit und Herrschaftslosigkeit, nach dem Abwerfen der Fesseln, durch die der Mensch sich in der Realität gebunden sieht. Sie kostümiert sich dann typischerweise als die Forderung nach der eigentlichen und wahren Demokratie, die den Parlamentarismus vor allem wegen des Grundgedankens bekämpft, auf dem er beruht. Dieser Grundgedanke ist der der Vertretung, wie er sich seinerseits daraus ergibt, dass der Volkswille, auf dessen Realisierung es allen Demokraten ankommt, nichts Formiertes ist, keine Organisation und Struktur hat, aus der heraus er erst wirksam werden kann. Alle Lösungen des Organisationsproblems führen deshalb in mehr oder weniger deutlicher Akzentuierung auf die Notwendigkeit irgendeiner Vertretung oder repräsentativer Strukturen zurück. Im Moment der Entscheidung ist das Volk dann aber nicht mehr bei sich, statt seiner entscheiden die von ihm berufenen Vertreter, die sich von ihm theoretisch auch lösen können. Unter diesen Bedingungen kann aus Vertretung Unterordnung und aus der ursprünglich beabsichtigten Selbstherrschaft des Volkes eine Fremdherrschaft über das Volk werden.

Am klarsten hat diesen Verdacht Rousseau ausgesprochen, für den jede Form der Vertretung gleichbedeutend war mit dem Ende der politischen Freiheit überhaupt. In Vom Gesellschaftsvertrag (1762) schreibt er: »Von dem Augenblick an, wo sich ein Volk Vertreter gibt, ist es nicht mehr frei und hat im Grunde aufgehört zu existieren.« Auch das englische Volk, fährt er fort, glaube nur, frei zu sein − frei sei es nur bei der Wahl der Parlamentsmitglieder, sobald diese gewählt seien, sei es ihr Sklave. Wahre Freiheit könne es dementsprechend nur in der unmittelbaren Demokratie geben, in der das Volk in seiner substanzhaften Einheit verbleibt und am Ende so jeder Einzelne nur sich selbst gehorcht. Allen »besonderen Assoziationen« oder »Parteiungen«, die nur die Interessen Einzelner oder einzelner Gruppen vertreten, muss sein Modell deshalb eine Absage erteilen; sie verstellen nur den Zugang zum Absoluten als dem, was das Volk wahrhaft und in der ganzen Tiefe seines politischen Empfindens will. So nahm bereits die Theorie der Demokratie an ihrer Quelle die Entfremdung vorweg, die die Beziehung der Repräsentierten zu ihren Repräsentanten heute zu kennzeichnen scheint.

In Deutschland gesellte sich zu diesem Antiparlamentarismus aus tiefendemokratischer Reflexion der Widerstand aus Empfindung und Gefühl. Er verdichtet sich seinerseits zu einer neuen Sehnsucht nach Einklang und Harmonie, nach Herzensinnigkeit und Gemeinschaft, der alles Denken in repräsentativen Strukturen, überhaupt die Notwendigkeit formaler Organisation innerlich fremd bleibt. Vorgetragen wurde er vom politischen Flügel der Romantik, die dunkel das Liberalistische und Vernünftelnde der Vertretungskonstruktion empfand, sich an den Formen und Verfahren stieß, in die die Bildung und Ermittlung des Volkswillens eingezwungen wurde. Der aus England und Frankreich importierte Parlamentarismus wirkte dann mit seinen Tagesordnungs- und Verfahrensregeln, mit dem Zwang zu Absprachen und Kompromiss, überhaupt der permanenten Stimmenzählerei und dem beherrschenden Prinzip numerischer Mehrheit wie ein Sinnbild für alles, was man bekämpfte: für die Aufspaltung des Volkes in Gruppen von Interessenten statt für ästhetische, philosophische oder religiöse Einheit, für das künstlich Gemachte anstelle des »organisch« Gewachsenen, für das Regiment von Rationalität und Diskussion statt von Intuition und Phantasie, für die zweckorientierte Kodifikation des Rechts statt für die Herrschaft von Sitte und Volksmoral; hier und da mochte dunkel auch antifranzösisches oder antibritisches Ressentiment hineinspielen.

