Merkur, Nr. 216, März 1966

War ich ein Nazi?

von Wolfgang Weyrauch

 

Ich frage mich: war ich einer davon? (die Frage belegt, daß ich einer war)

im ersten Jahr besuchte ich meine Eltern, wir gingen spazieren, es war mitten am Tag, also konnte man erkennen, wen man traf, trotzdem sagten die Eltern Herrn und Frau M. nicht Guten Tag, als die beiden grüßten, ich war verwundert, drehte mich nach den M.’s um, im selben Augenblick sahen sie auch zurück, wir nickten uns zu, aber auch ich sagte nicht Guten Tag, die Eltern gingen rascher, ich mit ihnen, fast flohen sie, erst als wir zuhause waren, fragte ich, obwohl ich Bescheid wußte, was ist los, Juden, antworteten die Eltern, aber Ihr wart beinah befreundet, sagte ich, nie, erwiderten sie, und wenn, das muß jetzt aufhören, es ist nicht recht, sagte ich, es ist gefährlich, riefen sie, es geht vorbei, sagte ich, als wüßte ich es, sicher, entgegneten sie, aber bis dahin, ich war nicht einverstanden und ich widersprach nicht, ich schämte mich meiner Eltern, aber nicht vor mir selbst, ich tat so, als gehörte ich nicht dazu (also gehörte ich dazu)

im ersten Jahr, bald danach, nicht mehr in F., sondern schon in B., wohin ich flüchtete, einer zwischen die Millionen, weil mir jemand von der demokratischen Zeitung mitteilte, es wäre besser, vorläufig nichts von mir zu drucken, verschlief ich die Nacht, in der die Bücher verbrannt wurden, ganz nah, am L.-Platz, unter dem Geheul von Studenten, aber auch das weckte mich nicht, erst früh am Morgen, als aus den Sätzen Asche geworden war, holten mich SA und Polizei aus dem Schlaf, sie suchten, wie in jeder Wohnung der Siedlung, wo nur Leute wie ich wohnten, Bücher, die aus der Art geschlagen waren, sie durchstachen Matratzen, drohten, mich mitzunehmen, sie ließen mich, wo ich war, denn sie fanden nichts, ich war froh darüber (ich verachtete sie, statt mich zu verachten)

im zweiten Jahr erschien, bei R., mein erstes Buch, ich hatte Mitglied der RSchK werden müssen, wie jeder andre, falls er nicht auf den Gedanken kam, mit dem Schreiben auszusetzen, bis alles vorbei wäre, ich kam nicht darauf, schrieb Unterschriften zu Bildgeschichten in Magazinen, erst anonym, dann pseudonym, und hielt mir noch etwas darauf zugute, daß so wenig dabei heraussprang, oft hatte ich nicht das Geld für Brot und Käse, dann kletterte ich immer wieder in denselben Keller hinunter, um Bücher zu verkaufen, der Antiquar und ich sagten weder Guten Tag noch Aufwiedersehn zueinander, nur tun den deutschen Gruß nicht zu grüßen, keiner wollte sich vor dem andern schämen, und keiner wollte sich dem andern ausliefern (je geringer die Tapferkeit, auf die ich verzichtete, um so größer wurde der Verrat an mir selbst)

im dritten Jahr fuhr ich einmal mit einem Weinhändler an die Grenze, er hatte drüben zu tun, ich ging mit bis zur Holzbrücke, hier war das eine, das gute, wie man schrie, das böse, wie man merkte, dort war das andre, von dem gewispert wurde, daß es besser wäre, ich zweifelte nicht daran, ich faßte unabsichtlich das Holz der Brücke, das Holz war andres Holz, ich bilde es mir nicht ein, es gehörte zu mir, wie ich zu ihm gehörte, ich hätte mich nur am Geländer weiterzuhangeln brauchen, als Teilnehmer des kleinen Grenzverkehrs, aber ich ließ es sein, ich hatte Angst, was würde am andern Ende der Brücke aus mir werden (in diesem Augenblick erkannte ich, daß ich nicht zu sein wagte, was ich war, und was ich also nicht war)

im dritten Jahr, bald danach, lernte ich vor einer Telephonzelle ein Mädchen kennen, wir aßen zu Abend, in einer Weinstube des Zeitungsviertels, ich spürte den Fuß des Mädchens an meinem Bein, also waren wir uns einig, im nächsten Augenblick machte sie das Kettchen von ihrem Hals ab, ich sah den Anhänger, ein jüdisches Zeichen, dessen Namen ich  vergessen habe, jetzt ist es aus, sagte sie, bevor es angefangen hat, nein, antwortete ich, jetzt hat es erst recht angefangen, es ist verboten, sagte sie, es geht uns nichts an, erwiderte ich, wir wurden Freunde, das Mädchen kam und ging nur in den Nächten, das ging so ein paar Monate gut, dann erschien ein Schatten vor dem Haus, es war die Mutter, erst konnte sie nicht reden, so weinte sie, allmählich wurden aus Wörtern Sätze, ach, bitte, lassen Sie mein Kind in Frieden, sonst gibt es ein Unglück, Sie müssen mir versprechen, daß Ihr Euch nicht mehr seht, ich versprach es, hielt aber das Versprechen nicht, bis das Mädchen eines Tages nicht mehr kam (ich erkundigte mich nicht, was aus ihr geworden war)

