Heft 895, Dezember 2023

Arbeitsauftrag Aufklärung

Klaus Heinrichs »ursprung in actu« von Wolfram Ette

Klaus Heinrichs »ursprung in actu«

Seit der letzten Veröffentlichung einer Vorlesung des Berliner Religionswissenschaftlers Klaus Heinrich ist viel Zeit vergangen – Zeit, in der sich Wesentliches zugetragen hat, nicht bloß in Bezug auf Heinrich selbst, sondern auch in Bezug auf unser Selbstempfinden als menschliche Gattung, und deswegen, da dies sein Lebensthema war, eben auch in Bezug auf Klaus Heinrich. Er ist im November 2020 gestorben; kurz zuvor hatte der Freiburger Verlag ça ira es übernommen, die Veröffentlichung seines Werks weiterzuführen; in der Hauptsache also, da Heinrich nur wenig publiziert hat, die Edition der von seinen Studentinnen und Studenten mitgeschnittenen Vorlesungen zu besorgen, die er fast durchlaufend von 1971 bis 1999 hielt.

Den Auftakt der Reihe bildet eine Einführungsvorlesung aus dem Jahr 1990, in der Heinrich sich mit Heideggers Ereignisphilosophie auseinandersetzt. Niedergeschrieben zwischen 1936 und 1939 und von den Herausgebern als sein zweites Hauptwerk (nach Sein und Zeit) annonciert, war der Band gerade erst aus dem handschriftlichen Nachlass ediert und der Gesamtausgabe hinzugefügt worden. Heinrichs besonderes Interesse an diesem Text erklärt sich vor dem Hintergrund der hitzigen Postmodernedebatten der 1980er Jahre, die das für ihn verbindliche Rationalitätsideal der Aufklärung massiv infrage gestellt, dem Ereignisbegriff hingegen eine erstaunliche Konjunktur beschert hatten. In dem Maß, in dem die großen Geschichtserzählungen an Überzeugungskraft verlieren, so wird das in der Vorlesung erklärt, tritt die punktuelle Intensität eines als Einbruch erfahrenen Moments an die Stelle von in der Zeit sich realisierenden Sinnzusammenhängen, die immer auch Syntheseleistungen der durch sie sich bewegenden menschlichen Subjekte sind

»Das das Kingdom of God säkularisierende Reich der Vernunft, das Kingdom of Man, war ein erster Ersatz [der christlichen Heilsgeschichte], der […] die noch nicht erreichte, aber erreichbare Vollkommenheit in die Zukunft verlegte. Hier blieb noch so etwas wie Teilhabe an einem für die Gattung insgesamt bedeutungsvollen Weg. Und das gab allen Aktionen, die darauf sich bezogen – wissenschaftliche Forschung, wissenschaftlicher Fortschritt –, einen Sinn, weil daran teilhabend. Das alles wird […] in Frage gestellt, denn das Reich der Vernunft war trotz allem nicht herbeigekommen […] Und nun wird zur gleichen Zeit nach einem neuen Sinnträger gesucht, auf den man sich bei seinen eigenen Wegen berufen konnte, und man gerät dabei in einen Konflikt zwischen einem immer unglaubwürdiger werdenden Fortschreiten und andererseits epiphanischen Intensitätserfahrungen […], die dafür herhalten müssen, nicht weniger sinnvoll zu sein.«

Das lesen wir über die Vorgeschichte von Heideggers Ereignisphilosophie. Und heute? Der Konsum als die mittlerweile ausschlaggebende Kategorie, durch die wir mit der Welt der Dinge verknüpft sind, wird als Ereignis gefeiert: Er muss Ereignis sein, um seine Kundinnen und Kunden zu finden. Der Erfolg der Nachrichten, die wir konsumieren, hängt von der Ereignisqualität ab, die sie den historischen Vorgängen zu verleihen vermögen. Ereignis ist überhaupt der fast einzige Modus, durch den ein Abwesendes gegenwärtig und zu einem Teil unserer Realität gemacht werden kann. Ja selbst für die trübe Zukunftsperspektive, die sich angesichts der Folgen des Klimawandels vor uns auftut, gilt, dass sie zur punktuell einschlagenden Katastrophe, also zum Ereignis verdichtet werden muss, um uns zu erreichen: Prinzip zahlloser Weltuntergangsfilme und -serien, aber auch von politischen Bewegungen wie der »Letzten Generation«, die uns gegen den Augenschein als letzte Generation bezeichnen muss, um noch jemanden zu erreichen.

Es gibt also gute Gründe, sich mit Heinrichs Heidegger-Analyse auch noch 2023 zu beschäftigen. Ich war damals selbst als Gasthörer in dieser Vorlesung, und war hin- und hergerissen. Auf der einen Seite hat mir wie den meisten Heinrichs Fähigkeit, druckreif zu improvisieren, sehr imponiert. Seine von vornherein kritische Einstellung zu Heidegger, die auch vor den sprachlichen Zumutungen seiner Diktion den gesunden Menschenverstand nicht preisgab, war sympathisch und leuchtete mir ein. Und dass es an der Freien Universität Berlin ein Religionswissenschaftler und kein Philosoph war, der sich mit uns über diese allerneueste und angepriesene Veröffentlichung aus dem Hause Heidegger auseinandersetzen wollte, kam meiner skeptischen Einstellung gegenüber der akademischen Philosophie, die sich wenig um die Aktualität bekümmerte, entgegen.

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