Heft 858, November 2020

Convenience – Aufzeichnungen einer Japanreise

von Wolfgang Hottner

Tokyo

Mit der Marunouchi-Line fahren wir zu den Roppongi Hills, wo sich im 53. Stockwerk des Mori Towers ein Museum für zeitgenössische Kunst befindet sowie ganz oben eine runde Aussichtsplattform. Niemand unterhält sich in der U-Bahn, Handy-Gespräche sind verpönt, man belästigt die Mitfahrer nicht mit der Prosa des eigenen Lebens. Auch verdreht keiner die Augen, wenn man im Weg steht, kein »Lassen Sie die Leute doch erstmal aussteigen«. Empörung, vor allem stilisierte, ist keine sichtbare Verhaltensform im öffentlichen Raum, man vertieft sich in sich selbst und elektronische devices, in Lektüren, erholt sich von dem ständigen Ausweichenmüssen, der Aufgabe, den Bewegungsfluss im öffentlichen Raum nicht zu stören.

Minimal hektisch ist es im Februar 2019 tatsächlich nur zu den Stoßzeiten, weshalb ich mich von der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel in Tokyo kaum je gestresst fühle. Viele Passagiere haben die Augen geschlossen. Bisweilen wird die fast andächtige Stille aber von sehr lauten Räuspergeräuschen unterbrochen (niemand dagegen schnäuzt sich, auch schon vor Corona, öffentlich, die Qualität der Taschentücher ist dementsprechend unterirdisch). Dabei scheint es nicht um ein Auf-sich-aufmerksam-Machen zu gehen, eher um einen formlosen Laut, der in den Raum hineingetragen wird.

Am Mori Tower angekommen, führen einen freundliches Einweisungspersonal und die ausführliche Beschilderung zum Museum. Nach kurzem Zögern entscheiden wir uns nicht für die große Hokusai-Ausstellung, sondern für eine Sammelausstellung zeitgenössischer japanischer Künstler: Wir sehen verschiedenste Darstellungen von Katzen, die Olympischen Spiele werden ein paar Mal thematisiert, aber auch immer wieder die sogenannte Dreifachkatastrophe aus dem Jahr 2011. Auf der Rückfahrt nach Shibuya schlägt der Jetlag zu (war er jemals weg in den sechs Wochen?), und wir haben größte Mühe, nicht einzuschlafen.

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