im vierten Jahr schrieb ich in der letzten halbdemokratischen Zeitung in B. über die Olympiade, aber von außen her, einmal stellte ich die Reaktionen in einem Dorf dar, jeder Bauer wußte, daß die Olympiade stattfand, aber keiner hatte sein Radio angestellt, ich beschrieb die Teilnahmslosigkeit, wie es denn überhaupt im Sinn von Sch. war, das Blatt zu schizophrenisieren, in der Politik redigierte er so, daß die Zeitung grade eben noch dem Verbot entging, im Feuilleton ließ er die Mitarbeiter so frei wie möglich schweifen, ich sollte über ein imaginäres Land berichten, aber ich machte nichts daraus, keine negative Spiegelung des Staats, an den ich mich gewöhnt hatte, keine Utopie einer Verfassung, die der damaligen widerspräche, ihr wenigstens nicht entspräche, und keiner bemerkt es, so rechtens ist sie – dafür untersuchte ich in einer Wochenzeitung die Frage, ob öffentliche Küsse gehörig oder ungehörig wären (ich wollte ein Narr sein und war ein Hofnarr)

im fünften Jahr lernte ich zwei Männer der Literatur gut kennen, S. und F., F. war ein Clown, er lachte die Herrschenden aus und erlaubte uns, die wir in seine Redaktion kamen, an seinem Grinsen oder Gelächter teilzunehmen, aber er lachte nur hinter der vorgehaltenen Hand, er stimmte zu, wenn er die Hand herunternahm, S. dagegen lachte nicht, da gab es nichts zu lachen, er erkannte und teilte es mir mit, daß aus dem Winzigen das Ungeheure werden kann, zumal bei Leuten, die schreiben, aus einem Buchstaben ein Wort, aus einem Wort ein Satz, aus einem Satz, wenn er vernommen wird, eine Aktion . . . und daß, umgekehrt, auch das Ungeheure, besonders wenn es von Ungeheuern stammt, winzig werden kann, winzig, zum Beispiel, durch den winzigen Buchstaben, nein, besonders durch ihn – F. sagte, Sie sind ein Literat, damit kommen Sie nicht weiter, besser wäre es für Sie, wenn Sie die Literatur ver-anekdotisierten, S. sagte, schreiben Sie nichts, oder, falls es nicht anders geht, schreiben Sie so, und so, leeren Sie aus, was Sie an Mittlerem in sich haben, das wäre für die Harpyen noch viel zu gut, und bereiten Sie das andre Schreiben, für die Zeit hinterher, dadurch vor, daß Sie üben und üben, verwerfen und wegwerfen und von vorn anfangen, als hätten Sie noch nie ein Wort geschrieben (ich wechselte, immer wieder, von S. zu F., von F. zu S., ich war ein Schriftsteller, und ich war keiner, erst später erkannte ich, wieviel auch dies, grade dies, mit meinem Ja und Nein und Nicht in jenen Jahren zu tun hatte)

im sechsten Jahr machte ich so weiter, lau und introvertiert (Nicht-Handlungen können wie Handlungen sein)

im siebten Jahr fuhr ich nach W., ausnahmsweise vom P.-Bahnhof statt vom A.-Bahnhof, der Beamte am Schalter meinte, der A.-Bahnhof wäre für Truppentransporte gesperrt, Truppen, Transporte, ich glaubte, daß ich mich unter einem Alb befände, stand nicht alles auf dem Kopf, ich selber mit, und wenn wir eines Tages wieder auf die Füße zu fallen versuchten, hätten wir gar keine, und wir müßten am Stecken gehen, die Stimme schrie es ja, die mit dem Zug fuhr, über jeder Station schrie sie, wo wir hielten, schließlich kam ich in W. an, ich hamsterte, es gehörte dazu, es war alles so still wie auf dem Kirchhof, wieso war es so stumm, versagten die Apparate in W., oder hatte die Stimme einen Bruch, war sie schon am Ende, ich Tor, sie hatte grade erst angefangen, sie holte nur Luft, dafür marschierte die Haselnuß, die schwarzbraune, von der ich, als Pfadfinder, so oft gesungen hatte, alles war längst vorbereitet, die Verführung hatten wir selbst erzeugt, die Verführer perfektionierten sie nur (endlich dachte ich einen richtigen Gedanken, aber zur falschen Zeit)