Von der Romantik inspirierte Publizisten wie Adam Müller legten auf dieser Grundlage ihre Ansichten wider das deutsche Repräsentativsystem dar oder ließen sich wie der Marburger Staatsrechtler Karl Vollgraff über Die Täuschungen des Repräsentatif-Systems aus, in denen die ganze Konstruktion zugleich als undeutsch, als etwas dem hiesigen Wesen innerlich Fremdes und Aufgepfropftes entlarvt wurde. Die substantielle Einheit des Volkes, der man stattdessen anhing, konnte ihrerseits auch in einer monarchischen Staatsform und hier vielleicht sogar besser aufgehoben sein; allenfalls war sie der Utopie der gewaltlosen Einigung aller in der Gemeinschaft (Helmuth Plessner) verpflichtet, die von innen, aus dem Gleichklang der Seelen und der Gemüter kommt und der Wahlen und Abstimmungen gar nicht erst bedarf. Das parlamentarische System mit seinem Fraktions- und Parteienbetrieb entfremdete den Menschen demgegenüber von seiner Natur, führte ihn kraft des darin wirksamen Individualismus in einen künstlichen Gegensatz zu anderen, weg von seiner Daseinsbestimmung als Glied einer Gemeinschaft, die mit sich selbst im Reinen ist.

Diese Sehnsucht nach tiefer, unverstellter Empfindung, nach Ansprache des Herzens gegen technokratische Machtausübung bleibt ein deutsches Dauerthema: die nationale Variante der Sehnsucht nach dem Unpolitischen, wie sie Thomas Mann noch während des Ersten Weltkriegs öffentlich bekannte. Als politische Kraft wirksam wird sie vor allem in der Weimarer Republik, die erstmals eine parlamentarische Demokratie vollständig − wenn auch unter ungünstigen Ausgangsbedingungen und mit manchen Konstruktionsfehlern − verwirklicht hat. Aber was ihr in den Augen vieler noch fehlt, woran sie innerlich krankt, offenbaren unfreiwillig gerade die beiden bedeutendsten Bekenntnisse, die für ihre Verteidigung formuliert wurden.

Die eine stammt von dem österreichischen, 1933 von den Nationalsozialisten in die Emigration getriebenen Staatsrechtler Hans Kelsen, die andere von Thomas Mann selbst. Dem Juristen Kelsen war vor allem daran gelegen, die Demokratie aus dem Himmel der hohen Erwartungen auf die Erde der politischen Realitäten herunterzuholen und beide miteinander zu versöhnen. Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920) war der Versuch einer Ehrenrettung aus dem Geist der Bescheidenheit, der sich nicht an Utopien, sondern ganz schlicht an Gesichtspunkten praktischer Leistungsfähigkeit orientierte. Als solcher aber bleibt er notwendig blass und formal; wenn darin der Parlamentarismus hellsichtig als »spezifisches, sozialtechnisches Mittel zur Erzeugung der staatlichen Ordnung« beschrieben wurde, als »notwendiger Kompromiss zwischen der primitivierenden Idee der politischen Freiheit und dem Prinzip differenzierter Arbeitsteilung«, so schien dies genau das kalte, seelenlose Nützlichkeitsdenken zu atmen, gegen das man andernorts bereits aufbegehrte. Den aristokratischen Antiparlamentarismus, den nicht zuletzt das gebildete Bürgertum pflegte − und selbst dort, wo es dem Weimarer Staat ansonsten durchaus Sympathien entgegenbrachte −, vermochte es damit ebenso wenig zu erreichen wie Thomas Manns vielgerühmtes Bekenntnis Von deutscher Republik (1923), die andere Verteidigungsschrift.

Auch dieses Bekenntnis bleibt, so wenig man es in seiner Bedeutung kleinreden kann, das eines »Vernunftrepublikaners« und »Herzensmonarchisten«, der der konkreten Gestalt dieser Republik wenig abzugewinnen vermag, sich im Grunde für sie auch gar nicht weiter interessiert. Im Gegenteil bleibt das Bekenntnis in seinem beherrschenden Grundzug eine Sache des Verstandes, nicht des Herzens; der ganze Gedankengang ist, wie Hermann Kurzke schreibt, darauf gerichtet, das Herz von den Einsichten des Kopfes zu überzeugen. Das Herz aber bleibt abgeneigt, und es ist bezeichnend, dass über das, was die Republik ausmacht − parlamentarische Institutionen, Parteienbetrieb, einzelne Formen und Verfahren −, kein Wort verloren wird. Die Behandlung verbleibt ganz im Ästhetischen; zwischen den Zeilen hört man immer wieder die Sehnsucht nach Gefühl und Tiefe der Empfindung heraus, die durch die Einsichten des Verstandes gerade noch in Schach gehalten wird.

