Vertreibung
Über vererbte Traumata und listenreiche Nostalgie von Jens KastnerAnd everything you see leaves a mark on your soul,Everything you feel leaves a mark on your soul,Everything you touch leaves a mark on your soul,Everything you make leaves a mark on your soul
Bad Religion, Marked
Deutschland, 1945 in vier Zonen eingeteilt: Auf einem Zeitstrahl wird die Geschichte der DDR bis zur Wiedervereinigung dargestellt. Nach Kriegsende kommt die Zoneneinteilung, darauf folgt 1949 die Gründung der beiden Staaten DDR und Bundesrepublik. Gut, es ist nur ein Kinderbuch, das mein Sohn für sein Referat über den Mauerfall benutzt. Aus welchem Teil kam der Opa noch mal? Vielleicht ist es aber symptomatisch, dass da etwas fehlt. Mein Vater kam aus Schlesien.
Innerhalb linker Diskurse wurde das Wort Vertreibung häufig in Anführungszeichen gesetzt. Das ist irgendwie paradigmatisch für den Umgang mit komplexen, unbequemen Themen. Als ließe sich durch sprachpolitische Maßnahmen die Heftigkeit der sozialen Tatsachen abschwächen oder gar zu nicht ganz wirklichen machen.
Rund zwölf Millionen Deutsche mussten am Ende des Zweiten Weltkriegs oder im Lauf der Monate nach dem alliierten Sieg über das nationalsozialistische Deutschland ihre Wohnungen, Häuser und Höfe im Osten des (bald ehemaligen) Deutschen Reiches auf Nimmerwiedersehen verlassen. »In den großen alliierten Kriegskonferenzen von Teheran (1943), Jalta (Februar 1945) und Potsdam (Juli /August 1945)« wurde »die Verschiebung des polnischen Verwaltungsgebietes bis an Oder und Neisse durchgesetzt«. Politisch gesehen kann das als gerechte Strafe für ihre größtenteils gewährte Unterstützung für die Nazis oder ihr Nazi-Sein gewertet werden, den Tatbestand der Vertreibung tangiert diese Wertung aber nicht. Meine Großeltern und ihre beiden Söhne hatten vierundzwanzig Stunden Zeit, um ihre Sachen zu packen. Polnische Soldaten zwangen sie zum Gehen. Oder waren es polnische Milizen oder russische Soldaten?
Das war im Oktober 1946, mein Vater war fast sechzehn, sein Bruder kurz vor seinem zehnten Geburtstag. Ich weiß über die Flucht selbst fast nichts. Mein Vater hat die Geschichte so oft erzählt, dass ich nicht mehr richtig hingehört habe. Lese ich heute Berichte darüber, kann ich nicht anders, als sie als traumatisch einzuschätzen. Hunger und Kälte über Wochen, die endgültige Entwurzelung und eine totale Ungewissheit in Sachen Zukunft, das kann nicht spurlos an Menschen vorübergehen.
In dem Jahr, in dem mein Vater geboren wurde, veröffentlichte Sigmund Freud seine Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930). Darin versichert er ziemlich am Anfang, dass bei allem Unwissen über das Fortwirken der Vergangenheit daran festgehalten werden kann, »daß die Erhaltung des Vergangenen im Seelenleben eher Regel als befremdliche Ausnahme ist«. Das Vergangene bleibt permanenter Bezugspunkt. Die Sehnsucht nach der Heimat, durchaus nach einem geografischen Ort, wurde schon im 17. Jahrhundert als »Bezeichnung einer Krankheit« eingeführt, wie die Philosophin Barbara Cassin aufzeigt, und »Nostalgie« genannt. Vielleicht eine Erbkrankheit.
Beidem zusammengenommen, Vergangenheit und Heimatverlust, gehen jedenfalls Jahrzehnte nach Freud die Traumaforschung und die Arbeit mit von Fluchterfahrungen Traumatisierten nach. Sie beschäftigen sich auch mit den Effekten der Traumata für die Nachgeborenen. »Die therapeutische Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten konfrontiert uns mit Lebensgeschichten, die von zahlreichen Verlusten, überwältigenden Ereignissen, Erfahrungen von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein gekennzeichnet sind, deren zerstörerische Kraft sich oft erst nach dem Ankommen in einem als sicher erhofften Ort entfaltet.« Werden solche Erfahrungen nicht verarbeitet (was auch immer das genau heißen mag), ist ihre Weitergabe an die nächste Generation so gut wie vorprogrammiert (wie auch immer sich das äußern mag). Die Kinder der Traumatisierten müssen zumindest »als Container fungieren« für Hoffnungen auf eine bessere Zukunft.
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