im achten Jahr holten sie mich zu den Grauen, die, wie ich, darauf verzichtet hatten, den Braunen den Garaus zu machen, im sechsten Jahr hatte ich Gottseidank gesagt, als der Herr mit dem Schirm zum Nachtmahr flog und mit ihm den Frieden von M. machte, im siebten Jahr hatte ich Heilhitler gesagt, als mich der Fahrstuhlführer im Zeitungsverlag, wo ich auf Charme geschminkte Buchbesprechungen schrieb, fragte, warum ich nicht mit dem deutschen Gruß grüßte, im achten Jahr, als Rekrut, sagte ich Ja, zusammen mit den andern, bei der Vereidigung, ich weiß nicht, was schlimmer war, das Gottseidank, das Heilhitler oder das Ja, die Frage ist wohl falsch gestellt, man muß die drei Wörter zusammen nehmen, eine Summe aus ihnen ziehen, aus ihrem Vordergrund, aus ihrem Hintergrund (nun trug ich drei Hakenkreuze, am Käppi, auf der Brust, am Koppel)

im neunten Jahr ließ ich mich, beim Flugwachkommando, vom Dienst verschlucken, vom Auswerten und Weitergeben der Meldungen, unbekannte Flugzeuggeräusche in H2, weiter nach H9 (ich schoß nicht, aber ich veranlaßte, daß andre schössen)

im zehnten Jahr machte ich so weiter (jetzt waren Nicht-Handlungen zu Handlungen geworden)

im elften Jahr veröffentlichte ich eine Geschichte in der Wochenzeitung, die, es war mir bekannt, der Hinkende herausgab, ich tat es trotzdem, ich wollte als Schreibender überleben, so wie ich als Soldat überleben wollte, solipsistisch, wie ich war, fand ich nicht heraus, daß, nach dem Ende der Wölfe, alles ganz von vorn anfangen müßte, nicht im Sinn des Überlebens, es geschah mir ganz recht, daß ich eine Quittung dafür bekam, wenn auch aus der falschen Ecke, jene Geschichte, die von einem irr gewordenen Bauern handelte, wurde beanstandet, denn deutsche Bauern werden nicht vom Wahn ergriffen, ich wurde mit einem Funktionär konfrontiert, er drohte, dann wollte er wissen, wie ich zum Nationalsozialismus stünde, ich überlegte, kalkulierte, dachte, wenn ich ihm die Wahrheit sage, ist es aus mit mir, wenn ich lüge, beflecke ich mich noch mehr als bisher, also sagte ich, loyal, das ist aber auch das mindeste, was wir erwarten können, erwiderte er (indem ich aus etwas nichts machte, verhinderte ich, daß aus einem Niemand ein Jemand wurde)

im zwölften Jahr freundete ich mich mit einem Offizier an, V. befehligte die Dienststelle, zu der ich gehörte, er war ein Ehrenmann, erst nach dem Krieg erfuhr ich, daß er PG gewesen war, er weihte mich in zwei Pläne ein, die er listig, human und tapfer ausführte, soweit er es vermochte, erstens entzog er einen Soldaten, der für einen Kommunisten galt, den Nachstellungen des Kompanieführers, indem er ihn ins Gelände der Invasion schickte, da wäre es ihm möglich, überzulaufen (ich schaute zu, statt mitzumachen), zweitens rettete er einen Oberleutnant, der es satt hatte, und ließ ihn eines Nachts verschwinden, als er aber in der nächsten zurückkehrte, lächelnd, um sein Zittern zu verbergen, er war nicht durchgekommen, empfing ihn V., als hätte er sich nie entfernt, lächelte zurück (ich schaute weg, statt mitzulächeln)

im dreizehnten Jahr, die Russen hatten B. schon eingeschlossen, stand in der letzten Nummer des »Reich« ein Aufsatz von mir, was heißt, er stand, ich hatte ihn hingeschickt, er zitierte das Gedicht Hölderlins »Der Tod fürs Vaterland«, er forderte, was heißt, er forderte, ich forderte zum Widerstand auf, nicht gegen H., sondern gegen die, welche uns von ihm befreien wollten, dies ist der äußerste Punkt, zu dem ich gelangt bin, er kann nur, falls es für mich ein Omega gibt, durch den andern äußersten Punkt, den ich erleben werde, ausgestrichen werden, da hilft es nichts, daß mir, 46, ein sowjetischer Offizier sagte, Du warst ein Tiroler, die Tiroler haßten den Kaiser in Wien, aber als die Truppen Napoleons einmarschierten, warfen sie ihnen Steine auf die Köpfe, da hilft es ganz und gar nichts, daß mir, später, ein Russenfeind einzureden versuchte, ich hätte zum Widerstand ausschließlich gegen die Sowjets aufgerufen, er wollte wohl, daß ich das bliebe, was ich zwölf Jahre lang gewesen war, ein X. und ein U., kein W. (ich antwortete mir: ich war einer davon)