Antimarkt
Profitlogik und ökologische Transformation von William DaviesProfitlogik und ökologische Transformation
Häufig werden die Begriffe »Markt« und »Kapitalismus« verwendet, als wären sie Synonyme. Besonders wenn es gilt, den »freien Markt« zu verteidigen, ist stillschweigend unterstellt, dass es dabei um Argumente zugunsten des »Kapitalismus« geht. Dabei können die beiden Wörter sehr unterschiedliche Verbindungen von Institutionen und Logiken meinen. Folgt man der Taxonomie, die der Wirtschaftshistoriker Fernand Braudel entwickelt hat, könnten sie sogar im Gegensatz zueinander stehen. In Braudels Bild sind lange Phasen der Wirtschaftsgeschichte wie Stockwerke eines Hauses aufeinandergeschichtet. Das Fundament bildet das »materielle Leben«, eine undurchsichtige Welt des Verbrauchs, der Produktion und der Reproduktion in ihrer basalen Form. Darüber das »ökonomische Leben«, die Welt der Märkte, auf denen die Menschen einander in Austauschbeziehungen, aber auch als potentielle Wettbewerber auf Augenhöhe begegnen. Märkte sind durch Transparenz charakterisiert: Die Preise sind öffentlich, und alle relevanten Aktivitäten sind für alle sichtbar. Und wegen des Wettbewerbs sind die Profite minimal, kaum mehr als ein »Lohn« für Verkäuferin und Verkäufer. Über dem »ökonomischen Leben« befindet sich der »Kapitalismus«. Das ist, wie Braudel es sieht, die Zone des »Antimarkts«: eine Welt der Opazität, der Monopole, der Konzentration von Macht und Reichtum und der außergewöhnlichen Profite, die nur erzielen kann, wen die Normen des »ökonomischen Lebens« nicht binden. Händler am Markt interagieren zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort und halten sich dabei an geteilte Regeln (man stelle sich einen Dorfplatz am Markttag vor); Kapitalisten nutzen ihre von keinem Rivalen beeinträchtigte Kontrolle über Zeit und Raum aus, um ihre Regeln allen anderen aufzunötigen (man denke an die Wall Street). Käufer und Verkäufer auf eBay sind Teilnehmer eines Markts; eBay Inc. ist Teilnehmer am Kapitalismus. Kapitalismus ist, in Braudels Worten, »das Revier der großen Raubtiere, in dem das Gesetz des Dschungels gilt«.
So betrachtet, gab es das »ökonomische Leben« schon in frühen modernen Gesellschaften, der »Kapitalismus« triumphierte dagegen spät, wurde erst im 19. Jahrhundert wirklich dominant – als er nämlich den Staat auf seine Seite gebracht hatte. Eine ganze Reihe rechtlicher, finanzieller und das Management betreffender Konstrukte wurden geschaffen, um den Kapitalismus – und seine Profite – von der Form von Gleichheit und Wettbewerb abzuschirmen, die die Möglichkeiten des Kleinbürgertums und der lokalen Händler weiter beschränkten. »Geistiges Eigentum«, begrenzte Haftbarkeit, ein »Kreditgeber letzter Instanz«, koloniale Ausdehnung und neue Techniken zur Disziplinierung der Arbeiterklasse: All das schuf die passenden Bedingungen für Extraktion und Ausbeutung, nicht den bloßen Austausch. Die moralischen und politischen Tugenden des Markts, wie sie etwa Adam Smith vor Augen standen, waren in der kapitalistischen Ära von Rockefeller und Ford nicht mehr bestimmend.
Wenn das so ist: Warum werden »Kapitalismus« und »Märkte« so oft in eins gesetzt? Eine Erklärung wäre, dass der Kapitalismus ohne jeden Zweifel Märkte benötigt. Aber es sind besondere Märkte, die unter dem Deckmantel des freien Austauschs Formen der Ungleichheit mit sich bringen. Für Marxisten ist der eine Markt, ohne den der Kapitalismus nicht auskommt, der Arbeitsmarkt, jene Institution, die auf magische Weise dem Menschen innewohnende Kräfte in etwas verwandelt, das wie Äpfel und Birnen verkauft werden kann. Andere, stärker von Keynes beeinflusst, betonen die Abhängigkeit des Kapitalismus von Finanzmärkten, auf denen Papiere (Anleihen, Aktien, Derivate) in Erwartung ihres fallenden oder steigenden Werts den Besitzer wechseln. Das sind keine gewöhnlichen Märkte. Beide machen es möglich, dass eine Klasse von Menschen – Kapitalisten – reich wird, ohne sonderlich viel zu tun, im ersten Fall, indem sie Arbeitskräfte unterbezahlen, im zweiten durch das Manipulieren von Bilanzen. Die Märkte für Arbeitskräfte und Finanzanlagen mögen auf den ersten Blick den Märkten für Brot oder Socken gleichen, sie gehören jedoch ganz eindeutig zur trüben, hierarchischen Welt des »Kapitalismus«, machen sie überhaupt erst möglich, und nicht zum transparenten, egalitären Raum des »ökonomischen Lebens«.