Wo man demgegenüber dieser Sehnsucht stärker nachzugeben bereit war, mochte man unter den besonderen Verhältnissen von Weimar leicht an jene Grenze kommen, von der an sie umschlägt in die Sehnsucht nach der vollständigen Irrationalität. Aus Gefühl und Tiefe des Empfindens wird dann der Rausch, aus dem Spiel mit dem Ungesagten das Verlangen, sich ganz darin aufzugeben und zu verlieren. In seiner bis heute nachwirkenden Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus hat Carl Schmitt diesen Umschlag gedanklich vollzogen, Jahre bevor es mit der Republik tatsächlich zu Ende ging.

Wie sein Gewährsmann Rousseau gab sich auch Schmitt davon überzeugt, dass ein unaufhebbarer Gegensatz bestehe zwischen Parlamentarismus und Demokratie: Der Parlamentarismus, so meinte er, gehöre gar nicht in die Gedankenwelt der Demokratie, sondern in die ganz andere des Liberalismus, mit dem er durch den Glauben an die heilsame Wirkung der Konkurrenz − der ökonomischen Interessen hier, der Meinungen dort − verbunden sei. Seine tragenden Prinzipien lägen deshalb in dem »relativen Rationalismus« von Diskussion und Öffentlichkeit, der aber von den politischen Realitäten, in den Zwängen von Fraktionsbildung und -disziplin längst ad absurdum geführt sei. Der Parlamentarismus habe deshalb seine Existenzberechtigung verloren, und eine neue sei nicht in Sicht: »Dass der heutige parlamentarische Betrieb das kleinere Übel ist, dass er immer noch besser sein wird als Bolschewismus und Diktatur«, alles das waren dann nur noch »interessante und zum Teil auch richtige Erwägungen«, die aber an dem Tatbestand selbst nichts ausrichten konnten.

Am Ende der kleinen Schrift hat dann der »Mythus« seinen Auftritt, der Mythus der gewaltsamen Aktion, wie Schmitt ihn etwa im Werk eines Georges Sorel sowie − von der entgegengesetzten weltanschaulichen Grundlage aus − im italienischen Faschismus verkörpert sah: als der »stärkste Ausdruck dafür, dass der relative Rationalismus des parlamentarischen Denkens seine Evidenz verloren hat«. Als solcher entfaltet er eine Kraft und eine Ursprünglichkeit, der gegenüber sich der Parlamentarismus nicht damit begnügen könne, »nur seine Gegenfrage ›Parlamentarismus, was sonst?‹ zu wiederholen und geltend zu machen, es gebe für ihn vorläufig noch keinen Ersatz. Das«, so schließt die Schrift, »wäre ein hilfloses Argument und nicht imstande, das Zeitalter der Diskussion zu erneuern.« In diesen Sätzen ist die ganze Verachtung für den Parlamentarismus und seine Schwäche eingefangen; man hört deutlich die Sympathien für die große Empörung heraus, die das ganze verrottete System mit einem Schlag hinwegfegen möchte, ohne dass auch nur die geringste Klarheit darüber hergestellt ist, wer oder was an seine Stelle treten soll.

Von solchen Abgründen der Irrationalität ist man in unseren Tagen, gottlob, weit entfernt. Auch der moderne Wutbürger schreckt vor dieser letzten und äußersten Konsequenz seiner Wut zurück, vielleicht deshalb, weil er zugleich ein Wohlstandsbürger ist und sich dort, im Wohlstand, im Grunde ganz kommod eingerichtet hat. Heute äußert sich Irrationalität nur noch in den vereinzelten Aufwallungen derWut selbst und ansonsten in der Minderform einer allgemeinen Abneigung gegen »die da oben«, bei denen endlich einmal aufgeräumt werden muss oder denen ein Denkzettel zu verpassen ist, wozu immer dies auch am Ende gut sein mag.

