Schwindel der Gegenwart
Leben in Shenzhen von Gregory Jones-KatzBis Mitte des 21. Jahrhunderts werden die Megacitys Shenzhen und Hongkong voraussichtlich zu einer einzigen Megalopolis verschmelzen – mit dann mehr als 20 Millionen Bewohnern. Und doch wird dieser urbane Riesenkomplex nach den Plänen der chinesischen Regierung selbst Teil einer noch größeren Einheit sein: eines zusammenhängenden Wirtschaftszentrums, das nicht nur Hongkong und Shenzhen umfasst, sondern Macau, Guangzhou, Zhuhai, Foshan, Zhongshan, Dongguan, Huizhou, Jiangmen und Zhaoqing noch dazu. Es gibt nicht nur die sichtbaren Investitionen in die Gegenwart dieser »Greater Bay Area«; die ganze Kultur der Region ist auf das Versprechen glorreicher Zukunftsaussichten hin orientiert.
Als ich im September 2016 aus den USA nach Shenzhen kam, um hier zu leben und arbeiten, nur sechs Wochen vor dem Anbruch der Trump-Präsidentschaft, schien mir der Kontrast zwischen der weltgeschichtlichen Situation Amerikas und Chinas umso schockierender. Der gesellschaftliche Zusammenhalt meines Heimatlands schien bedroht, ja brutal angegriffen durch extreme Spaltung, Verbitterung und krasse Ungleichheiten; Amerika befand sich, wie es aussah, in einem steilen Niedergang. Seine Zukunft nahm sich dürftig aus neben der Hoffnung, der Zuversicht und dem Geist des Experiments, die Shenzhen verströmte, mit seiner stetig wachsenden Zahl von Wolkenkratzern (die zweithöchste Dichte weltweit, nur übertroffen von Hongkong) und seiner Silicon-Valley-Atmosphäre. Schon das sonnige Klima (Shenzhen liegt ein Grad südlich des Wendekreises des Krebses) wirkte lichtvoll und erhellend. Ich war zunächst wie betäubt vom historischen Schwindel, der mich in Shenzhen befiel. Meine anfängliche Ahnungslosigkeit, was das Leben in der chinesischen Megacity betrifft, wich jedoch nach dem Schock der ersten Tage immer neuen Wellen von Verwirrung und Ratlosigkeit. Es dauerte ein paar Monate, bis ich mich in diese so ganz anders strukturierte Realität einzufinden begann.