Heft 897, Februar 2024

Ach Russland, war’s das?

von Alexander Blankenagel

2012, das Jahr in dem Wladimir Putin trotz der Massenproteste gegen seine erneute Kandidatur zum dritten Mal die russischen Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden konnte, markiert den Beginn einer einschneidenden Veränderung der staatlichen Politik. Bis zu diesem Zeitpunkt lautet der krude, aber immerhin rational noch einigermaßen nachvollziehbare Deal zwischen Politik und Gesellschaft: »Angenehmes Leben und allmähliche Steigerung der Lebensqualität gegen Nichteinmischung in die Politik und in die hemmungslose Bereicherung der Eliten«. Angesichts der wirtschaftlichen Stagnation wurde der erste Teil nun durch ein »Zurück zu einer Ideologie traditionaler Werte« ersetzt; der zweite Teil des Deals freilich galt zunächst noch unverändert. Zugleich wurde der Druck auf die Zivilgesellschaft kontinuierlich erhöht: mit dem Pussy-Riot-Verfahren, der Gesetzgebung über die ausländischen Agenten oder jener zur endgültigen Aushöhlung der Versammlungsfreiheit. Im Jahr 2020 wird der massive Wandel dann manifest: Mit dem Projekt einer in ihren zentralen Teilen, nämlich der Regelung des politischen Systems, neuen Verfassung wird der Gesellschaft die Rückkehr in die grauslich-heroische Vergangenheit vorgeschlagen; und sie nimmt das Angebot an. Alle, oder zumindest die meisten, werden Putin wie Lemminge folgen.

In den Schulen geht es los; früh muss gekrümmt werden, was einmal ein Haken werden soll. Einmal in der Woche gibt es jetzt die »Gespräche über die wichtigen Dinge«. Und es gibt sehr viel zu besprechen und zu erzählen, vom Krieg gegen die (womöglich vom Satan besessenen) ukrainischen Faschisten bis hin zur alles übertreffenden Liebe zum Vaterland. Die Teilnahme ist nicht verpflichtend, die Nichtteilnahme allerdings erklärungsbedürftig. Sicherheitshalber, so entscheidet das Bildungsministerium im Februar 2023, werden auch mit den Eltern Gespräche geführt; im Fernsehen finden diese Gespräche ohnehin ohne Unterlass statt. Die Unterrichtsfächer wurden ergänzt – durch Waffenkunde, Übungen mit scharfen Waffen und Handgranaten, Kampftraining und eine Einführung in das Lenken von Drohnen. Ein neues Fach wurde eingeführt: »Grundlagen der Sicherheit und des Schutzes der Heimat«.

Daneben unterhält das Ministerium für Katastrophenschutz Zentren für patriotische Erziehung der Kinder, in denen ein bisschen für den Krieg geübt wird. Ein neues, für alle Schulen im großen Land einheitliches Geschichtsbuch liegt vor, geschrieben vom berüchtigten ehemaligen Kulturminister Wladimir Medinski sowie von dem Rektor der staatlichen Diplomatenausbildungsstätte MGIMO, Anatoli Torkunow. Es enthält selbstverständlich ein ausführliches Kapitel zur speziellen Militäroperation. Flankierend beginnt der Geschichtsunterricht in den Schulen jetzt schon in der dritten Klasse, also bei den Sieben- bis Achtjährigen. Jeden Montag wird die russische Flagge gehisst und die Nationalhymne gesungen. Die Ausgaben für die Erziehung der Bürger zum Patriotismus im Rahmen des »Nationalen Projekts ›Bildung‹« hat die Regierung um das Sechsfache erhöht. Damit sind die Ausgaben für den Patriotismus dreieinhalbmal so hoch wie die für die Digitalisierung der Schulen.

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