In der Nähe sprechen
von Kevin VennemannEinmal im Jahr, im Frühling, lese ich mit einer Gruppe neunzehnjähriger Zweitsemestlerinnen die Gründungserklärung des Combahee River Collective, eines Verbunds schwarzer Feministinnen aus Boston: ein ganz kurzer Text, zehn Seiten, datiert auf den April 1977, sachlich im Ton, präzise in der Struktur. In den Titeln der vier Abschnitte deutet sich an, wie sich endlich jenes eine historische Unrecht überwinden lassen werde, das die Kollektivistinnen erst zusammengebracht hatte: 1. Die Genese des schwarzen Feminismus. 2. Woran wir glauben. 3. Schwierigkeiten, die sich bei der Agitation schwarzer Feministinnen ergeben. 4. Anliegen und Praxis des schwarzen Feminismus.1
In dieser zwölften Semesterwoche des Seminars zur Geschichte und Politik des Manifests als literarischer Gattung haben wir uns nach langen Gesprächen über Marx und über die unvermeidlichen Futuristen, dann auch über Hugo Ball und Dada, über Valentine de Saint-Point, über Sergei Eisenstein und Guy Debord längst daran gewöhnt, dass ein Manifest gehört werden wollen muss und deshalb schreien aus vollem Hals und geifern, oft auch Unfug, halb Durchdachtes und nur Empfundenes. Mit seinen letzten Zeilen muss ein Manifest sich dann zu blumigem Pathos hinaufschrauben, und die Manifestierenden müssen wir uns auf einem Balkon vorstellen können, hoch oben, von wo aus sie mit diesen letzten Zeilen die aufzuwiegelnden Massen aufwiegeln, übergeschnappt, im Rausch.
Ganz anders als solche Urtypen des modernen Manifests, überlegter nämlich, erdgebundener, sorgfältiger, liest sich am Ende die Erklärung des Combahee River Collective: »Als schwarze Feministinnen und Lesben wissen wir, dass wir eine ganz bestimmte revolutionäre Aufgabe erfüllen müssen, und wir sind bereit für die lebenslange Arbeit und für den Kampf, der uns bevorsteht.« Kein Zorn, keine Hyperbeln, kein Bombast. Keine exzentrischen Metaphern oder waghalsigen Analogien, keinerlei Selbstverherrlichung, nur trockene Akzeptanz der Gegebenheiten und der nötigen nächsten Schritte. Dabei hätte die Gruppe, ihrer eigenen Analyse zufolge, weitaus mehr Grund gehabt, sich gehen zu lassen, als die übrigen Autorinnen und Autoren auf dem Semesterplan. Offenkundig sei, »wie wenig Wert man in den vergangenen vier Jahrhunderten, die wir uns bereits in der Gefangenschaft der westlichen Hemisphäre befinden, unserem Leben zuspricht. Uns wird klar, dass wir die Einzigen sind, denen genug an uns liegt, um konsequent für unsere Befreiung zu kämpfen. Unsere politische Arbeit hat sich aus einer gesunden Liebe für uns selbst und für unsere Schwestern und unsere Community entwickelt, wodurch es uns möglich wird, unseren Kampf und unsere Arbeit fortzusetzen. Dieser Fokus auf unsere eigene Unterdrückung findet seine Form in dem Begriff Identitätspolitik. Wir glauben, dass die umfassendste und potentiell radikalste politische Arbeit unmittelbar aus unserer eigenen Identität resultiert und nicht aus der Arbeit, die Unterdrückung anderer zu beenden. Im Fall schwarzer Frauen handelt es sich dabei um einen besonders abstoßenden, gefährlichen, bedrohlichen und deshalb revolutionären Begriff, weil es beim Blick auf all die politischen Bewegungen vor uns so offenkundig wird, dass alle anderen ihre Befreiung offenbar mehr verdienen als wir.«
Dennoch diese Zurückhaltung, eine an diesem Punkt der Geschichte des Manifests doch auffallende Konzentration. Im Seminar können wir über die Gründe solch scheinbar detachierter Entschlossenheit nur spekulieren, dass die Kollektivistinnen als schwarze Frauen daran gewöhnt sein mochten, dass ihnen ein Leben lang jeder Zorn und jede noch so legitime Empörung als disqualifizierende Emotionalität ausgelegt worden sein mag, als Hysterie, und deshalb ihre Politik, sowieso ihr gesamtes Sein, als Petitesse abgetan. Wir vermuten zweitens, dass die Gruppe sich deshalb entschloss, die Bedingungen ihres Lebens so zu schildern, wie sie mit ihnen umzugehen lernen musste: pragmatisch und kompromisslos. Auf ihre ursprünglichen »feelings of craziness«, auf all die Zweifel, ob ihrer eigenen Erfahrung denn überhaupt zu trauen war, da ihr doch niemand sonst zu trauen schien und ihnen nur allzu häufig abgesprochen worden war, dass sie wirklich empfanden, was sie empfanden, sei nach und nach ein Bewusstsein für Begrifflichkeiten gefolgt wie »Geschlechterpolitik, patriarchale Herrschaft und, insbesondere, Feminismus«. Mit diesen emanzipatorischen Werkzeugen ließen sich die eigenen Erfahrungen legitimieren und endlich auch konkrete politische Auswege andenken. Wir vermuten also drittens, dass es dem Kollektiv, einmal bei einem theoretischen Verständnis der eigenen Bedingtheit angelangt, unmöglich wurde, wie so viele andere vor ihnen zu den Sternen zu sprechen, sei es auch nur performativ.
