Merkur Nr. 478, Dezember 1988

Eine Konföderation in der Mitte Europas?

von Adam Krzemiński

 

Die Zeiten, die jetzt anbrechen, sind gleichermaßen günstig für Pragmatiker wie für Visionäre. Zu dieser Ansicht kann man gelangen, wenn man der raschen Annäherung zwischen Russen und Amerikanern zusieht und Gorbatschows Buch[1. Michail Gorbatschow, Perestroika. Die zweite russische Revolution. München: Droemer 1987] über Perestroika und »Neues Denken« liest, das seit vielen Monaten Spitzenpositionen auf westlichen Bestsellerlisten einnimmt und dem Autor auch während seines Polenbesuchs gern zum Signieren vorgelegt wurde. Der Bedarf an »Neuem Denken« hat den Dialog zwischen Ost und West belebt und regt dazu an, gemeinsam Varianten einer möglichen Zukunft zu skizzieren.

Gorbatschow zeichnet das Bild einer interdependenten Welt, in der die traditionellen — von den Imperialismen des 19. Jahrhunderts geerbten — Einflußsphären durch komplizierte Systeme wechselseitiger Bindungen und Diffusionen ersetzt werden. Das »Neue Denken« ist weder ein Dogma noch ein geschlossenes theoretisches Modell, sondern eine Methode zur Suche nach gemeinsamen Lösungen, für uns in Europa — nach der Architektur jenes »gemeinsamen europäischen Hauses«, einer bisher noch recht vagen Vision, die sich die Überwindung der archaischen Blockkonfrontation zum Ziel gesetzt hat.

Gorbatschows Überlegungen zu Europa fußen auf vier Prämissen: Die UdSSR ist ein Teil Europas, auch im Hinblick auf die christliche Tradition der Rus; Jalta und Potsdam bilden das Fundament der europäischen Nachkriegsordnung; die Teilung unseres Kontinents ist auf das »alte Denken« derer zurückzuführen, die »zu einer Revision der Grenzen zwischen den europäischen Staaten und zur Infragestellung der territorialen und politischen Realitäten aufrufen«; die Teilung ist nicht ewig, und es gilt, die »Auflösung aller militärischen Gruppierungen« anzustreben.

Wie bei de Gaulle reicht Gorbatschows Europa »vom Atlantik bis zum Ural«. Die Sowjetunion gehört somit quasi zwei Zonen an, und dasselbe könnte man auch von den Vereinigten Staaten sagen, die Teil des atlantischen und des pazifischen Raumes zugleich sind, wie von jedem europäischen Staat, der seine Verankerung im Osten oder Westen durch Aktivität am gegenüberliegenden Azimut ausgleichen will.

Unter den Westdeutschen rief Gorbatschows Buch lebhafte Reaktionen hervor. Egon Bahr schrieb eine Antwort auf Gorbatschow[1. Egon Bahr, Zum europäischen Frieden. Eine Antwort auf Gorbatschow. Berlin: Siedler 1988.], in der er u.a. sein Konzept gemeinsamer Sicherheit weiterentwickelte, das er im vergangenen Jahr auch den Lesern der Polityka vorgestellt hat: »Sicherheit kann uns also zu dem point of no return bringen … Was Gorbatschow anbietet, ist die Befreiung Europas und der Welt von der Möglichkeit militärischer Bedrohung durch die Sowjetunion. Was will der Westen mehr? … Die vitalen Interessen Europas gestatten keine andere Antwort an Gorbatschow als ein Ja zum Neuen Denken und ein Ja zur gemeinsamen Sicherheit.« Eines stehe jedoch fest: »Wer über Europa nachdenkt, kommt nicht an Deutschland vorbei. Nicht einmal die Teilung dieses >großen Volkes< in der Mitte des Kontinents, wie de Gaulle formuliert hat, hat das Problem für Europa gelöst, wenn Europa nach seiner Identität sucht. Die in Paris so gern gehörte Forderung nach einer Überwindung Jaltas verstummt augenblicklich, wenn auch noch so unberechtigte Sorgen vor einer Annäherung der beiden deutschen Staaten aufkommen. Polen tut sich da trotz seines europäischen Bewußtseins nicht leichter.«