Ihr zur Seite stellt sich freilich schon seit längerem, als eine weitere Spielart der Sehnsucht nach dem Absoluten, eine nicht weniger diffuse Sehnsucht nach dem Objektiven, überhaupt nach verbindlicher Orientierung, die man durch den Parlamentarismus ebenfalls und schon deshalb nicht eingelöst sieht, weil in ihm prinzipiell alles zur Diskussion gestellt werden kann. Er steht dann dafür, dass politische Fragen heute so und morgen anders, letztlich also beliebig entschieden werden können, und zwar je nachdem, wie gerade die Mehrheitsverhältnisse sind. Demgegenüber hält sich hartnäckig die Vorstellung eines objektiv, allein von der Sache her Gebotenen und Richtigen, das unabhängig davon getan werden muss, ob es zufällig die notwendige Mehrheit findet oder sich in den der Entscheidung vorausgehenden Diskussionen durchsetzen kann.

 

 

In den siebziger Jahren erschienen dazu von konservativen Autoren wie Wilhelm Hennis oder Ernst Forsthoff Schriften, deren gemeinsamer Tenor die Warnung vor einer neuartigen »Unregierbarkeit« der westlichen Demokratien war. Die demokratischen Institutionen erschienen darin weitgehend nur noch als Spielball mächtiger gesellschaftlicher Verbände und Interessengruppen, gegen die politische Programme nicht mehr durchgesetzt werden könnten; als einen der Hauptübeltäter hatte man seinerzeit die Gewerkschaften ausgemacht. Was man dadurch aber insgesamt an sein Ende kommen sah, war die Idee der Staatlichkeit überhaupt, die Vorstellung vom Staat als Verkörperung eines höheren Allgemeinen und Hüter des Gemeinwohls jenseits und oberhalb der Gruppeninteressen: Von alledem blieb zuletzt nicht mehr als eine flüchtige »Erinnerung«.

Von links wurde demgegenüber eine Transformation der Demokratie in eine Reproduktionsstätte des Kapitals beklagt: Liberal sei die repräsentative Demokratie nur im Sinne der Befreiung und Durchsetzung kapitalistischer Interessen, aber nicht im Sinne wahrhaft demokratischer Orientierung an den Interessen aller. Gemeinsam ist all diesen Diagnosen die Vorstellung, dass sich der richtige politische Wille nicht erst im politischen Prozess bildet und dort immer von neuem zu ermitteln ist, sondern er diesem Prozess vorausliegt, als ein unmittelbar Vorgegebenes und nur zu Erkennendes, das im tatsächlichen Handeln bloß aktualisiert und vollzogen werden muss. In jedem Fall aber ist es jenseits der demokratischen Formen und Verfahren zu suchen, durch die es eher verstellt als dass es darin je zu finden sein wird. Heute ist diese Sehnsucht nach dem Objektiven, nach einem vor und jenseits aller Politik Verbindlichen nicht zuletzt ablesbar in den Sympathiewerten für die Institutionen, von denen man annimmt, dass sie das Wissen darum hüten wie einen neuzeitlichen Gral. Aus ihr erklärt sich beispielsweise das enorme und immer noch zunehmende Ansehen des Bundesverfassungsgerichts, das dem politischen Betrieb in vielen Entscheidungen ein Ideal des Richtigen, Vernünftigen und Angemessenen vorhält, vor dem jede Realpolitik alt aussehen muss.

Zugleich nährt sie auf der anderen Seite wieder eine geheime Sehnsucht nach Autorität und Führung, bei der es denen, die von ihr ergriffen sind, am Ende durchaus gleichgültig ist, wohin sie geführt werden, wenn sie nur überhaupt geführt werden. Aus den offenbar durch nichts zu erschütternden Hoffnungen, die man für die Zukunft auf einen jüngeren Politiker von adeliger Herkunft setzt, ist sie ebenso herauszuhören wie aus der fast andächtigen Verehrung, mit der die breite Öffentlichkeit heute jede noch so banale Äußerung oder Welterklärung eines ehemaligen Bundeskanzlers aufnimmt. Überhaupt denkt man gern und mit Wehmut an die alten Zeiten der starken Kanzler zurück, an Kanzler, die ihre Parteien auf Kurs brachten und sich um Rücksichten auf das Parlament ebenso wenig scherten wie um ihr Geschwätz von gestern, mit dem sie eben noch die Wahlen gewonnen hatten.

