Merkur, Nr. 92, Oktober 1955

Jeder Mensch ist unbezahlbar

von Jürgen Habermas

Zufällig erschienen zwei Broschüren gleichzeitig auf dem Markt: Max Benses Traktat über „Descartes und die Folgen“ (Aegis-Verlag, Baden 1955) und Eugen Rosenstock-Huessys Essay „Der unbezahlbare Mensch“ (Käthe Vogt-Verlag, Berlin 1955). Auf den ersten Blick haben die beiden Schriften nicht viel miteinander zu tun; beim näheren Zusehen bemerkt man indes, daß sie einander zugehören, so wie ein Extrem dem anderen. Sie entfalten die aktuelle — das sei ausdrücklich gegen die Ausrufer des utopielosen Zeitalters gesagt —, die immer noch aktuelle Kontrapunktik des radikal fortschrittlichen und des radikal (nicht reaktionär) konservativen Geistes. Beide Autoren teilen übrigens das Schicksal einer gewissen politischen Verlorenheit insoweit, als sie sich keinen politisch wirksamen Ausdruck verschaffen können.

Die Folie solcher Gemeinsamkeit verschärft jedoch nur den Kontrast. Biographisch gesprochen: der eine lehrt Philosophie an der Technischen Hochschule in Stuttgart, der andere züchtet Pferde in dem kleinen Dorf Vermont, USA. Der eine ist Herausgeber der mit Abstand aggressivsten Zeitschrift in Westdeutschland, der andere war Inspirator und Instrukteur deutscher und amerikanischer Arbeitsdienstlager. Beide polemisieren gegen die „westdeutsche Restaurationspolitik“ (Rosenstock), aber der eine meint die Remythologisierung des Geistes, der andere die Rationalisierung der Arbeit.

Im Vorwort, des einen heißt es: „Der eingeleitete Zerfall der intelligiblen Sphäre unsrer technischen Welt mit Hilfe einer Mythologisierung einer metaphysischen Lage des Menschen hat gerade jene Regression ethischer und ästhetischer Wahrnehmung zur Folge, mit deren Erinnerung die Restauration beständig ihren Verdacht anmeldet“; im Vorwort des anderen: „Ich wagte zu hoffen, die unsangbarste aller Lehren, die von der Nationalökonomie, für dich in eine sangbare Schrift umzugießen; ,Die Wirtschaft der Lebensalter‘ sollte sie heißen, und seit dreißig Jahren hat sie mir vorgeschwebt“. — Die Gegner des einen sind die, die alles hassen, was noch nicht lange besteht, die neue Titel und neue Ideen herabsetzen. Die Gegner des andern sind: Robinson Crusoe, Emile, der Liberale, der cartesische Denker und der Normalmensch; so heißt es wörtlich in buntscheckiger Aufzählung.

Es ist mit Sicherheit zu erwarten, daß sie, würden sie sich kennen, Gegner wären; aber sie würden sich wohl kaum verstehen. Ihr Thema ist das gleiche, nur von verschiedenen Seiten angesehen und auf verschiedenen Feldern aufgesucht: die Ausbeutung. Bense bezieht sich auf geistige, Rosenstock auf materielle Ausbeutung; auf die Ausbeutung des ideologisch gelähmten Willens und der dogmatisch gefesselten Intelligenz der eine, auf die Ausbeutung der Arbeitskraft in der Fabrik der andere. Bense kennt beide Arten „essentieller Verluste“: Destruktion der Wahrheit und der Wirklichkeit. Die Zerstörung des Geistes ist ein Prozeß, der sich nicht sogleich vollendet, sondern lange Strecken der Halbwahrheit durchläuft: Scheinwahrheiten, Konventionen, Dogmen, Meinungen und Ideologien geben sich immer noch den Anschein der Rationalität.

Mit der Zerstörung der Wirklichkeit ist hingegen jene Art Verletzung der vitalen und emotionalen Zonen unseres Daseins gemeint, die seit Marx immer wieder unter den besonderen Bedingungen der Industriearbeit beobachtet wurde.

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