Ohne die Deutschen kann man in Europa zwar viel beschließen, aber wenig tun, folgert Bahr, und führt als Beleg u.a. den Grundlagenvertrag von 1972 an, der den Weg zur KSZE freigemacht habe. Gleichzeitig polemisiert Bahr gegen diejenigen, die nach wie vor meinen, »durch Übergangslösungen die Einheit in überschaubarer Zeit erreichen zu können«. Helsinki habe gezeigt: »Gesamteuropäische Prozesse sind nur auf der Grundlage der deutschen Teilung zu vereinbaren«, denn so wenig damals die deutsche Einheit eine Voraussetzung für die Annäherung zwischen den Europäern aus Ost und West gewesen sei, so wenig sei sie es heute für den Entspannungs- und Abrüstungsprozeß.

»Franzosen, Polen und andere Nachbarn brauchen keine Sorge zu haben. Die gegenwärtige Diskussion folgt eher der Umkehrung des Satzes: Nicht davon sprechen, immer daran denken.« Was heißt das? Daß im Gerede von der Wiedervereinigung viel Frustration und Sarkasmus steckt, doch auch die Überzeugung, daß die Deutschen aus eigener Kraft nicht imstande sind und sein werden, die Einheit zu erlangen. Das von der Vergangenheit geprägte »Vielleicht doch noch« habe nur den Blick darauf verstellt, »daß die deutschen Chancen, auch für die Menschen, nur in der Teilung gesucht werden können, also durch die und mit den beiden Staaten«. Aus dem Nachteil der Teilung sollten die Deutschen einen Vorteil im Interesse Europas machen, sie »können etwas tun, damit von der Mitte Frieden ausgeht. Sie haben keine Rolle als Mittler, als Wanderer zwischen den Welten, aber sie haben eine Rolle als Mitte. In dieser europäischen Identität entscheidet sich die Zukunft der Deutschen.«

Und wie sehen vor diesem Hintergrund nun die Gespräche der Deutschen mit den Russen über die Zukunft Europas aus? Jahrhunderte hindurch war das Polens Alptraum … Heute können wir Begegnungen zwischen Historikern und maßgeblichen außenpolitischen Beratern beider Länder am Bildschirm verfolgen oder die Protokolle ihrer Diskussionen nachlesen, wie die des »Bergedorfer Gesprächskreises« 1987 in Moskau, bei dem neben aktuellen politischen Problemen auch der historische Kontext der deutschsowjetischen Beziehungen besprochen wurde. Gleich zu Beginn bemühte ZK-Mitglied Wadim Sagladin Rapallo als Beispiel einer Politik, die zu einer Klimaverbesserung in Europa beigetragen hätte.

Nun ist Rapallo von Warschau oder Paris betrachtet ein wenig verlockendes Modell deutsch-sowjetischen Einklangs, und es ist bemerkenswert, daß der konservative deutsche Historiker Michael Stürmer ganz deutlich von dieser preußisch-russischen Tradition mit ihren antipolnischen Tendenzen abrückte. Heute führe kein Weg zurück zu Rapallo, diese Elemente der russisch-deutschen Beziehungen seien im Hinblick auf die Vorgeschichte und Geschichte des Zweiten Weltkriegs historisch verbraucht. Aber nicht die Vergangenheit stand im Mittelpunkt jener Gesprächsrunde, sondern die Zukunft: zum Beispiel die Möglichkeit einer europäischen Union zwischen Ost und West. Die Russen hatten Bedenken, denn man wisse aus der Geschichte, daß Bündnisse immer gegen jemanden geschlossen werden. Wenn das Ziel einer Union aber nicht in der Ausgrenzung bestünde, was dann?

Die Suche nach neuen Modellen ist heute universell. In Polen kann man die weitestgehenden Konzepte in den sogenannten unabhängigen Kreisen antreffen. Hier nun eines von ihnen, das der Journalist Artur Hajnicz 1987 während des Seminars »Polen in Europa«, in der Heiligen-Dreifaltigkeitskirche in Warschau formulierte. Seine Hauptthese lautet: »Die polnische Staatsraison verlangt, daß sich Polen vom Nachkriegsstatus des >Jalta-Staats< befreit und den Status eines normalen europäischen Staates erlangt.

