Heft 848, Januar 2020

Das Kochbuch der Gesellschaft

Skizzen zu einer Mediengeschichte des Kochens (I) von Anatol Schneider

Kochbücher hat es lange vor der Erfindung des Buchdrucks gegeben. Aber erst mit der Ausdifferenzierung eines boomenden Buchmarkts entwickelte sich im 17. Jahrhundert das populäre, eigenständige literarische Genre, das seither breitenwirksam die Alltagskultur prägt. Der entscheidende Schauplatz war zunächst Frankreich, das seinerzeit gastronomisch europaweit als führend galt. Nun ist es zwar nicht falsch, wenn man auf der Suche nach Erklärungen für den Ruf der französischen Küche auf ihre besondere Qualität verweist. Aber diese Qualität war keineswegs ein urwüchsiges Charakteristikum, das, einmal als solches identifiziert, nur hätte respektiert und bewahrt werden müssen. Historisch konstituierte sie sich vielmehr im Zusammenspiel zwischen einer Aristokratie, die, politisch weitgehend funktionslos geworden, ihr Distinktionsbedürfnis vorwiegend ästhetisch auslebte, und einer ausgesprochen differenzierten Publizistik, in der die gehobenen kulinarischen Ansprüche dieser exklusiven Klientel verhandelt wurden. Der eigentliche Träger des französischen Geschmacks war also der öffentlich geführte Diskurs über die richtige Küche, und der Ort dieses kulinarischen Diskurses war das Buch, genauer: das Kochbuch.

Der Erfolg von Büchern, die Handlungsanleitungen und Regeln für kunstgerechtes Kochen versammelten, führte in Frankreich zu einer Küche mit hohem symbolischem Identifikationsgehalt. Er bewirkte aber auch, dass sich die Regeln des Kochens der Logik der Massenmedien anglichen, also dem Prinzip der Neuheit, der Überbietung des Vorhandenen und der Vorgänger. Es nimmt daher nicht wunder, dass in dem sehr auf sich bezogenen Kochbuchmarkt Frankreichs Begriffe wie der der nouvelle cuisine schon im 18. Jahrhundert auftauchen. Dabei sind es die Handwerker selbst, die in ihrer Doppelrolle als kochende Schriftsteller und schreibende Köche Küchenentwicklung und Kochbuchmarkt beobachten und ihre Küche als die neue gegenüber der der Vorgänger ausrufen. Menon, einer der einflussreichsten und produktivsten französischen Kochbuchautoren seiner Zeit, eröffnet seine Schrift Le Manuel des Officiers de Bouche im Jahr 1759 mit dem Ausruf: »Was! Wird man vielleicht sagen, noch ein Werk über die Küche? Seit einigen Jahren wird die Öffentlichkeit überschwemmt von einer Sintflut von Schriften dieser Art. Ich stimme zu: Aber es ist genau diese Vielzahl von Werken, die Anlass zur Entstehung des meinen bietet.« Bald kommt kein Vorwort mehr ohne derartige Überbietungsversprechen aus.

Im 20. Jahrhundert verändert sich das publizistische Feld. Angesichts der beruflichen Ausdifferenzierung bewerten nun zunehmend Journalisten und Restaurantkritiker Küchen sowie Köche und entdecken in dieser Funktion eine der Gesellschaft der anbrechenden 1970er Jahre adäquatere Küche – von der übrigens nicht einmal die Köche eine Ahnung haben, die ihr angehören sollen. Das von den französischen Journalisten Henri Gault und Christian Millau im Jahr 1973 veröffentlichte Gründungsmanifest der nouvelle cuisine stellt demzufolge auch einen Ausdruck der fortgeschrittenen Medialisierung der Küche und des Kochens dar, was bedeutet: Was und wie in der Moderne zu kochen und zu essen ist, lässt sich nur noch aus den Medien erfahren, und es unterliegt einem immer rascheren Wechsel, als dessen Taktgeber ebenfalls die Medien fungieren.

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