75 Jahre Kriegsende
Leerstellen, Deutungskämpfe und die Rolle des Antifaschismus im europäischen Gedächtnis von Franziska Davies, Ekaterina MakhotinaLeerstellen, Deutungskämpfe und die Rolle des Antifaschismus im europäischen Gedächtnis
Bei aller Kritik an der mit ihnen verbundenen Inflation des Gedenkens kann man Jubiläen eines zugutehalten: Sie sind ein willkommener Anlass für eine kritische Bestandsaufnahme der eigenen Erinnerungskultur. Das gilt auch für den 75. Jahrestag des Kriegsendes in Europa, der am 8. Mai dieses Jahres begangen wurde. Es dürfte das letzte runde Jubiläum dieses Ereignisses gewesen sein, an dem noch lebende Zeitzeugen anwesend sein konnten. Ihre Stimmen werden in Zukunft fehlen. Das wird, so ist zu befürchten, die politische Indienstnahme der Geschichte nur weiter verstärken. In diesem Jahr war zu beobachten, wie Russland und Polen darum stritten, wer für den Ausbruch des Kriegs verantwortlich sei. Der polnische Präsident Andrzej Duda kritisierte Yad Vashem für die Einladung Russlands zur Gedenkfeier zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Bezeichnend war auch das Bild des einsamen belarussischen Botschafters am 8. Mai am Berliner Mahnmal im Tiergarten, mit dem – als einem Vertreter »der letzten Diktatur Europas« – kein deutscher Politiker außer Markus Meckel gemeinsam gedenken wollte. Im politischen Establishment eint das Gedenken an die Opfer oft nicht, sondern es trennt.
Was bedeuten die memory wars für Deutschland, dessen selbstkritischer Umgang mit Vergangenheit oft als »DIN-Norm« (Timothy Garton Ash) für andere Länder betrachtet wird? Anders als es oft wahrgenommen wird, ist das gesamtgesellschaftliche Gedenken an den Zweiten Weltkrieg hierzulande in vielerlei Hinsicht lückenhaft. Ebenso fehlt es an Wissen darüber, wie im östlichen Europa des Kriegs und der Shoa gedacht wird. Wie wir der vielen Verbrechen (nicht) gedenken, steht in Verbindung mit den Diskussionen, die heute über Antifaschismus und Nationalismus geführt werden.
Deutsche Leerstellen der Erinnerung
Die amerikanische Philosophin Susan Neiman hat jüngst kritisiert, dass die Deutschen überzeugt seien, die Erinnerung an die Shoa erfolgreich abgeschlossen zu haben. Tatsächlich lässt einen beim Lesen ihres Buchs das Gefühl nicht los, dass Neiman den Titel, Von den Deutschen lernen, ironisch gemeint haben könnte. So schien ihr, einer jüdischen Amerikanerin, der gefeierte Satz von Weizsäckers vom 8. Mai als Befreiung statt als Niederlage schon 1985 ziemlich banal. Das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, ein Monument von zentraler Bedeutung für den »stabilen Grundkonsens deutscher Identität« (Aleida Assmann), gedenke des industriell durchgeführten Holocaust in den Vernichtungslagern, ließe aber außer Acht, dass mehr als die Hälfte der europäischen Juden auf andere Art ermordet wurden: »im Holocaust by bullets«. Nicht erst in den deutschen Vernichtungslagern, sondern direkt nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begannen auf den Straßen und Plätzen der besetzten Städte und Dörfer die Aussonderung und der Mord an den jüdischen Bürgern. Das gleiche Schicksal ereilte sowjetische Kommunisten und politische Offiziere der Roten Armee. Die deutsche Erinnerung aber ist auf Auschwitz als Ort und Symbol des industriellen Massenmords fokussiert und vernachlässigt andere Verbrechen, die so nicht zum Teil des negativen Gedächtnisses (im Sinne Reinhart Kosellecks) werden konnten. Nach wie vor ist Auschwitz das Symbol für den Holocaust und nicht etwa die Schlucht von Babi Jar in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, wo SS-Einheiten, Wehrmachtssoldaten und ukrainische Hilfspolizisten im September 1941 innerhalb weniger Tage etwa 33 000 Juden töteten.