Es geht also darum, sich — in Zusammenarbeit mit Ost und West — gleichzeitig vom Syndrom und Komplex der deutschen Bedrohung und des sowjetischen Protektorats zu befreien. Die polnische Staatsraison verlangt eine Versöhnung mit den Deutschen und eine Versöhnung mit den Russen, nicht zu verwechseln mit dem stalinistischen Begriff der  >Freundschaft und Hilfe<. Denn Versöhnung ist ein langer historischer und sozialpsychologischer Prozeß, er kann nicht ohne die Mitwirkung authentischer Kräfte und gesellschaftlicher Autoritäten von den Behörden dekretiert werden. Die polnische Staatsraison bezieht sich selbstverständlich auf das bestehende Staatsgebiet und verlangt einen Verzicht auf bisherige Ressentiments auch von der Gesellschaft selbst. So formuliert, ist das polnische Staatsinteresse unseres Erachtens außerund überparteilich.«

Noch vor kurzem hätten einige Formulierungen dieses Textes wie Majestätsbeleidigung geklungen, zumindest die über die Notwendigkeit, sich von dem Status des »Jalta-Staats« zu befreien, als wäre Jalta nicht die Grundlage der Nachkriegsordnung und gesicherter Grenzen. Man kann diese Passage aber auch anders verstehen, als Gebot, Jalta vom stalinistischen Geist in den internationalen Beziehungen zu befreien, wie das aus den kritischen Bewertungen der sowjetischen Außenpolitik in der Sowjetunion selbst[1. Vgl. etwa die Äußerungen des Regierungsberaters Daschitschew gegenüber dem Spiegel (Nr. 27, 1988).] und den Diskussionen über die »Breschnew-Doktrin« abzuleiten ist.

In diesem Sinne interpretiert auch Janusz Reiter in der Wochenzeitung Przeglqd Katolicki die Warschauer Botschaft von Gorbatschow: »Ziel dieser Evolution sollte ein Modell der Beziehungen sein, das nicht auf einem gemeinsamen ideologischen Ziel beruht, sondern auf der Überzeugung von der Konvergenz der politischen Interessen zweier Völker, die in ihrer Wahl frei sind, sich aber von Realismus leiten lassen. Der Begriff >Sozialismus< ist von Eindeutigkeit weit entfernt, es ist nicht ganz klar, ob er eine ideologische Vision bezeichnet oder eine geopolitische Realität. Wer hat das Recht, den Sozialismus zu definieren und darüber zu urteilen, ob ein gegebenes Land in die übliche Definition hineinpaßt, oder bereits über sie hinausgeht? …

Der Sekretär des ZK der KPdSU Medwedew hat auf einer Pressekonferenz versichert, das Prinzip der Souveränität gelte in den Beziehungen zwischen sozialistischen Staaten ohne Einschränkung, ebenso wie in den Beziehungen zu Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung«. Ist das nun eine Abkehr von Jalta, oder eine Rückkehr zu der Interpretation der Vereinbarungen, die Bewohner »normaler europäischer Staaten« hätten erwarten können.

Der Eifer, mit dem bei uns bisweilen die Perspektiven einer Wiedervereinigung Deutschlands diskutiert werden, erstaunt häufig die Deutschen selbst. Und zwar sowohl die polnische Leichtigkeit, mit der man sich in Vermutungen darüber ergeht, wie das aussehen wird, als auch die Schnelligkeit, mit der einige Unabhängige Schlüsse ziehen, wonach das für Polen angeblich die Chance sei. Auch auf jener Tagung in der Kirche war zu hören, die Teilung Deutschlands sei für Polen überhaupt nicht vorteilhaft. Darauf entgegnete z.B. der Soziologe Wojciech Lamentowicz, die Deutschen selbst hätten ein sehr vielschichtiges Verhältnis zur Wiedervereinigung und seien sich der Befürchtungen ihrer Nachbarn vor einer Zusammenlegung der deutschen Potentiale bewußt.

