Heft 867, August 2021

American Theory

von Gregory Jones-Katz

Was »Theory« oder »Theorie« heißt, mag ein verwickelter Strang aus vielen Fäden sein, am besten fasst man, wovon dabei die Rede ist, vielleicht so: Es geht, wenn von »Theory« die Rede ist, um die Verwendung und Analyse von Konzepten wie Sprache, Gesellschaft, Gender, race oder Lektüre durch Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaftler, und zwar im Rahmen spekulativer Interpretationssysteme. »Theory« war bislang noch selten Gegenstand historischer Forschung, so sehr ihre Bedeutung als philosophisch und kulturell wichtige Erscheinung der amerikanischen Universität der Jahre (in etwa) von 1965 bis 2000 inzwischen anerkannt ist. Die Vertreter von »Theory« waren keine große Hilfe bei der Historisierung, wegen ihres »Widerstands gegen die Techniken, die Historiker zur Historisierung ihrer Gegenstände verwenden«.1 Sogar da, wo jemand, wie etwa Jason Demers, darauf verzichtet, europäische Ursprungsgeschichten und synoptische Geschichten zu erzählen, wird »Theorie« oft als etwas mit europäischer Herkunft behandelt.2 Was geschähe jedoch, stellte man die vier Jahrzehnte übergreifende, vieldimensionale Geschichte von »Französischer Theorie« in Amerika in Rechnung? Sieht man sich genauer an, wo und wie diese in den Vereinigten Staaten in Szene gesetzt worden ist, wird klar, dass man das ganze Phänomen auch in »Amerikanische Theorie« umbenennen könnte. 

Erster Akt: Die heimische Produktion

Die Vertreterinnen und Vertreter der amerikanischen Theorie gingen spätestens seit den achtziger Jahren wie selbstverständlich davon aus, dass ihre Arbeit politisch radikal sei. Dieser Glaube lässt sich auf eine Verschiebung in geisteswissenschaftlichen Departments der USA zurückverfolgen, auf die Richard Rorty 1998 aufmerksam machte: nämlich weg von der Dominanz einer sich auf John Dewey berufenden Perspektive, die auf »reale« politische Wirkungen drängte, und hin zu einer akademischen Linken, deren Politik rein kulturelle Veränderungen erstrebt. Dahinter stand teilweise die Neue Linke der Mittsechziger, deren Widerstand gegen den Vietnamkrieg ihre Beziehung zur Alten Linken gekappt hatte. Von deren Vertretern hatten zwar viele in den Dreißigern der Kommunistischen Partei angehört, dann aber eine antikommunistische Außenpolitik unterstützt. Die Neue Linke hingegen erlebte, so Christopher Lasch, »dass die Struktur der amerikanischen Gesellschaft es beinahe unmöglich machte, mit Kritik an existierenden politischen Strategien selbst zum Teil des politischen Diskurses zu werden«.3 Diese Erfahrung führte nach Laschs Ansicht dazu, dass die Vertreterinnen der Neuen Linken die Vorstellung, sie seien Bürger mit entsprechenden staatsbürgerlichen Pflichten, zurückwiesen und sich so selbst aus der Sphäre der Öffentlichkeit isolierten. Sie rebellierten gegen Traditionen des politischen Engagements und lehnten die Überzeugung ihrer linken Eltern ab, Politik könne soziale Ungerechtigkeiten bekämpfen. 

Die Weigerung der Neuen Linken, sich eine außeruniversitäre Politik vorzustellen, verstärkte sich bei weiten Teilen der akademischen Post-Achtundsechziger-Linken noch. Diese formierten sich um das vielbeachtete Symposium »The Languages of Criticism and the Sciences of Man«, das 1966 an der Johns-Hopkins-Universität stattfand und den französischen Strukturalismus und seine häretischen Kinder in die Seminarräume der amerikanischen Humanities-Departments beförderte. Während die verbliebenen Intellektuellen, Journalistinnen und Aktivisten der Alten Linken weiterhin ihre politische Agenda vertraten, waren die Doktoranden und jungen Akademikerinnen der siebziger Jahre, die in ihren Graduiertenseminaren und Vorlesungen die »hohe Theorie« verkündeten, immer stärker mit den Ansprüchen ihrer Profession befasst, die die »akademische Revolution« erzeugt hatte. Die Beschäftigung mit den Texten von Jacques Derrida, Michel Foucault, Jacques Lacan und vielen anderen schuf eine Sphäre, die die akademische Linke von der engagierten Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit isolierte. 

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