Apologie der Institution
Die Praxis der Kritik von Christoph MenkeDie Praxis der Kritik
Die Diskussionen um die rechtspopulistischen Bewegungen und Politiken haben einen Begriff ins Zentrum gerückt, der in den Theoriearsenalen der letzten Jahrzehnte in den hinteren Kammern verstaubte (und, wenn überhaupt, nur in verschämt metaphorisierter Beugung Verwendung fand): den Begriff der Institution. Die Institution ist der Punkt, auf den die Angriffe sich richten. Es geht um »Disruption«: darum, die bestehenden Institutionen zu besetzen, um sie nicht nur zu delegitimieren, sondern sie auszuhöhlen und zum Einsturz zu bringen. Darin liegt die Wahrheit der elitären, in der Tendenz antidemokratischen Kritik am »Populismus« dieser Politiken: dass es nicht mehr bloß um andere Werte, Normen, Prinzipien geht, durch die die bestehenden Institutionen neu ausgerichtet werden sollen; ja, nicht einmal nur darum, deren Strukturen und Operationsweisen zu verändern. Sondern um die Form der Institution, die Institutionalität, als solche. Die Politiken der Disruption trennen die Institutionen von sich selbst, ihre Ordnungen und Verfahren von ihrer normativen Grundlage; sie instrumentalisieren die Institution, und damit, allein damit bereits, zerstören sie sie.
Die Klage über die Populisten und ihre Infragestellung der Institutionen geht häufig, wenn sie von Liberalen und (zumeist ehemaligen) Linken formuliert wird, mit einer Selbstanklage einher: Waren wir es nicht selbst, die die Institutionen erst so geschwächt haben, dass sie den Angriffen nun hilflos ausgesetzt sind? Hat nicht unsere Kritik an den Institutionen ihre Demontage erst möglich gemacht? Tritt man nur einen kleinen Schritt zurück, wird man dies für eine der typischen Selbstüberschätzungen von Intellektuellen halten, die in ihrer Kritik den Grund der Krise sehen wollen (so wie es ihnen, von der anderen Seite, Reinhart Koselleck mit Carl Schmitt vorgeworfen hat). Weniger oberflächliche Analysen sehen in der Schwächung der Institutionen, die ihre gegenwärtige Disruption überhaupt erst möglich gemacht hat, weit stärkere, gesellschaftliche Mächte am Werk als die des kritischen Denkens. Das sind die Mächte eines kulturellen Individualismus, der in Institutionen nichts als die Mittel des eigenen Wohlergehens, ja die Instrumente des eigenen Erfolgs sieht und damit dem Vorhaben zuarbeitet, die gesellschaftliche Reproduktion im Ganzen nach dem ökonomischen Modell zu formen. Die Krise der Institution ist nicht politisch, sondern gesellschaftlich. In ihr geht es um den Begriff, um die Form der Gesellschaft. Seit es die (»bürgerliche«) Gesellschaft gibt, stellt sich die Frage nach ihrer Differenz: der Differenz der Gesellschaft gegenüber der Ökonomie. Die Institutionen der Gesellschaft markieren diese Differenz.1 Sie sind die Dimension des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die irreduzibel ist auf die Ökonomie. Die Krise der Institutionen, die sie den Politiken der Disruption hilflos ausliefert, ist die Krise der Differenz der Gesellschaft gegenüber der Ökonomie. Sie gründet in der ökonomischen »Desorganisation« der bürgerlichen Gesellschaft.2
Die Zurückführung der politischen Disruption auf die gesellschaftlichen Tendenzen der Deinstitutionalisierung lässt eine entscheidende Frage aber unbeantwortet: Was ist das Problem an der Krise der Institution, ja, der Institutionalität? Was beklagen wir hier? Wozu sind (oder waren) Institutionen da? Was ist der – gute – Gebrauch der Institution, der Gebrauch, der ihrer Bestimmung entspricht, der ihrer Disruption entgegenzusetzen und gegen ihre Ökonomisierung zu verteidigen ist?
Die Dialektik der Institution
Die geläufige Antwort auf diese Fragen besagt, dass wir Institutionen zur Stabilität brauchen. Ohne Institutionen zerfällt der gesellschaftliche Zusammenhang. Wir brauchen also stabile Institutionen zur gesellschaftlichen Integration. Das gilt insbesondere für einen so fragilen Zusammenhang wie den moderner Gesellschaften, die ohne eine sie tragende sittliche Substanz operieren. In einer solchen Gesellschaft sind Institutionen Substanzsubstitute. Sie geben einen verlässlichen Rahmen, der vordefiniert, weniger, was man tun darf und soll, als vielmehr, wie man es tut. Nur innerhalb eines solchen Rahmens sind all die unterschiedlichen Weisen, zu produzieren, argumentieren, glauben, urteilen, forschen, lehren, unterhalten und was auch immer möglich. Institutionen sind demnach stabilisierend, weil sie die Unterschiede, die Unterschiedlichkeit begrenzen und dadurch ermöglichen: weil sie Bedingungen festlegen, unter denen das Unterschiedliche sich entfalten kann. Diese Bedingungen werden »neutral« genannt. Destabilisierung der Institutionen bedeutet daher gesellschaftliche Desintegration. Dann muss es zur Bewältigung der Krise also um die Restabilisierung der Institutionen gehen.