Solche Gedanken zirkulieren nicht nur in den Kirchen. Kürzlich hat Edmund Osmańczyk in der einflußreichsten katholischen Wochenzeitung Tygodnik Powszechny die Thesen seines neuen Buches dargelegt, das vom Schlesischen Institut in Oppeln in einer mikroskopischen Auflage herausgegeben, aber bereits vom Fernsehen vorgestellt wurde. Die Teilung Mitteleuropas in den Augen eines Polen kann man als einen der ersten polnischen Versuche ansehen, sich auf das Neue Denken einzulassen und bei Gorbatschow, Bahr und all jenen nachzuhaken, die sich über die Zukunft des Kontinents Gedanken machen.

 

 

Osmańczyk Ausgangshypothese lautet: »Unsere Nachbarn jenseits der Oder und der Elbe finden sich mit der Oder-Neiße-Grenze ab — sie haben es bereits getan. Doch mit der Teilung Deutschlands werden sie sich nicht abfinden«. Zwar hat die DDR 1968 den Willen zur Überwindung der Spaltung Deutschlands »auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus« aus ihrer Verfasssung gestrichen, und auch Bechers Hymne »Deutschland, einig Vaterland« wird nicht mehr gesungen, aber bei einer »bisystemaren«, also zwei unterschiedliche Gesellschaftsordnungen verbindenden Konföderation »ist diese Einstellung nicht notwendig«.

Eine »monosystemare« Vereinigung Deutschlands sei unmöglich, schreibt Osmańczyk: »Eine bisystemare Konföderation dagegen ist ein neues Modell des Zusammenlebens in einer systemar geteilten, aber menschlich absolut einheitlichen Welt. Die Deutschen können hier eine wichtige Rolle für den Frieden in der Mitte Europas spielen«. Sofort drängt sich die Frage auf — und was täten wir Polen in dem Fall? »Machen wir uns klar, daß eine derartige Konföderation für Polen durchaus keine Revision der Grenzen bedeutet. Diese Möglichkeit hatten die Deutschen nie — dazu wäre die Zustimmung aller vier Mächte erforderlich —, in ihrer Realpolitik waren und sind sie wirklich nicht an einer Ausdehnung ihres zweistaatlichen Territoriums interessiert.

Zum Drang nach Osten haben sie einfach nicht die biologischen Kräfte, weder in der DDR noch jenseits der Elbe.« Die hätten wir Polen, bei allen sonstigen Schwächen. Das belegen seiner Ansicht nach Hunderttausende junger Polen, die in der Bundesrepublik Fuß fassen wollen, und Tausende, die in der DDR arbeiten. Daher nennt Osmańczyk die Angst vor dem deutschen Revisionismus »unsere polnische Vogelscheuche«, die den folgenden Generationen junger Polen zu innenpolitischen Zwecken aufgestellt wird.

Bei allen Überspitzungen der Propaganda klingt dieser Satz doch ein wenig allzu einfach, man denke nur an den offiziellen Rechtsstandpunkt der Bundesrepublik. »In den langfristigen Plänen beider Deutschlands wird die Existenz Polens zwischen Oder und Bug seit langem als dauerhaft angesehen.« Und gerade deshalb könnten einige Deutsche auf den Gedanken kommen, daß wenigstens Polens Schwäche und Abhängigkeit von der UdSSR und Deutschland von Dauer sein sollten, wenn schon seine Liquidierung — wie sie einst von den Führern Preußens als Bedingung für die Existenz eines starken Deutschland hingestellt wurde — ausgeschlossen ist. Die biologisch größere Dynamik der Polen dürfte ein Ventil finden in der Mitwirkung polnischer Hände und Hirne an der Stärkung der Entwicklung beider deutscher Staaten mit harter Währung und nolens volens — in einer ebensolchen Mitwirkung an der Entwicklung der UdSSR.«

Daher zieht Osmańczyk den Schluß: Polen darf der Bewegung in Europa nicht passiv zusehen, um so weniger, als unsere Lage sich nicht verbessert, »diese beinahe fünfzigjährige Stabilisierung hat einen eminent negativen Charakter… In dieser anomalen Position, in die wir als Resultat des Zweiten Weltkriegs gebracht wurden, fühlen wir uns nicht wohl, und so wollen wir das nächste halbe Jahrhundert nicht leben.«

