Heft 865, Juni 2021

Aby Warburgs Serendipity

von Andreas Beyer

Der Bilderatlas Mnemosyne, den Aby Warburg bei seinem Tod im Jahr 1929 unvollendet hinterlassen hat, zählt zu den großen Mythen der Kulturwissenschaft. Im Herbst 2020 sind die 63 Bildtafeln, auf denen das Layout des als Buchprojekt geplanten Atlas erprobt wurde, zusammengesetzt aus den nahezu tausend Reproduktionen, die sich aus Warburgs Besitz im Bildarchiv des Warburg Institute in London haben ausfindig machen lassen, im Berliner Haus der Kulturen der Welt erstmals wieder montiert worden. Beworben wurde die Ausstellung mit dem Zusatz »Das Original«.1

Eine Vokabel, die, so überwältigend und aufschlussreich die Ausbreitung dieses dem Nachleben der Antike gewidmeten fragmentarischen Bildkorpus war, nicht wenig in die Irre führt. Die konkrete Arbeit am Bilderatlas, der die Summe von Warburgs Forschungen hätte darstellen sollen, setzt zwar erst Mitte der zwanziger Jahre ein; Warburg aber hat einen stabilen Bestand von etwa 2000 Abbildungen von früh an immer wieder temporär zu neuen Konfigurationen zusammengestellt. Was anfänglich noch ganz der gängigen kunsthistorischen Praxis der vergleichenden Bildbetrachtung gehorchte, hat sich freilich erst in der ganz eigenen Kombinationslogik und Kühnheit der Verknüpfungen der Tafeln des Atlas zu einer neuen Methode entwickelt.

Martin Warnke hat bereits vor zwanzig Jahren im Rahmen der Gesammelten Schriften Warburgs dessen bis heute maßgebliche Dokumentation vorgelegt und dabei eine Lektüreanweisung vorgegeben, die Warburgs ikonischen Denkbewegungen nicht linear-chronologisch folgt, also Zeile für Zeile von links nach rechts und von oben nach unten, sondern gelegentlich auch vertikal, manchmal springend oder in Kreise ausgreifend durch die Tafeln mäandert. Aber selbst diese dynamischen Richtungswechsel müssen reine Spekulation bleiben. Denn abgesehen vom Bruchstück einer Einleitung hat sich von Warburg keine Handreichung zur Lesart seiner Assemblagen erhalten – die vorgesehenen Bildlegenden sind ebenso ungeschrieben geblieben wie die geplanten ein oder sogar zwei Bände mit Erläuterungen und Kommentar.

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