Heft 894, November 2023

Aiwanger

Eine Schulgeschichte von Willi Winkler

Nach dem Vögeln reden wir meistens über Auschwitz, das heißt, nicht über Auschwitz direkt, sondern über das, was es in uns anrichtet und im öffentlichen Leben.

Iris Hanika

Anfang September musste Hubert Aiwanger nachsitzen. Er musste, der Horror für jeden Erwachsenen, nochmal in die Schule, musste in kurzer Zeit eine Strafarbeit abliefern und dann damit unter die Augen seines Lehrers treten. Dr. Söder hatte ihm diese Strafarbeit aufgebrummt, hatte ihm 25 Fragen vorgelegt, die möglichst schnell zu beantworten waren, Fragen, die klären sollten, was sich vor fünfunddreißig Jahren am Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg abgespielt und was Aiwanger damit zu tun hatte. Ein Flugblatt kursierte damals, mit dem ein Wettbewerb »Wer ist der größte Vaterlandsverräter?« angekündigt wurde. Die Teilnehmer, hieß es in der Ausschreibung, sollten sich im Konzentrationslager Dachau zum Vorstellungsgespräch melden. Attraktive Prämien waren ausgesetzt: eine kostenlose Kopfamputation, ein ebenfalls kostenloser Genickschuss, dem Sieger winkte ein »Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz«.

Wenn sich 1988 ein Schüler an einem staatlichen Gymnasium dermaßen schamlos über das deutsche Menschheitsverbrechen lustig macht, dann ist die Erziehung nach Auschwitz eindeutig gescheitert. Seinen berühmten Vortrag mit diesem Titel leitete Theodor W. Adorno 1966 mit dem bündigen Satz ein: »Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.« Reden wie diese waren seit den sechziger Jahren regelmäßig im Rundfunk zu hören. Ob aber die Zuhörerinnen und Zuhörer tatsächlich duldungsstarr vor den ehemaligen Volksempfängern saßen oder den Vortrag aufmerksam auf der Liegewiese im Freibad am neuen Transistorgerät verfolgten, daran darf man trotzdem ein bisschen zweifeln.

Seit der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer die Auschwitz-Verfahren vorbereitet und damit einen Volksbildungsprozess begonnen hatte, war Auschwitz Lehr- und Lernstoff. Martin Walser nahm in seinem Kursbuch-Aufsatz Unser Auschwitz (1965) stellvertretend die deutsche Schuld auf sich. Peter Weiss überführte den Prozess in ein Oratorium; Die Ermittlung wurde das meistgespielte Stück der Saison 1965/66.

In diesem pädagogischen Programm musste zunächst die Vergangenheit aufgearbeitet werden, und das mit der Arbeit war auch genau so gemeint. Die bekannteste Strafarbeit erlegte Siegfried Lenz in der Deutschstunde (1968) seinem Siggi Jepsen auf. Der schwererziehbare Schüler wird vom Autor nicht nur mit der Aufgabe betraut, über »Die Freuden der Pflicht« zu schreiben, was er im Geist des Besinnungsaufsatzes vorbildlich tut, er kann auch als Antagonist seines regimetreuen Vaters Widerstand gegen den Nationalsozialismus leisten. Ein Kollateralschaden dieses unerhört erfolgreichen Erziehungsromans war die Veredelung des nationalsozialistischen Expressionisten Emil Nolde zum Widerstandshelden, der es 1937 in die Ausstellung »Entartete Kunst« und später sogar als Wandschmuck ins Kanzleramt schaffte. So wenig die Erziehung nach Auschwitz auch bewirkt haben mag, der nachgetragene Antifaschismus war unbestreitbar ein Erfolg. Auf eine verquere Weise hat das gerade Hubert Aiwanger bestätigt.

Das Flugblatt mit dem angeblichen Wettbewerb für Vaterlandsverräter war Ende August 2023 durch die Süddeutsche Zeitung bekanntgemacht worden. Erwartungsgemäß wurde es von allen als »ekelerregend«, »menschenverachtend« und »abscheulich« verurteilt. Zunächst galt Hubert Aiwanger, in dessen Schulranzen es vor fünfunddreißig Jahren entdeckt wurde, als Verfasser. Er hatte seinerzeit seine Urheberschaft nicht bestritten und sich dafür sogar seine erste Strafarbeit aufbrummen lassen. Jetzt meldete sich sein ein Jahr älterer Bruder Helmut, behauptete, seinerseits der Verfasser zu sein und mutmaßte in einem weiteren Entlastungsversuch, dass sein Bruder die Flugblätter womöglich nur eingesammelt, sie also aus dem Verkehr gezogen und damit letztlich sogar »deeskalierend« gewirkt habe.

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