Arbeit und Selbst im Zeitmeer
Heike Geißlers »Saisonarbeit« von Kevin VennemannSechs oder sieben Minuten nach Beginn von Meshes of the Afternoon, einem Kurzfilm aus dem Jahr 1943, gibt es diese eine ganz kurze Szene, eigentlich nur ein paar Einstellungen: Die Hauptfigur (Regisseurin Maya Deren selbst) kriecht mit rudernden Armen über die Wohnzimmerdecke in ihrem Spanish-Colonial-Revival-Haus in den Hollywood Hills. Immer wieder versucht sie sich von der Decke zu lösen, immer wieder wird sie zurückgezogen und entdeckt sich selbst dann von dort oben tief schlafend in einem der Wohnzimmersessel unter ihr, wo sie von sich selbst träumt, die mit rudernden Armen über die Wohnzimmerdecke in ihrem Spanish-Colonial-Revival-Haus in Hollywood kriecht, sich von dort oben im Sessel unten beobachtet. Und so weiter. Einige Schnitte später, am Fenster, betrachtet Derens Figur sich, wie sie wiederholt die Einfahrt hinauf- und hinunterläuft, einer geheimnisvollen Kreatur in Mönchskutte und mit Spiegelgesicht hinterher.
Mit einer Laufzeit von knapp unter fünfzehn Minuten ist Meshes of the Afternoon ein trügerisch kurzes Arrangement von komplexer Tiefe, dessen Herausforderung darin besteht, den narrativen Hauptstrang auseinanderzuhalten von den vielen ineinander verwobenen Träumen und Visionen, denen sich Derens Figur hingibt. Welche der vielen identischen Frauen im Film ist die Protagonistin, welche sind Erscheinungen? Ist das dort sie mit dem Messer, und welche der drei Derens, die um den Esstisch versammelt sitzen, ist die echte, welche sind die Duplikate? Und schließlich, ist es Derens Figur selbst oder nur eine ihrer Iterationen, die dem Ozean als Riesin entsteigt, um dann entweder ihr Original oder eine Kopie von sich mit dem Tod zu bedrohen?
Diese und andere Szenen bei Deren visualisieren eine gewisse Unvollständigkeit, ein Nicht-man-selbst-Scheinen, eine grundsätzlich moderne Erfahrung, die Derens Werk so sehr prägt, dass wir sie sowohl in ihren Filmen als auch in ihren theoretischen Schriften immer wieder zögern sehen können, immer wieder innehalten, umkehren, als sei sie ihrer selbst nicht vollkommen sicher, bevor sie dann umso energischer Anlauf nimmt. Diese produktive Mischung aus Zögerlichkeit und Eindringlichkeit und dann noch größerer Entschlossenheit zeigt sich beispielsweise in ihrem Manifest An Anagram of Ideas on Art, Form and Film. Entstanden 1946 zum Ausklang der knapp dreißig Jahre andauernden Manifest-Welle der Avantgarden, verzichtet Derens Anagram auf jene Großmäuligkeit und programmatische Selbstgewissheit, die dreißig Jahre lang noch jedes Manifest hatten definieren müssen. Ein zögerliches, reflektiertes Manifest, das reflektiert und zögert allein deshalb, um dann aus umso besseren Gründen umso »dynamischer und unberechenbarer« zu sein: »Die moderne Spezialisierung hat die Vorstellung des ganzheitlichen Menschen im Grunde abgeschafft. Man scheut sich davor, in Gebiete einzudringen oder auf sie Bezug zu nehmen, die streng genommen nicht die eigenen sind. Weil genau dies hier jedoch notwendig war […], ist es durchaus möglich, dass ich hier in verschiedenen Details ungenau gearbeitet habe [… Diese Nachlässigkeiten] wurden begangen, um zu demonstrieren, dass der Film keine lokal begrenzte, spezialisierte Kunstform ist, sondern genau wie die anderen Kunstformen eine profunde Beziehung zum Menschen besitzt.«1