Heft 848, Januar 2020

Aus- und Einsicht

Wittgenstein in Norwegen von Wolfgang Hottner

Wittgensteins erste Reise nach Norwegen im August 1913 gleicht einer Flucht. Gelangweilt und gestresst vom universitären Betrieb in Cambridge macht er sich zusammen mit seinem Geliebten David Pinsent von Hull auf nach Kristiania (später Oslo), um dort mit dem Zug weiter nach Bergen zu fahren. Die beiden entdecken Südwestnorwegen und verbringen die meiste Zeit in Øystese, einem kleinen Dorf im Hardangerfjord. Wittgenstein kann ungestört arbeiten, zwischendurch wird gewandert, im Fjord gesegelt und abends Domino gespielt. Die Ruhe fasziniert den erst vierundzwanzigjährigen Wittgenstein, und er gesteht Pinsent, noch nie einen Ferienaufenthalt dermaßen genossen zu haben. Die Abgeschiedenheit und Anonymität tun ihm so gut, dass er sich am Ende des Urlaubs entschließt, für einige Zeit ganz nach Norwegen zu ziehen, um sich dort in Probleme der Logik zu vertiefen. Sein Umfeld versucht noch, Wittgenstein umzustimmen, doch dessen Entschluss scheint gefasst.

Bertrand Russell, Wittgensteins Lehrer in Cambridge, schildert die Situation folgendermaßen: »Er war gerade aus Norwegen zurückgekehrt und entschlossen, sofort wieder dorthin zurückzufahren, um da in völliger Abgeschiedenheit zu leben, bis er alle Probleme der Logik gelöst hat. Ich sagte zu ihm, dort werde es dunkel sein, und er erwiderte, er hasse das Tageslicht. Ich sagte, er werde einsam sein, und er antwortete, durch Gespräche mit intelligenten Leuten habe er seinen Geist schon genügend prostituiert. Ich sagte, er sei verrückt, und er erwiderte, Gott bewahre ihn vor der Verstandesgesundheit.«1

Im Oktober 1913 kommt Wittgenstein zurück nach Norwegen: Von Bergen aus bricht er nach Skjolden auf, an jenen Ort, den er insgesamt fünfmal besuchen und in dem er zwei Jahre seines Lebens verbringen wird. Skjolden ist ein kleiner Ort am Ende des Lusterfjords, einem Ausläufer des über 200 Kilometer langen Sognefjords, des längsten und tiefsten Fjords Europas. Das Wasser des Lusterfjords ist an vielen Stellen türkisblau, und gleich hinter den mächtigen Bergketten befinden sich (mittlerweile) drei Nationalparks: Jotunheimen, Breheimen und Jostedalsbreen sowie der Nigardsbreen-Gletscher.

Doch warum ausgerecht Skjolden? Wittgensteins Wahl ist keine zufällige, er wird durch die Kontakte des österreichisch-ungarischen Konsuls und Unternehmers Jacob Kroeplin Jr. auf das Dorf aufmerksam. Kroeplin vermittelt Wittgenstein weiter an Halvard Drægni, den Besitzer einer Limonaden- und Marmeladenfabrik, der stets Wittgensteins Bezugsperson in Skjolden bleiben wird. Lange Zeit konnte sich auch jenseits der Wittgenstein-Forschung die Vorstellung halten, dass Wittgensteins norwegische Aufenthalte von völliger Abgeschiedenheit geprägt waren. Doch Skjolden war auch im Jahr 1913 keineswegs das Ende der Welt: Drægnis Obsthandel sowie eine kurzzeitig florierende Eisfabrik tragen zu großer Geschäftigkeit in Skjolden bei. Die alljährlichen Aufenthalte Kaiser Wilhelms II. seit Ende der 1880er Jahre markieren den Anfang des Fjordtourismus. Darüber hinaus macht die steigende Beliebtheit des Bergtourismus die Region in Europa bekannt und führt zu weiterer touristischer und infrastruktureller Erschließung. Heute halten in Skjolden während der Sommermonate Kreuzfahrtschiffe, Touristen steigen von dort in Busse in Richtung der angrenzenden Nationalparks.

Wittgenstein will während seiner Aufenthalte in Skjolden nicht mit Touristen in Kontakt geraten. Er ist stets darauf bedacht, Urlauber zu meiden, jene Menschen, die für ihn »im Baedeker lesend, vor einem Gebäude stehen und durch das Lesen der Entstehungsgeschichte etc. etc. daran gehindert werden, das Gebäude zu sehen«. Wittgenstein ist zum Arbeiten nach Skjolden gekommen. Er lernt anfangs ein wenig Norwegisch, pflegt aber nur wenige soziale Kontakte: Wittgenstein versteht sich mit dem Postmeister Hans Klingenberg, bei dem er sich zunächst einmietet, er unternimmt gelegentliche Wanderungen mit dem Schneider Ola Galde, freundet sich mit dem 14-jährigen Bauernjungen Arne Bolstad an; während seiner späteren Aufenthalte wird die ehemalige Lehrerin Anna Rebni zur wichtigen Bezugsperson.

In einer (von Verklärung wahrscheinlich nicht ganz freien) Erinnerung aus dem Jahr 1931 macht Wittgenstein deutlich, dass dieser erste Aufenthalt in Skjolden einer großen Befreiung gleichgekommen zu sein scheint. Das Vorhaben, sich in Norwegen ausschließlich der eigenen philosophischen Arbeit zu widmen, scheint aufgegangen: »Als ich übrigens in Norwegen war, im Jahre 1913–14, hatte ich eigene Gedanken, so scheint es mir jetzt wenigstens. Ich meine, es kommt mir so vor, als hätte ich damals mir neue Denkbewegungen geboren (aber vielleicht irre ich mich). Während ich jetzt nur mehr alte anzuwenden scheine.«

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