Der parlamentarische Betrieb steht demgegenüber traditionell nicht für Entscheidung und Führung, sondern im Gegenteil für die Schwierigkeiten, auf die deren Realisierung stößt und die heute durch die jedes vernünftige Maß sprengenden Mitspracherechte der Länder im Bundesrat nochmals potenziert werden. Von daher erklärt sich möglicherweise auch, dass die Demokratie hierzulande solange eine recht ordentliche Reputation beim Volke genoss, wie sie nach einer älteren These der Politikwissenschaft weniger als Konkordanz- denn als »Kanzlerdemokratie« funktionierte, also der Kanzler gegen die in der Verfassung an sich angelegte Kompetenzverteilung das eigentliche Machtzentrum bildete. Das Charisma eines Adenauer oder Brandt, verbunden mit wirtschaftlichem Aufschwung und Prosperität, überstrahlte dann die kleinen Reibereien des politischen Alltags, von denen es, wenn der Eindruck nicht trügt, ohnehin in den letzten Jahren immer mehr zu geben scheint.

Demgegenüber ist das Ansehen von Politik gerade heute auf einem historischen Tiefstand angekommen, wo von einer solchen Kanzlerdemokratie, überhaupt von politischer Führung oder Richtlinienkompetenz, die diesen Namen verdient, weniger denn je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik die Rede sein kann. Aus alledem spricht ein Verlangen, an die Hand genommen und geführt zu werden durch eine Welt, die viel zu unübersichtlich geworden ist, als dass man sie mit dem knappen Zeitbudget, das dem Durchschnittsbürger für die Beschäftigung mit Politik zur Verfügung steht, auch nur einigermaßen durchschauen kann.

Wie sich diese Vorstellung eines objektiv Richtigen und Verbindlichen, zu dem politische Führung den Weg weisen soll, zu der heute allgegenwärtigen Forderung, dass »die Politiker« wieder mehr auf die Bürger hören müssten, und dem damit verbundenen Generalverdacht gegen das parlamentarische System verhält, ist nicht von vornherein klar. Möglicherweise hat das eine mit dem anderen gar nichts zu tun und jene Forderung ihren Grund in dem dazu ganz entgegengesetzten Bestreben, gerade die je eigenen Wünsche, Vorstellungen und Interessen auf die Willensbildung durchschlagen zu lassen, was immer dies für das Allgemeine bedeuten mag. Möglicherweise hängt beides aber auch auf eine unbestimmte Weise miteinander zusammen, so dass sich also die Sehnsucht nach mehr Mitsprache gerade aus der Erwartung erklärte, dass bessere, richtigere, jedenfalls andere Entscheidungen herauskommen, wenn nur erst alle und vor allem die, die es wirklich angeht, gleichmäßig zu Wort kommen. Das wäre die zeitgenössische Variante des berühmten Rousseauschen Satzes, dass der Gemeinwille immer richtig ist und nie irren kann, wenn er nur erst sachgerecht ermittelt wird und dabei das Volk wieder ganz bei sich ist.

Aus der neueren politischen Philosophie erhält diese Vermutung derzeit eine gewisse Deckung durch das Konzept der deliberativen Demokratie, das den eigentlichen und ursprünglichen Ort wieder in den Gesprächen der Bürger sieht, in ihrer diskursiven Selbstverständigung über das, was im Staat vernünftigerweise getan werden soll. Die Parlamente fungieren hier im Wesentlichen nur als Resonanzboden für eine politisch denkende und handelnde Öffentlichkeit; sie müssen nur noch in administrative Macht umsetzen, was dort in der völligen Freiheit des Geistes, entlastet von den Zwängen konkreter Kompromiss- und Entscheidungsfindung, an kommunikativer Macht erzeugt wird. Auch dahinter steht sehr klar die Hoffnung auf Gemeinwohlrichtigkeit kraft allseitiger Mitsprache, auf eine politische Wahrheit jenseits der Formen und Verfahren des parlamentarischen Betriebs. Wie der philosophisch-rationale Diskurs unter den Bedingungen allseitiger Herrschaftslosigkeit Resultate hervorbringt, die wegen ihrer Vernünftigkeit von allen akzeptiert werden können, so soll eben auch das politische Deliberieren der Bürger zu rationalen, von allen akzeptierten und deshalb richtigen Lösungsvorschlägen führen, die von den Parlamenten dann nur noch aufgesaugt und umgesetzt werden müssen.