Eine zweite Erklärung für die falsche Verquickung ist, dass der Kapitalismus, anders als die Existenz von Märkten, aus sich heraus extrem schwierig zu rechtfertigen ist. Eine einfache Markt-Transaktion hat den sozialen Wert, Fremde zu einem gegenseitigen Nutzen zusammenzubringen, so dass am Ende der eine den anderen nicht über das Ohr gehauen haben wird. »Fair Trade« ist die aktuelle Fassung dieses Prinzips. Aber aus welcher Logik heraus hat der Eigner von Firmenaktien, eines Stücks Grund oder eines Seniorenheims das moralische Recht, im Lauf eines Jahres um zehn oder fünfzehn Prozent reicher zu werden, obwohl er keine Mühen oder originellen Ideen darauf verwendet hat, den Wert des betreffenden »Vermögensgegenstands« zu vergrößern? Liberale Ökonomen würden antworten, indem sie Profite, in denen sich Produktivitätsverbesserungen abbilden (und die deshalb positiv sind), von solchen unterscheiden, die bloße Marktmacht abbilden (und die deshalb schlecht sind).
In der Praxis ist diese Unterscheidung jedoch extrem schwierig zu treffen, und noch viel schwieriger ist es, für sie Regeln zu schaffen. Die entschiedensten Verteidiger des Kapitalismus akzeptieren oft den Vorwurf, dass er monopolistisch, ausbeuterisch und intransparent ist, halten aber dagegen, all dies seien notwendige Bedingungen dafür, dass eine heroische Minderheit, nämlich Unternehmer, erscheinen und reüssieren können. Diese Behauptung mag eine gewisse Plausibilität haben, wenn wir über seltene Fälle wie Steve Jobs sprechen, aber der Begegnung mit der gewöhnlichen Realität von mit ihren Wirtschaftsabschlüssen wedelnden Firmenchefs und Vermögensverwaltern, die das Hundertfache des Durchschnittslohns verdienen und das ihre »Vergütung« nennen, hält sie schwerlich stand.
Die liberale Ideologie hat dazu tendiert, dem Problem des Kapitalismus insgesamt auszuweichen und stattdessen so zu tun, als wäre das »ökonomische Leben« (also die vom Wettbewerb geprägten egalitären Märkte) noch der Kern unserer Wirtschaftswelt. Diese Kurzsichtigkeit manifestiert sich in den Wirtschaftslehrplänen der großen Universitäten, die trotz der Anstrengungen diverser Streiter für Alternativen und des von George Soros finanzierten Institute for New Economic Thinking weiterhin kein Interesse an Theorien zeigen, die Macht, Ungewissheit, Monopole und Instabilität betonen. Sie konzentrieren sich stattdessen auf eine Orthodoxie, in der die ökonomische Aktivität vor allem von Preisen und Anreizen bestimmt wird. Politiker klammern sich währenddessen an liberale Märchen von Arbeit, die sich bezahlt macht, von sozialer Mobilität und Eigentum für alle, die mit einer Wirklichkeit der Armut trotz Arbeit, des unverdienten Reichtums und aus dem Ruder laufender Mieten herzlich wenig zu tun haben. Und Finanzdienstleistungen maskieren sich als ein »Sektor« unter anderen, als verkauften sie ihre Waren ganz wie der bescheidene Ladeninhaber auf einem Marktplatz.
In The Price is Wrong fügt Brett Christophers dieser Liste ein potentiell noch drastischeres Symptom hinzu: das Unvermögen der Entscheidungsträger, die Transformation der Energieformen zu verstehen, an der das Fortbestehen des Planeten hängt. Die Grundannahme der Energieökonomen war all die Jahre, dass das Haupthindernis beim Wachstum erneuerbarer Energie ihre höheren Kosten wären, die es ihnen unmöglich machten, auf dem Markt mit fossilen Energieträgern zu konkurrieren, weshalb sie der Subventionierung durch den Staat bedürften. Entsprechend groß war die Freude, als die Internationale Energieagentur 2015 berichtete, dass nun endlich die erneuerbaren Energien (vor allem Solar- und Wind-Farmen) im Verhältnis zu Gas, Kohle, Öl und Atomkraft keine höheren Kosten mehr verursachten. Der Entscheidungsorthodoxie zufolge hätte das ein Wendepunkt sein müssen. Der Moment nämlich, in dem die Regierungen ihre Subventionen für den Sektor der Erneuerbaren streichen und in aller Ruhe beobachten, wie der Preismechanismus seine wunderbaren Wirkungen tut. Denn wenn Kohle, Gas und Öl nun die weniger kompetitive Option waren, dann müssten die Gesetze von Angebot und Nachfrage dafür sorgen, dass sie bald auf der Strecke blieben. Aber das ist keineswegs das, was passierte. Warum?