Die oben zitierte Passage prägt den Begriff »Identitätspolitik«. Nach langer Nischenexistenz seit dieser überhaupt ersten Nennung 1977 kommt ihm in den vergangenen Jahren mehr und mehr, oft böswillige Aufmerksamkeit zu, ohne dass er dabei immer so verstanden wird, wie ursprünglich beabsichtigt: Die verschiedenen Formen sozialer Unterdrückung drücken sich nicht lediglich hier als Rassismus aus oder als Sexismus dort, jeweils unabhängig voneinander als Misogynie, Homophobie, Klassismus oder als verweigerter Bildungszugang. Sie müssen als ineinandergreifend und simultan wirkend verstanden werden. Im Fall des Kollektivs bedeutet dies eine sechsfache Intersektion all dieser und noch anderer Formen der Ausgrenzung, und für schwarze Frauen generell bedeutet diese dichte Verflechtung von Faktoren, dass sie in der US-amerikanischen Geschichte und Gesellschaft isolierter sind als jede andere Gruppe. Deshalb die Annahme des Kollektivs, dass schwarze Frauen, gemeinsam in dieselben identitären Kategorien gesperrt, ihre Situation in all ihren Dimensionen nicht nur als Einzige erfahren, sondern als Einzige so differenziert analysieren können wie nötig. Deshalb die Schlussfolgerung, dass schwarze Frauen selbst am besten einzuschätzen vermögen, wie sie sich zu helfen haben, und deshalb auch die Entscheidung, das eigene Befreiungsprojekt selbstbestimmt in die eigene Hand zu nehmen, dabei ausschließlich nach den eigenen Bedingungen vorzugehen, sich nur mehr aufeinander zu verlassen.
Dieses ursprüngliche Verständnis einer Identitätspolitik ist weder eitel noch egozentrisch, es glorifiziert das Eigene so wenig wie das Besondere. Vielmehr begreift es die spezifischen Erfahrungen schwarzer Frauen als die Summe all dessen, was sie in einer weißen Mehrheitsgesellschaft für diese Gesellschaft zu sein gezwungen sind, die ihnen erstens bestimmte Identitätskonstrukte aufzwingt, auf deren Inhalte sie zweitens dann keinen großen Wert legt. Um solche Kategorisierungen zu überwinden, affirmiert sie diese Form der Identitätspolitik und macht sie für sich nutzbar. Für Bündnisse (außer mit anderen, ebenfalls mehrfach marginalisierten Frauen of color) bringt sie genauso wenig Geduld auf wie für das Vertrauen auf eine Klassenpolitik, die davon träumt, mit dem Ende des Hauptwiderspruchs oder seiner unwahrscheinlichen Humanisierung auf einen Schlag alle Probleme aller zu lösen.
Die Studentinnen im Seminar sind alles andere als ahnungslos, wenn sie in der eukalyptusschweren Idylle unseres College-Städtchens nahe Los Angeles mit achtzehn ihr Studium beginnen. Viele sind seit der High School in Klimaschutzbündnissen aktiv, in Aktionsgruppen gegen Polizeigewalt und häuslichen Missbrauch, gegen die Abschiebung unzureichend dokumentierter Einwanderinnen, tatsächlich als Gewerkschaftlerinnen, als Freiwillige in Mutual-Aid-Organisationen, in Frauenhäusern, im Kampf gegen die Unterwanderung des Abtreibungsparagraphen; und die Zahl der Teenager, die in ihren Jugendzimmern noch vor dem Abitur Kropotkin gelesen haben und Adorno und Angela Davis, ist erstaunlich. Sowieso die Zahl derjenigen, die bereits identitätspolitisch geschult sind. In welch ursprünglicher Form der Begriff vor über vierzig Jahren seinen Anfang nahm, ist den meisten neu.
Die Idee ist älter. Anna Julia Cooper im späten 19. Jahrhundert, W. E. B. Du Bois im frühen 20., Claudia Jones rund um dem Zweiten Weltkrieg haben darauf hingewiesen, dass die westliche Philosophie dem geplagten modernen Individuum auf der Suche nach sich selbst im tobenden Kapitalismus noch so sehr unter die Arme greifen könne – die schwarze Diaspora bleibe von solchen Lösungsansätzen unberührt. Spezifische Situationen bedürften spezifischer Lösungen, die sich von niemandem besser entwickeln ließen als von den Verfemten selbst. Frances M. Beale spricht 1969 von jener »doppelten Strafe«, die es in den Vereinigten Staaten und in der Welt bedeute, schwarz und Frau zu sein und historisch somit in doppelter Hinsicht entrechtet.2 Eine konkrete Strategie für die Absolution ihrer eigenen vielfachen Ächtung formuliert dann das Combahee River Collective.
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