Einen entfernten Nachhall dieser Hoffnung mag man noch in der aktuellen Konjunktur von Streitschlichtungs- und Mediationsverfahren finden, wie sie in Stuttgart gerade ausprobiert und vielfach als rühmenswertes Beispiel einer neuen demokratischen Kultur empfohlen wurden. In der Sache handelt es sich dabei um die Rückkehr des Palavers, jenes alten indianischen Rituals, dessen befriedende Wirkung am Ende zuverlässig dadurch eintrat, dass alle Beteiligten zu erschöpft waren, um noch weitere Argumente vorzubringen. Aber solange das Palaver anhielt, mochte man ihm immerhin einen Vorschuss auf die Vernünftigkeit und Autorität seines Ergebnisses einräumen und darauf vertrauen, dass aus der Formlosigkeit des permanenten Miteinanderredens die Idee eines Guten und Richtigen heraufdämmert, dem dann alle aus innerer Einsicht zu folgen bereit sind.

Bei Lichte besehen spricht dafür freilich wenig; sobald irgendwo zwischen Alternativen entschieden und die Entscheidung durchgesetzt werden muss, prallen spätestens im Vorgang der Durchsetzung die gegenläufigen Interessen wieder aufeinander, die im Gespräch nur scheinbar versöhnt waren. Auch die Entscheidungen, die nach Schweizer Vorbild im Wege der Volksgesetzgebung getroffen werden − davon wünschen sich ja viele ebenfalls mehr −, lassen deshalb notwendig Unzufriedene zurück, trennen das zuvor einheitlich gedachte Volk zuverlässig in Sieger und Verlierer, und oft finden sich unter den Verlierern gerade diejenigen, die sich von den neuen Formen unmittelbarer Demokratie eine Erziehung der Bürger zu höherer politischer Reife, vielleicht auch einfach nur die erleichterte Durchsetzung ihrer eigenen Vorstellungen versprochen hatten. Und was die Emanationen einer politischen Öffentlichkeit anbelangt, auf denen die Anhänger der deliberativen Demokratie ihre Welt einer heilen politischen Ordnung errichten, so sind gerade sie angewiesen auf einen Überbau in Gestalt der verfassten Organe, der an sie anschließen muss und ohne den sie letztlich folgenlos bleiben.

Misst man den Parlamentarismus in der Bundesrepublik daran, wie er diesen Anschluss bewerkstelligt, funktioniert er freilich heute eher zu gut als zu schlecht. Parlamente, Parteien und Regierungen haben ihr Ohr nah wie nie zuvor am Puls des Volkes und seinen Ausschlägen; sie erscheinen längst als Getriebene einer Demoskopie, die im Wochenrhythmus ihre Umfrageergebnisse in immer neuen Polit- und Stimmungsbarometern veröffentlicht, und so passen sie sich dem Auf und Ab der Stimmungen an. Im Grunde leben wir deshalb bereits in einer Form der unmittelbaren Demokratie, nur dass eben das Volk nicht punktuell zu einzelnen besonders ausgewählten Themen um seine Meinung gefragt wird, sondern in Permanenz und zu allem und jedem.

Auch die Parlamente arbeiten unter diesem Blickwinkel so demokratisch und bürgernah wie wohl nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. In einer Ironie, die von Tragik nicht frei ist, trägt dies aber keineswegs dazu bei, dass sich ihr Ansehen oder das der Politik überhaupt dadurch in irgendeiner Weise verbessert; im Gegenteil verstärkt es nur das allgemeine Unbehagen gegenüber dem politischen System, weil es dem handelnden Personal nun auch zusätzlich zu allem Übrigen den Vorwurf einträgt, dass es zur Bildung eines eigenen Standpunkts unfähig oder, wo es doch einmal geschieht, anschließend nicht einmal in der Lage ist, dazu auch zu stehen. Dieselbe Öffentlichkeit, deren immer rascheren und medial angeheizten Stimmungsumschlägen die Politik so sorgfältig zu folgen bedacht ist, verachtet sie dann auch noch für ihre Rückgratlosigkeit.