Was also ist zu tun? Man müsse die stereotypen Denkmuster von Deutschen und Polen und der unseligen Rolle Mitteleuropas aufgeben, schreibt Osmańczyk. Das Zeitalter der bipolaren Welt geht zur Neige, im Europa des 21. Jahrhunderts werden Deutsche und Polen quantitativ etwa gleich große Nationen sein. Bereits heute üben weder die einen noch die anderen Druck auf die gemeinsame Grenze aus. Und selbst bei Gründung einer Konföderation von BRD und DDR wären keine Bevölkerungsverschiebungen etwa von Frankfurt am Main nach Frankfurt an der Oder zu erwarten. »Das volle Bewußtsein dieses elementaren Unglücks, das beiden Völkern die Teilung Europas gebracht hat, sollte wohl ausreichen, damit diese beiden Nationen vor dem düsteren fünfzigsten Jahrestag des September 1939 endlich offen und solidarisch nicht mehr nur eine antinukleare oder kulturelle, sondern auch eine politische Vereinigung Europas zu fordern beginnen. Irreal? Wer hat das gesagt?«

Schließlich gab es in der gemeinsamen tausendjährigen Geschichte Zeiten, in denen Deutsche und Polen zusammen nach Wegen zum Wohl Europas gesucht haben. Für die nächste Zukunft schlägt Osmańczyk eine »polysystemare« europäische Konföderation vor, ein heterogenes »Drittes Europa«. Voraussetzung hierfür wäre, daß keine Seite irgendwelche Vorbedingungen stellt und weder laufende Verhandlungen noch bestehende internationale Verpflichtungen tangiert würden. »Es wäre logisch, wenn die Initiative zur Aufnahme von Gesprächen über eine gesamteuropäische Konföderation von drei Regierungen, den beiden deutschen und der polnischen, ausginge, die ein Territorium repräsentieren, das zur Wiege der Idee der Einigung Europas werden kann, wie es einst Piemont für die Idee der Einigung Italiens wurde. Die Unterzeichnung der Akte wird nicht einer Demontage des Instrumentariums der bestehenden Teilung Europas vorgreifen. Diese Demontage kann allein auf dem Weg nachfolgender Verhandlungen erfolgen, in dem Maße wie das Vertrauen zwischen den Völkern Europas wächst.«

Ein konföderiertes Europa ist Zukunftsmusik, doch vielleicht lohnt es sich, sie in unserem »gemeinsamen Haus« zu spielen. Schwer zu sagen, ob solch ein Konzept zumindest ansatzweise schon realisierbar ist, können doch die reichen Staaten argwöhnen, die armen und weniger entwickelten hätten lediglich den Wunsch, sich an ihren Standard anzuhängen. 1992 soll Europa vereint sein, aber nur das westliche, dem Portugal und — vielleicht — die Türkei, nicht aber die Tschechoslowakei oder die Ukraine, weder Ungarn noch Rußland angehören werden.

Voraussetzung für eine Konföderation — oder eher für den Gedanken daran — ist die unwiderrufliche Abkehr von der bipolaren Welt und die Erkenntnis gemeinsamer Interessen durch die Europäer, nicht gegen irgend jemanden, sondern zusammen mit den mächtigen Nachbarn, die sich in der Beringstraße berühren. »Eine Konföderation Europas wird folglich nicht um ihrer selbst willen zustande kommen können, sondern unter dem Druck globaler, ähnlich gearteter Sorgen. Das ist eine ernste Warnung an die Eurozentristen alter Schule«, aber auch — sollte man hinzufügen — an Nationaldemokraten, welcher Art und wo auch immer, die ihre Identität in Opposition zu Fremden und Nachbarn aufbauen wollen, statt gemeinsam mit ihnen.

