Abschied vom Antiimperialismus
von Jens KastnerIm Frühjahr 1990, also zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung, fand in Duisburg der Kongress »Aktiver Widerstand gegen die Großmachtpolitik des BRD-Kapitals!« statt. Die nachträglich dazu erschienene Broschüre trägt den Untertitel »Dokumente des Antiimperialistischen Kongresses 31.3.–1.4.1990 in Duisburg mit 600 TeilnehmerInnen aus über 100 Orten«. Unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern waren neben vielen Linken aus kleinen kommunistischen Parteien wie DKP und MLPD und organisierten Arbeitern auch Linke aus verschiedenen sozialen Bewegungen. Unter letzteren, ganz hinten auf einem der Kongressfotos in der Broschüre, ist auch ein Langhaariger zu erkennen, der ich war.
Für die Linke stellte der Antiimperialismus damals noch eine selbstverständliche »kognitive Orientierung« dar.1 Das war kurz bevor sich die radikale Linke und ihre Diskursausläufer in Tages- und Wochenzeitungen in »Antiimps« und »Antideutsche« spaltete. Die Antideutschen hatten sich aus den antinationalen Diskussionen nach der sogenannten Wiedervereinigung herausgebildet und rückten den Nationalsozialismus ins Zentrum ihrer Geschichts- und Gegenwartsanalysen. Eine positive Bezugnahme auf die Kategorie »Volk«, wie sie im Antiimperialismus gängig war, verbot sich vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Auch folgte daraus eine positive Haltung zum Staat Israel, dessen Existenz als wichtiger Effekt der Shoah in den Fokus gerückt wurde. Der Kampf gegen Antisemitismus und für das Existenzrecht Israels wurden zur obersten Maxime einer antifaschistischen Haltung – während in antiimperialistischen Kreisen Israel nicht selten selbst als faschistischer, zumindest aber als imperialistischer und zuweilen kolonialistischer Staat gehandelt wurde (und wird).
Erst Ende der neunziger Jahre verschwanden die Pali-Tücher – Kufiya nannte die noch niemand – langsam aus dem linksradikalen und linksalternativen Alltag, zu deren festem Bestandteil sie die Jahre zuvor gehört hatten. Sie wurden bis dahin als praktische Schals und Zugehörigkeitsmerkmal zum linksalternativen und autonomen Milieu getragen, ohne dass damit immer eine reflektierte Haltung zum Nahostkonflikt verbunden gewesen wäre. Es veränderten sich aber nicht nur die Kleiderordnungen, es entstanden auch tiefe ideologische Gräben innerhalb von Wohngemeinschaften und Szenelokalen. Auch linke Zeitschriftenredaktionen brachen auseinander, wofür die Abspaltung der dann als Wochenzeitung erscheinenden Jungle World von der Tageszeitung junge Welt 1997 vielleicht das bekannteste Beispiel ist. In der jungen Welt blieb ein Antiimperialismus intakt, der sich auf eine lange Geschichte berufen kann. Diese Geschichte ist logischerweise verknüpft mit jener der Imperialismustheorien.
Ingar Solty etwa hat drei Wellen der Imperialismustheorien beschrieben:2 Erstens nennt er die klassische Imperialismustheorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wobei die radikalen Ansätze (Lenin, Luxemburg) von den zentristischen (Kautsky) und den revisionistischen (Bernstein) zu unterscheiden sind. Die zweite Welle entwickelte sich vor dem Hintergrund der Bipolarität des Kalten Krieges und äußerte sich insbesondere in Form der Depedenztheorien und der Weltsystemanalyse des US-amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein (1930–2019). Die dependenztheoretischen Ansätze entstanden vor allem im Lateinamerika der 1960er Jahre und nahmen die ökonomische und politische Abhängigkeit zwischen den Ländern des industriellen Nordens (Zentren) und des »unterentwickelten« Südens (Peripherien) in den Blick.
Die dritte Welle ist nach Solty von der materialistischen Staatstheoriedebatte ab den späten 1970er Jahren angestoßen worden, die unter anderem in der Poulantzas-Miliband-Kontroverse zum Ausdruck kam.3 Den Staat als Kräfteverhältnis zu begreifen, wie Nicos Poulantzas es tut, hat weitreichende Konsequenzen nicht nur für die Staatstheorie: Wenn der Staat ein Kräfteverhältnis ist, lässt er sich kaum mehr als Mittel oder Instrument zur Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse gebrauchen. Auch hinsichtlich internationaler Politik wird fraglich, ob die für antiimperialistische Strategien so wichtige »nationale Bourgeoise« überhaupt noch existiert oder als Akteurin und Profiteurin noch relevant ist, »wenn multi- und später transnationale Konzerne entstehen, die in vielen Staaten der Erde als Klassenfraktion aktiv und präsent sind«.
Dennoch ist der Imperialismus bis heute immer wieder Ausgangs- und Angriffspunkt internationalistischer Agenden. Das liegt vor allem daran, dass der Kampf gegen den Imperialismus schon bei Lenin, so der postkolonialistische Theoretiker Robert J. C. Young, das nationale Begehren nach Selbstbestimmung und den Kampf gegen den Kapitalismus miteinander zu vermitteln schien.4 Deshalb wurde der Antiimperialismus zu einer »kognitiven Orientierung« emanzipatorischer Kämpfe im gesamten 20. Jahrhundert.
Fokustheorie und Trikontinentale 1966
Ein wichtiges Vernetzungstreffen antiimperialistischer Kräfte fand 1966 auf Kuba statt. Daran nahmen mit den mehr als 500 Vertreterinnen und Vertretern aus 82 Ländern des globalen Südens nicht nur politische Parteien, soziale Bewegungen, antiimperialistische Organisationen, Gewerkschaften, Studierenden- und Frauengruppen teil, sondern auch Guerillabewegungen.
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