Das Kochbuch der Gesellschaft
Skizzen zu einer Mediengeschichte des Kochens (I) von Anatol SchneiderKochbücher hat es lange vor der Erfindung des Buchdrucks gegeben. Aber erst mit der Ausdifferenzierung eines boomenden Buchmarkts entwickelte sich im 17. Jahrhundert das populäre, eigenständige literarische Genre, das seither breitenwirksam die Alltagskultur prägt. Der entscheidende Schauplatz war zunächst Frankreich, das seinerzeit gastronomisch europaweit als führend galt. Nun ist es zwar nicht falsch, wenn man auf der Suche nach Erklärungen für den Ruf der französischen Küche auf ihre besondere Qualität verweist. Aber diese Qualität war keineswegs ein urwüchsiges Charakteristikum, das, einmal als solches identifiziert, nur hätte respektiert und bewahrt werden müssen. Historisch konstituierte sie sich vielmehr im Zusammenspiel zwischen einer Aristokratie, die, politisch weitgehend funktionslos geworden, ihr Distinktionsbedürfnis vorwiegend ästhetisch auslebte, und einer ausgesprochen differenzierten Publizistik, in der die gehobenen kulinarischen Ansprüche dieser exklusiven Klientel verhandelt wurden. Der eigentliche Träger des französischen Geschmacks war also der öffentlich geführte Diskurs über die richtige Küche, und der Ort dieses kulinarischen Diskurses war das Buch, genauer: das Kochbuch.
Der Erfolg von Büchern, die Handlungsanleitungen und Regeln für kunstgerechtes Kochen versammelten, führte in Frankreich zu einer Küche mit hohem symbolischem Identifikationsgehalt. Er bewirkte aber auch, dass sich die Regeln des Kochens der Logik der Massenmedien anglichen, also dem Prinzip der Neuheit, der Überbietung des Vorhandenen und der Vorgänger. Es nimmt daher nicht wunder, dass in dem sehr auf sich bezogenen Kochbuchmarkt Frankreichs Begriffe wie der der nouvelle cuisine schon im 18. Jahrhundert auftauchen. Dabei sind es die Handwerker selbst, die in ihrer Doppelrolle als kochende Schriftsteller und schreibende Köche Küchenentwicklung und Kochbuchmarkt beobachten und ihre Küche als die neue gegenüber der der Vorgänger ausrufen. Menon, einer der einflussreichsten und produktivsten französischen Kochbuchautoren seiner Zeit, eröffnet seine Schrift Le Manuel des Officiers de Bouche im Jahr 1759 mit dem Ausruf: »Was! Wird man vielleicht sagen, noch ein Werk über die Küche? Seit einigen Jahren wird die Öffentlichkeit überschwemmt von einer Sintflut von Schriften dieser Art. Ich stimme zu: Aber es ist genau diese Vielzahl von Werken, die Anlass zur Entstehung des meinen bietet.« Bald kommt kein Vorwort mehr ohne derartige Überbietungsversprechen aus.
Im 20. Jahrhundert verändert sich das publizistische Feld. Angesichts der beruflichen Ausdifferenzierung bewerten nun zunehmend Journalisten und Restaurantkritiker Küchen sowie Köche und entdecken in dieser Funktion eine der Gesellschaft der anbrechenden 1970er Jahre adäquatere Küche – von der übrigens nicht einmal die Köche eine Ahnung haben, die ihr angehören sollen. Das von den französischen Journalisten Henri Gault und Christian Millau im Jahr 1973 veröffentlichte Gründungsmanifest der nouvelle cuisine stellt demzufolge auch einen Ausdruck der fortgeschrittenen Medialisierung der Küche und des Kochens dar, was bedeutet: Was und wie in der Moderne zu kochen und zu essen ist, lässt sich nur noch aus den Medien erfahren, und es unterliegt einem immer rascheren Wechsel, als dessen Taktgeber ebenfalls die Medien fungieren.
