Heft 858, November 2020

75 Jahre Kriegsende

Leerstellen, Deutungskämpfe und die Rolle des Antifaschismus im europäischen Gedächtnis von Franziska Davies, Ekaterina Makhotina

Leerstellen, Deutungskämpfe und die Rolle des Antifaschismus im europäischen Gedächtnis

Bei aller Kritik an der mit ihnen verbundenen Inflation des Gedenkens kann man Jubiläen eines zugutehalten: Sie sind ein willkommener Anlass für eine kritische Bestandsaufnahme der eigenen Erinnerungskultur. Das gilt auch für den 75. Jahrestag des Kriegsendes in Europa, der am 8. Mai dieses Jahres begangen wurde. Es dürfte das letzte runde Jubiläum dieses Ereignisses gewesen sein, an dem noch lebende Zeitzeugen anwesend sein konnten. Ihre Stimmen werden in Zukunft fehlen. Das wird, so ist zu befürchten, die politische Indienstnahme der Geschichte nur weiter verstärken. In diesem Jahr war zu beobachten, wie Russland und Polen darum stritten, wer für den Ausbruch des Kriegs verantwortlich sei. Der polnische Präsident Andrzej Duda kritisierte Yad Vashem für die Einladung Russlands zur Gedenkfeier zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Bezeichnend war auch das Bild des einsamen belarussischen Botschafters am 8. Mai am Berliner Mahnmal im Tiergarten, mit dem – als einem Vertreter »der letzten Diktatur Europas« – kein deutscher Politiker außer Markus Meckel gemeinsam gedenken wollte. Im politischen Establishment eint das Gedenken an die Opfer oft nicht, sondern es trennt.

Was bedeuten die memory wars für Deutschland, dessen selbstkritischer Umgang mit Vergangenheit oft als »DIN-Norm« (Timothy Garton Ash) für andere Länder betrachtet wird? Anders als es oft wahrgenommen wird, ist das gesamtgesellschaftliche Gedenken an den Zweiten Weltkrieg hierzulande in vielerlei Hinsicht lückenhaft. Ebenso fehlt es an Wissen darüber, wie im östlichen Europa des Kriegs und der Shoa gedacht wird. Wie wir der vielen Verbrechen (nicht) gedenken, steht in Verbindung mit den Diskussionen, die heute über Antifaschismus und Nationalismus geführt werden.

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