Der rassenideologisch bedingte Raub- und Vernichtungskrieg der Deutschen konfrontierte die Menschen in der Sowjetunion mit einer beispiellosen Dimension von Grausamkeit. Es war »ein Krieg wie kein anderer« (Dieter Pohl), geleitet von extremem Antibolschewismus, Antisemitismus und dem Hass auf die Slawen. Die Hungerpolitik gegen die sowjetische Zivilbevölkerung erreichte ihre schlimmste Ausprägung in der Belagerung Leningrads zwischen September 1941 und Januar 1944, bei der über eine Million Menschen ums Leben kamen. Die Millionen sowjetischer und polnischer Zwangsarbeiter haben keinen festen Platz im deutschen Erinnerungsdiskurs, so wie das Gedenken an die sowjetischen Kriegsgefangenen erst allmählich darin Eingang findet. Oft sind es die Nachkommen von Opfern, die über ihr literarisches Schaffen diese Leerstellen allmählich füllen.
Die deutsch-ukrainische Autorin Katja Petrowskaja schuf ihrer in Babi Jar ermordeten Großmutter in Vielleicht Esther (2014) ein Denkmal, Natascha Wodin zeichnete in ihrem Roman Sie kam aus Mariupol (2017) das Schicksal sowjetischer Zwangsarbeiterinnen anhand ihrer eigenen Familienbiografie nach. Diese Autorinnen finden eine Stimme für die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs im Osten, die man lange Zeit in der Erinnerungskultur vergeblich suchte. Zwar werden monumentale KZ-Gedenkstätten wie Dachau als Bühne für staatstragende Rituale und Statements zu den Lehren aus der Geschichte genutzt, aber viele lokale Erinnerungsorte der Verbrechen sind weitgehend in Vergessenheit geraten. Besucht man an wichtigen Gedenktagen wie dem 8. Mai etwa die zentrale Grabanlage für sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in Bonn – die Kriegsgräberstätte auf dem Nordfriedhof –, kann man sich von dieser Leerstelle ein Bild machen. Nicht einmal am fünfundsiebzigsten Jahrestag des Kriegsendes in Europa trifft man dort auch nur einen offiziellen Vertreter der Stadt oder des Landes an. Dabei ist diese Grabanlage Teil der ehemals zentralen nationalen Mahnstätte der Bundeshauptstadt »Für Opfer von Krieg und Gewalt«. Nur die teilweise schwer leserlichen Inschriften auf den Grabplatten weisen auf die NS-Verbrechen hin: russische, ukrainische, polnische, südosteuropäische Namen von Männern, Frauen und Kindern. Nichts erzählt an diesem Ort ihre Geschichte. Wie aber ist zu erklären, dass fünfundsiebzig Jahre nach Kriegsende das Wissen um und das Bewusstsein für die deutschen Verbrechen in Osteuropa nach wie vor begrenzt ist? Warum sind die Massenerschießungen von Juden nach wie vor weniger bekannt als die Vernichtungslager?
Ein Grund für diese Leerstellen in der deutschen Erinnerung ist, dass über Jahrzehnte der Mythos des deutschen Opfergangs vor Stalingrad die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg im Osten überschattete. Obwohl die Wehrmacht in Polen, der Sowjetunion und in Jugoslawien eine blutige Spur hinterließ, sahen sich die meisten der 18 Millionen Kriegsteilnehmer nicht als Täter. Eben weil der Krieg mit den Lebensläufen dieser Soldaten verbunden war, wurden diese Opfer in der westdeutschen Öffentlichkeit lange Zeit vernachlässigt. Noch in den 1990er Jahren löste die Wehrmachtsausstellung einen Skandal in Deutschland aus, weil sie mit den Verbrechen der Wehrmacht einen Grundzug des Vernichtungskriegs im Osten offenlegte. Allerdings konzentrierte sich die Ausstellung aus naheliegenden Gründen eher auf die Täterperspektive und weniger auf die alltägliche Leidenserfahrung der Bevölkerung in den okkupierten Gebieten. Würde man jedoch allein für Stalingrad die Opfer auf der anderen Seite in den Blick nehmen, käme man auf fast eine halbe Million Menschen, die von der Luftwaffe zerbombt, während der Evakuierung getötet oder in der eingekesselten Stadt umgebracht wurden.