Dieses Programm ist aber nicht nur aufgrund seiner Ängstlichkeit, seiner blockierten Zeitlichkeit und seiner restringierten Fantasie – die sich die Zukunft bestenfalls als Rückkehr in die Vergangenheit, in eine Zeit vor der Krise, vorzustellen vermag – zum Scheitern verurteilt. Zum Scheitern verurteilt ist es vor allem, weil es vergisst oder verdrängt, dass die Stabilität verheißende Institution wesentlich instabil ist. Der Begriff der Institution ist instabil. Die Institution kann gar nicht begriffen werden, ohne ihren Widerspruch zu entfalten. Die Institution zu denken heißt, ihren Widerspruch zu denken; es heißt dialektisch zu denken. Oder »Institution« ist ein dialektischer Begriff (aber welcher Grundbegriff der sozialen Welt ist das nicht?), und das ist der Einwand gegen die Rede von der Stabilität der Institution: Sie ist undialektisch. Die Institution zu verteidigen, weil sie Stabilität und dadurch Integration gewährleiste, heißt, nicht die Institution zu verteidigen (sondern ihr Imaginäres). Die Apologie der Institution kann nur so erfolgen, dass sie ihren Widerspruch entfaltet: durch ihre Kritik.
Worin besteht der Widerspruch der Institution, der ihre Apologie zur Dialektik nötigt? In einer der Diskussionen, die Arnold Gehlen und Theodor W. Adorno im Rundfunk geführt haben, ging es im Jahr 1967 um »Freiheit und Institution«.3 Dabei sind sich beide schnell einig, dass die Institution und die Freiheit einander weder gleich- noch entgegengesetzt werden können, sondern ihr Verhältnis »hintergründiger« (Gehlen) oder eben »dialektischer« (Adorno) gedacht werden muss. Nach Gehlen »entlasten« Institutionen die Subjekte davon, selbst über die letzten Zwecke und grundlegenden Normen entscheiden zu müssen, die ihr Leben bestimmen, und ermöglichen dadurch dasjenige Maß und diejenige Art der Freiheit, die Menschen – jedenfalls den Allermeisten, den Vielen – angemessen ist. Nach Gehlen ermöglichen Institutionen die wahre Freiheit, die er der modernen Idee autonomer »Selbstbetätigung« entgegensetzt. Sie ermöglichen die Freiheit durch begründungslose, begründungsentlastete wie -entlastende autoritative Vorgaben.4 Adorno gibt dem Begriff der Entlastung, den er von Gehlen aufnimmt, den genau entgegengesetzten Sinn. Auch nach Adorno braucht die Freiheit der Subjekte Institutionen als Voraussetzung. Aber nicht, um die Subjekte von grundlegenden Entscheidungen (und damit von der Verantwortung), sondern um sie von den Notwendigkeiten des Lebens zu entlasten, die sie zur Freiheit gar nicht erst kommen lassen. Institutionen sind für Adorno nur freiheitsermöglichend, wenn sie – das ist die unersetzliche Aufgabe der Kritik – von jedem Moment der Herrschaft »über Personen« gereinigt und rein funktional geworden sind: zur bloßen »Verwaltung von Sachen« (wie Adorno mit Friedrich Engels sagt), damit sich die Freiheit der Subjekte jenseits der Institutionen entfalten kann.
Die Übereinstimmung, die Adorno und Gehlen in ihrem Gespräch immer wieder bekunden, ist also keine. Dass es die Freiheit nur durch die Institution gibt, hat für beide einen strikt entgegengesetzten Sinn. Für Gehlen bedeutet es Freiheit durch institutionelle Autorität, für Adorno Freiheit durch institutionelle Funktionalität – und daher über die Institution hinaus, außerhalb von ihr. In der »verwalteten Welt«, unter Voraussetzung ihrer spezifischen Form der Autorität, gibt es nach Adorno keine Freiheit. Die durch institutionelle Autorität erlaubte Freiheit ist unfrei, wahre Freiheit dagegen ist antiautoritär und daher außerinstitutionell.
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