Aus dem Leben eines Korrekturlesers
von Thomas Schaefer»Sehen Sie, gnädiger Herr, ein Komma!«
Friedrich Hölderlin
Nachdem er sich der üblichen morgendlichen Obliegenheiten entledigt hat – Körperpflege, Frühstück, Zeitunglesen –, begibt sich der Korrekturleser in sein Arbeitszimmer, wo auf dem Schreibtisch schon ein neuer Auftrag wartet: ein starker Stoß von DIN-A4-Blättern, Druckfahnen eines zukünftigen Buches, die er am Vortag im Verlag abgeholt hat, im Tausch gegen fertig bearbeitete. Des Weiteren auf der Arbeitsplatte: Bleistift, Anspitzer, Radiergummi – mehr braucht’s nicht. Dazu natürlich das Lineal, mit dem der Korrekturleser in den nächsten Stunden Blatt für Blatt Zeile für Zeile hinabfahren wird, auf der Suche nach einem falsch platzierten Komma, einem orthografischen Lapsus, unzulässigen Zusammenschreibungen, uneinheitlich gehaltenen, fahrlässig getrennten oder sonst wie nicht regelkonform verfassten Wörtern und Sätzen.
Die Aufgabe des Korrekturlesers besteht darin, streng nach Duden ausschließlich auf die Einhaltung der Regeln zu achten. Darüber hinausgehende Defekte eines Textes, schlechter Stil oder inhaltliche Unhaltbarkeiten, haben ihn nicht zu interessieren. Also darf auch die aktuelle Ausgabe des Duden auf dem Schreibtisch nicht fehlen. Zudem verfügt der Korrekturleser über ein Regal mit allerlei Wörterbüchern und Lexika, das seinem Arbeitszimmer das Flair einer Studierstube verleiht. Der Korrekturleser war früher ein bisschen stolz, dass er alles Wichtige in seiner Wohnung präsent hatte, es gefiel ihm, bei der Arbeit aufzustehen, ans Regal zu treten, ein Nachschlagewerk hervorzuholen und nach der korrekten Schreibweise eines ihm nicht geläufigen Begriffs zu blättern. Heute erledigt er solche kleinen Recherchen wie nebenbei mittels seines Laptops. Das Korrekturlesen aber erfolgt immer noch auf Papier. Zum Glück.