Bundesrepublikanismus
Überlegungen zur Vorgeschichte der Gegenwart von Christian GeulenÜberlegungen zur Vorgeschichte der Gegenwart
Fast das gesamte 20. Jahrhundert hindurch hat der Begriff der Krise mehr die Gefährdung des Bestehenden als die Erscheinung eines Neuen beschrieben. Noch die neunziger Jahre, eingeleitet vom abrupten und überraschenden Ende des Kalten Krieges, waren kein Jahrzehnt der Zukunftsschau, sondern geprägt von einer weitgehenden Unsicherheit darüber, was kommen wird, sowie von der Sorge um eine Rückkehr dessen, was längst überwunden schien. Die eigentlichen Irritationen dieser Zeit waren Folge der überraschenden Konfrontation mit einer massiv veränderten Welt. Die Frage nach dem Ende der Geschichte oder eben nach ihrem Nicht-enden-Können lag dem Denken der 1990er Jahre sehr viel näher als die Frage nach der Zukunft.
Heute irritieren uns Krisen immer noch – jetzt aber, weil wir sie vor allem als Ankündigung dessen wahrnehmen, was uns im 21. Jahrhundert erwartet. Terror, Klima, Populismus, Pandemie, Krieg: In den zugehörigen Diskursen imaginieren wir diese Phänomene bevorzugt in ihren Fortsetzungen und Folgen. Die Vergangenheit dient dabei nur als Hintergrund und Vergleichsfolie: Den derzeitigen Konflikt des Westens mit Russland als »neuen Kalten Krieg« oder die rechtspopulistische Demokratieskepsis mit dem Schlagwort der »Weimarer Verhältnisse« zu beschreiben, markiert weniger historische Zusammenhänge als die etwas hilflose Suche nach überzeitlichen Analogien. Die eigentliche Sinnbildung aus den neuen Krisenerfahrungen erfolgt heute fast ausschließlich im Blick nach vorn.
Wenn dieser besondere Umgang mit Krisen aber nicht selbstverständlich ist, sondern ein Merkmal der Gegenwart, ein Kennzeichen unserer heutigen Zeit- und Selbstwahrnehmung, dann stellt sich die Frage nach der Vorgeschichte dieser besonderen Krisenwahrnehmung. Aus welchen Quellen speist sich das heutige Bedürfnis, aktuelle Erfahrungen in weitreichende Erwartungen zu übersetzen? Seit wann neigen wir dazu, aktuelle Krisen unmittelbar in die Zukunft hochzurechnen?
Erneuerungserwartung
Es spricht einiges für die Annahme, dass der Schock des 11. September 2001 dabei eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Die Terroranschläge in den USA wurden unmittelbar als gravierender historischer Einschnitt wahrgenommen. George W. Bush gab dieser Deutung mit dem umgewidmeten Begriff der »neuen Weltordnung« auch gleich einen dauerhaften Namen. Erst nach 9/11 war der Bann von 1989 gebrochen, war die Zukunft nicht mehr offen, sondern von einem sehr konkreten und neuen Bedrohungsszenario besetzt. Hier schien etwas begonnen zu haben, das unser Leben im 21. Jahrhundert auf Dauer bestimmen würde. Eben dieser neue Umgang mit aktuellen Krisen – ihre Hochrechnung zu dauerhaften Herausforderungen, ihre Verwandlung in Zukunftsszenarien und determinierende Prozesse, also die unmittelbare Übersetzung gegenwärtiger Erfahrung in Zukunftserwartung – sollte sich in der folgenden Reihe von Krisen, die wir bis heute erleben, wiederholen.
