Heft 868, September 2021

In der Nähe sprechen

von Kevin Vennemann

Einmal im Jahr, im Frühling, lese ich mit einer Gruppe neunzehnjähriger Zweitsemestlerinnen die Gründungserklärung des Combahee River Collective, eines Verbunds schwarzer Feministinnen aus Boston: ein ganz kurzer Text, zehn Seiten, datiert auf den April 1977, sachlich im Ton, präzise in der Struktur. In den Titeln der vier Abschnitte deutet sich an, wie sich endlich jenes eine historische Unrecht überwinden lassen werde, das die Kollektivistinnen erst zusammengebracht hatte: 1. Die Genese des schwarzen Feminismus. 2. Woran wir glauben. 3. Schwierigkeiten, die sich bei der Agitation schwarzer Feministinnen ergeben. 4. Anliegen und Praxis des schwarzen Feminismus.1

In dieser zwölften Semesterwoche des Seminars zur Geschichte und Politik des Manifests als literarischer Gattung haben wir uns nach langen Gesprächen über Marx und über die unvermeidlichen Futuristen, dann auch über Hugo Ball und Dada, über Valentine de Saint-Point, über Sergei Eisenstein und Guy Debord längst daran gewöhnt, dass ein Manifest gehört werden wollen muss und deshalb schreien aus vollem Hals und geifern, oft auch Unfug, halb Durchdachtes und nur Empfundenes. Mit seinen letzten Zeilen muss ein Manifest sich dann zu blumigem Pathos hinaufschrauben, und die Manifestierenden müssen wir uns auf einem Balkon vorstellen können, hoch oben, von wo aus sie mit diesen letzten Zeilen die aufzuwiegelnden Massen aufwiegeln, übergeschnappt, im Rausch.

Ganz anders als solche Urtypen des modernen Manifests, überlegter nämlich, erdgebundener, sorgfältiger, liest sich am Ende die Erklärung des Combahee River Collective: »Als schwarze Feministinnen und Lesben wissen wir, dass wir eine ganz bestimmte revolutionäre Aufgabe erfüllen müssen, und wir sind bereit für die lebenslange Arbeit und für den Kampf, der uns bevorsteht.« Kein Zorn, keine Hyperbeln, kein Bombast. Keine exzentrischen Metaphern oder waghalsigen Analogien, keinerlei Selbstverherrlichung, nur trockene Akzeptanz der Gegebenheiten und der nötigen nächsten Schritte. Dabei hätte die Gruppe, ihrer eigenen Analyse zufolge, weitaus mehr Grund gehabt, sich gehen zu lassen, als die übrigen Autorinnen und Autoren auf dem Semesterplan. Offenkundig sei, »wie wenig Wert man in den vergangenen vier Jahrhunderten, die wir uns bereits in der Gefangenschaft der westlichen Hemisphäre befinden, unserem Leben zuspricht. Uns wird klar, dass wir die Einzigen sind, denen genug an uns liegt, um konsequent für unsere Befreiung zu kämpfen. Unsere politische Arbeit hat sich aus einer gesunden Liebe für uns selbst und für unsere Schwestern und unsere Community entwickelt, wodurch es uns möglich wird, unseren Kampf und unsere Arbeit fortzusetzen. Dieser Fokus auf unsere eigene Unterdrückung findet seine Form in dem Begriff Identitätspolitik. Wir glauben, dass die umfassendste und potentiell radikalste politische Arbeit unmittelbar aus unserer eigenen Identität resultiert und nicht aus der Arbeit, die Unterdrückung anderer zu beenden. Im Fall schwarzer Frauen handelt es sich dabei um einen besonders abstoßenden, gefährlichen, bedrohlichen und deshalb revolutionären Begriff, weil es beim Blick auf all die politischen Bewegungen vor uns so offenkundig wird, dass alle anderen ihre Befreiung offenbar mehr verdienen als wir.«

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