Um auf breiter gesellschaftlicher Front Interesse für ein Format wie das Kochbuch und die darin ausgebreiteten Details der Nahrungszubereitung mobilisieren zu können, mussten spezifische Voraussetzungen gegeben sein. Dazu gehören zum einen das Ende des Hungers als Grundtrauma agrarisch verfasster Gesellschaften, zum anderen aber der wirtschaftliche Aufstieg weiter Bevölkerungsgruppen in Lebensumstände, in denen Ernährungsfragen nicht mehr von der Not diktiert werden, sondern sich in eine Frage der Wahl zwischen unterschiedlichen Optionen, also eine Konsumentscheidung verwandeln, was überhaupt erst einen Massenmarkt für kulinarische Orientierungsliteratur schafft:1 Unter den Bedingungen der weitgehenden Versorgungssicherheit, die der sich zunehmend industriell organisierende Agrar- und Lebensmittelmarkt garantiert, entsteht ein Bedarf an Leitlinien und Vorbildern für die eigene Ernährung, eine zuvor unbekannte Notwendigkeit zu Grenzziehungen entlang spezieller Aufgaben und individueller Sinngebungen.
Kulinarische Differenzierung
Seit Anfang des 19. Jahrhunderts vergrößert sich das Angebot an kulinarischen und gastronomischen Gütern und Dienstleistungen stetig. Es richtet sich nicht mehr nur an die alten, aristokratischen Eliten, sondern zunehmend an breitere Schichten. Dass damit nicht nur der basale praktische Orientierungsbedarf wächst, sondern auch die Bereitschaft, sich theoretisch mit kulinarischen Fragen auseinanderzusetzen, zeigt der Erfolg einer neuartigen Form ambitionierter Reflexionsliteratur, für die exemplarisch die universal gebildeten Gastrosophen Jean Anthelme Brillat-Savarin und Carl Friedrich von Rumohr stehen können (in beider Namen werden noch heute gastronomische Auszeichnungen vergeben).
Brillat-Savarin, ein französischer Richter mit der Gabe für elegante Aphorismen und einer Leidenschaft für gute Küche, beanspruchte in seiner Physiologie du Goût aus dem Jahr 1826, den Bedingungen der Möglichkeit der Feinschmeckerei wissenschaftlich auf den Grund gegangen zu sein. Das zentrale Theorem seiner Méditations de Gastronomie Transcendante ist der von ihm konstatierte Zusammenhang zwischen der Sensibilität des individuellen Geschmacksempfindens und der Anzahl der Geschmackspapillen auf der Zunge.
Der bildungsidealistisch motivierte Rumohr gab sich in seinem annähernd zeitgleich erschienenen Geist der Kochkunst (1822) deutlich spröder in Hinblick auf die hedonistischen Seiten des Kochens. Sein Buch, so hieß es im Vorwort, wolle über den »vorübergehenden Tafelgenuß« hinaus »den mehr dauernden einer gut unterhaltenen Gesundheit« sowie die »Verbesserung der Volksnahrung« insgesamt befördern. Auch dass Rumohr, der sich explizit für regionale Küche starkmachte, den Geist der Kochkunst ausdrücklich durch die französische Küchenpraxis und die von ihr beschrittenen »Abwege der Übermischung« bedroht sah, zeigt, wie groß die Distanz ist, die ihn von Brillat-Savarin trennt. Das ändert aber nichts daran, dass beide Autoren sich einer ähnlichen Aufgabe stellten, nämlich ein offenbar hinreichend großes und aufgeschlossenes Publikum mal unterhaltsam plaudernd, mal kulturgeschichtlich belehrend für allgemeine Fragen der Ernährung und speziellere der Nahrungszubereitung zu interessieren.
So aufschlussreich solche Meta-Kochbücher auch sind, wenn man retrospektiv etwas über den sozialen Stellenwert des Kochens erfahren möchte – auf dem Buchmarkt spielten sie eine Nebenrolle. Dort dominierten Kochbücher im engeren Sinne, also praktische Regelwerke, die sich zur selben Zeit grosso modo in zwei Richtungen entwickeln. Auf der einen Seite entstehen, vorwiegend in Frankreich, Kochbücher, die den Bereich der elaborierten Nahrungszubereitung ordnen und der Logik der geschmacklichen Selbstorganisation unterwerfen, weil hierin zugleich auch die Bedingung der nun notwendig werdenden Marktgängigkeit der feinen Küche liegt.
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