Man könnte Osmańczyk‘s Gedankengang dahingehend erweitern, daß eine europäische Konföderation nicht nur die Staaten zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten umfassen müßte, sondern auch die Möglichkeit einer gestaffelten Beteiligung der baltischen Republiken, Weißrußlands, der Ukraine und der Russischen Föderativen Republik bis zum Ural sowie die politische Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa entsprechend der KSZE-Schlußakte gewährleisten sollte. Die Grenzen blieben in einem derartigen konföderierten Europa unverändert, doch sie würden den Kontinent nicht teilen, sondern durchlässige und offene Gesellschaften verbinden. Jeder der Staaten wäre eingebunden in Strukturen, die sich teilweise überlagern, nicht »auf Stoß«, sondern »mit Falz«, und unser Kontinent erinnerte nicht mehr nur an kommunizierende Röhren, sondern an durch ein Prisma zerlegtes Licht, bei dem eine Farbe allmählich in die nächste übergeht, und alle zusammen wie ein ganzer Regenbogen schillern.

Eine europäische Konföderation wäre gleichwohl keine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, sondern deren offene und demokratische Nachbarschaft; denn die Ergänzung dieser Nachbarschaft durch andere mitteleuropäische Kernstaaten nähme ihr sofort jeglichen »innerdeutschen« Anstrich und verliehe ihr einen europäischen Charakter. Das auseinandergeborstene Europa muß sich faktisch entlang der Bruchlinie integrieren, und das nicht nur durch eine Annäherung der Deutschen und Polen, sondern auch der Tschechen, Ungarn und Österreicher, oder der Jugoslawen, Bulgaren, Türken und Griechen, damit dort, wo zur Zeit des Kalten Krieges der eiserne Vorhang heruntergelassen wurde, ein Spinnengewebe institutionalisierter Bindungen entsteht, das die wirtschaftlichen, finanziellen usw. Strukturen einander angleicht. Ist das eine Demontage des Sozialismus? Des stalinistischen mit Sicherheit, aber zugleich bedeutete es eine Systemtransformation hin zu einem demokratischen Sozialismus, der ein Teil des Weltmarkts wäre und auf der gemeinsamen Sicherheit aller interessierten Seiten basierte. Denn die Ära der Kriege in Europa geht zu Ende, und es beginnt — täuschen wir uns nicht — die Ära der Katastrophen: Tschernobyl, die Vergiftung des Rheins und der Oder, die Luftverschmutzung, das Absinken des Grundwassers, all das wird gemeinsame Lösungen erfordern, die auf Grenzen keine Rücksicht nehmen.

Vierzig Jahre mußten seit dem Kriegsende vergehen, bis Ideen, die von manchem noch im Krieg und umittelbar danach voller Hoffnung formuliert wurden, mit größerer Macht wiederkehrten. Das ist kein Zufall, Europa wird aus der Gefangenschaft der Nachkriegsdenkmuster entlassen. Vierzig Jahre hat es gedauert, ebenso viele wie Gott einst die Kinder Israels durch die Wüste irren ließ, bevor er sie in das Gelobte Land führte. Es ist nun einmal so, daß zuerst die von der Gefangenschaft geschädigte Generation abtreten muß, damit die nachfolgende beginnen kann, etwas Neues aufzubauen. Die Zeit ist günstig, und zwar nicht deshalb, weil »Rußland mit sich selbst beschäftigt ist«, die Katze schläft und die Mäuse tanzen können, sondern weil sich vom Ural bis zum Atlantik mit seinem Westufer die Überzeugung einen Weg bahnt, daß keine gegenseitige Abgrenzung durch einen atomaren Zaun, sondern eine Zusammenarbeit in Freiheit notwendig ist, wenn wir überleben wollen.

Doch »point de reveries«, wie im 19. Jahrhundert schon der Zar den Polen sagte — machen wir uns nichts vor. Für Polen bedeutete eine europäische Konföderation keineswegs nur das Einsammeln der Früchte im Garten der Hesperiden, sondern harte Arbeit an der Modernisierung und den Verlust ach so polnischer Eigenschaften.

Mag sein, daß in Zukunft unsere Vorfahren wenig Gefallen an uns finden. Doch wer weiß, wie »das ewig Polnische« das alles übersteht, und wie »das ewig Deutsche« in zwei Ausgaben, oder »das ewig Russische« und so fort. Trotz alledem wird dieser Kontinent mit uns allen gesondert nicht fertig werden können. Und wir Polen sollten uns nicht bedauern, daß uns heute niemand haben will, man wird uns schon wollen, denn wir liegen in der Mitte des Kontinents, gemeinsam mit anderen …

Aus dem Polnischen von Silke Lent