Und das nicht nur dort, wo einzelne Ereignisse deren Auslöser waren, wie bei der Finanzkrise von 2008/09, der Migrationskrise von 2015, der Pandemie von 2020ff. oder jetzt beim Krieg Russlands gegen die Ukraine. Auch der Populismus, die Digitalisierung oder der Klimawandel gelten als Krisenprozesse von langer Dauer. Beim Klimawandel kommt dieses Zukunfts- und Prozessdenken vielleicht sogar am deutlichsten zum Ausdruck. Denn hier verknüpfen sich Krisenbewusstsein und Veränderungswille, Apokalyptik und Aktionismus auf besonders enge Weise. Gerade die Überzeugung, dass es eigentlich schon zu spät sei, generiert einen teils radikalen Handlungswillen. Was Odo Marquard mit Blick auf das generelle Prozessdenken der Moderne schon 1979 formuliert hat, trifft den Kern des heutigen Klimadiskurses: »Es braucht jedermann viel Fatalismus, der kein Fatalist sein will […] Die Praxis macht stets nur das Wenige, was noch zu machen ist; damit sie möglich sei, muss in einem sehr beträchtlichen Umfang schon nichts mehr zu machen sein.« Die Namen gerade der jüngsten Formen des Klima-Aktivismus zeugen von dieser Logik: For Future, Extinction Rebellion, Die letzte Generation.
Ebenso deutlich von Zukunftsimaginationen geprägt sind die seit mittlerweile zwei Jahrzehnten insbesondere durch die Erfolge populistischer Parteien befeuerten öffentlichen Diskussionen um die »Krise der Demokratie«. Auch wenn die Klage darüber aus den unterschiedlichsten politischen Lagern kommt, folgt sie doch meist dem gleichen Grundtenor: Die Demokratie sei noch nicht fertig, noch nicht perfekt, sie müsse verbessert und vertieft, moderner, digitaler oder wehrhafter werden, vor allem aber müsse sie sich von althergebrachten Strukturen lösen sowie eine größere Teilhabe der Bürger ermöglichen.
Bemerkenswert ist nicht allein das breite Spektrum der dabei vorgetragenen Änderungsvorschläge, das von linken Genossenschaftsideen über liberale Programme einer digitalen Demokratie bis zum rechtspopulistischen Ruf reicht, jetzt endlich auf »die Stimme des Volkes« zu hören. Bemerkenswert ist vor allem die Konstellation als solche: Die Demokratie ist alternativlos und steht dennoch zur Disposition; nicht im Sinne ihrer Abschaffung, wohl aber im Sinne ihrer Neuerfindung. Zu den konstanten Umfragebefunden der letzten Jahre gehören eine mehrheitliche Unzufriedenheit mit der heutigen Demokratie, eine mehrheitliche Sorge um ihre Stabilität und ein mehrheitlicher Wunsch nach mehr bürgerlicher Mitbestimmung. Gemeinsam markieren diese Befunde weniger eine Krisenerfahrung als eine ausgeprägte Erneuerungserwartung. Weniger Sinn und Bedeutung der Demokratie werden diskutiert als vielmehr der gegenwärtige Stand eines sich in die Zukunft erstreckenden Prozesses der Demokratisierung.
Zeitenwenden
Es lässt sich natürlich argumentieren, dass die im Krisendiskurs der Gegenwart zu beobachtende Zukunftsorientierung schlicht und einfach sachangemessen ist: Schließlich stellten die infrage stehenden Krisen Indizien für ein irreversibles historisches Umbruchsgeschehen dar. Da diese Deutung, wie jede Prognostik, allerdings notwendig spekulativ bleibt, könnte man ebenso gut auch einmal fragen, ob nicht zumindest einige der Strukturmerkmale unserer heutigen Krisenwahrnehmung eine Vorgeschichte aufweisen und Muster reaktivieren, die aus der Zeit vor den vermeintlichen Zeitenwenden von heute stammen.
Die »Wende« von 1989/90 bietet sich dabei als Ausgangspunkt nicht oder doch nur in sehr eingeschränktem Sinne an. Schließlich waren es in ihrem Gefolge gerade Annahmen einer möglichen Rück- und Wiederkehr der Geschichte und der Ideologien des 20. Jahrhunderts, die den von der Zäsur geöffneten Zukunftshorizont auffüllten und die Gegenwartswahrnehmung zumindest für eine Weile bestimmten. Anders sieht es aus, wenn man weiter zurückblickt und sich vergegenwärtigt, unter welchen Bedingungen und begleitet von welchen Selbstwahrnehmungen sich eben jenes politische Gemeinwesen überhaupt herausgebildet hat, das heute seine Krisen im Hinblick auf eine durch diese Krisen angeblich präformierte Zukunft diskutiert.
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