Dem offenbar tief verwurzelten Verlangen nach der Urdemokratie, dem Einigsein der Herzen jenseits aller Formen und Verfahren, entkommt der Parlamentarismus unter diesen Bedingungen offenbar nicht dadurch, dass er jene so weit wie möglich zu imitieren versucht. Im Gegenteil liegt die vielleicht beste Begründung für ihn, möglicherweise sogar seine eigentliche Existenzberechtigung aus heutiger Sicht darin, dass er gegen all diese Sehnsüchte einen realistischen Sinn für das Machbare behauptet, als einer Vorstellung davon, was Demokratie unter den Bedingungen einer modernen Massengesellschaft leisten kann − und was sie nicht leisten kann. Was sie leistet und leisten kann, ist das tägliche Ausverhandeln und der Abgleich von Interessen, von denen unter dem vorherrschenden Grundprinzip demokratischer Gleichheit keine einen natürlichen Vorrang beanspruchen kann.

Was sie nicht leisten kann, ist hingegen, die Unterschiedlichkeit dieser Interessen zum Verschwinden zu bringen. Beriefe man nur einmal den Wutbürger, der sich darüber empört, dass eine Entscheidung über seinen Kopf hinweg getroffen werde, selbst und unmittelbar zu dieser Entscheidung, träfe er schnell auf andere Wutbürger, die die Sache ganz anders sehen, mit unabsehbaren Folgen. Insofern erinnert uns der Parlamentarismus immer von neuem daran, dass wir uns mit anderen arrangieren müssen, um Lösungen für Probleme zu finden, die uns alle betreffen. Zugleich steht er dafür, dass diese Lösungen nicht vom Himmel fallen, als warte dort ein Verborgenes, ein reiner politischer Wille auf seinen Einsatz, der von den Kundigen durch den Blick hinauf erkannt und bloß noch umgesetzt werden muss. Nichts wartet auf seinen Einsatz. Die Lösungen sind kompliziert, siemüssen in zähem Ringen entwickelt werden, immer werden andere eine bessere Lösung behaupten, und bei vielen Problemen zeigt sich, dass wir gar keine haben.

Gerade auf die demokratischen Grundfragen unserer Zeit, die Verflüssigung von Entscheidungszuständigkeiten in transnationalen Räumen und die Rückeroberung des Primats der Politik gegen eine entfesselte Ökonomie, haben auch die Experten keine Antwort parat. Möglicherweise resultiert die Abneigung, die dem parlamentarischen System derzeit entgegenschlägt, deshalb zu einem guten Teil auch daraus, dass wir in seinen Formen und Verfahren, in seinen Ritualen und Selbstblockaden unserer eigenen Unzulänglichkeit begegnen. Jeder, der einmal in Sportvereinen, Kirchenvorständen, gerichtlichen Spruchkörpern oder wissenschaftlichen Gremien tätig war, kann ein Lied davon singen, wie schwer die Entscheidungsbildung ist, welche Animositäten und persönlichen Eitelkeiten überwunden werden müssen, um zu einem präsentablen Ergebnis zu kommen, und das bei oft ganz einfachen und nach klaren Maßstäben zu handhabenden Fragen. Für die Politik hingegen hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass es dort besser, jedenfalls anders zugehen muss als in der wirklichen Welt, dass dort eine höhere Weisheit zu regieren hat, die nur gerade von den derzeitigen Amtsträgern nicht verkörpert wird.

Der Parlamentarismus lehrt uns, dass wir uns darüber besser keine Illusionen machen, und dass er uns von diesen Illusionen befreit, ist vielleicht sein größtes und eigentliches Verdienst. Zugleich ist es aber auch die Hypothek, an der er, solange es ihn gibt, zu tragen haben wird. Gegen die unstillbare Sehnsucht nach der besten aller demokratischen Welten behauptet er sich als eine durch und durch pragmatische Einrichtung, ein System des mittleren Maßes und erfüllt von jener angenehmen Mittelmäßigkeit, die aus uns selber kommt. Wir sollten ihn besser pflegen statt verachten.