Das Kochbuch der Gesellschaft: Skizzen zu einer Mediengeschichte des Kochens (II)
von Anatol SchneiderDie Normalisierung des Verbrauchers durch die Etablierung von Konsumnormen, die sich bereits Mitte der 1920er Jahre angekündigt hatte, setzt sich in der Nachkriegszeit unter den Bedingungen einer konsumbereiten Massengesellschaft diesseits und jenseits des Atlantiks fort. Ernährung muss schon deshalb als besonders relevantes Feld des Konsumentenverhaltens gelten, weil Hunger und Durst sich täglich, ja stündlich aufs Neue körperlich bemerkbar machen und uns so daran erinnern, dass nicht nur wir leben, sondern dass es in uns lebt. Ob man dieses Ausgeliefertsein an die dem persönlichen Willen nur bedingt zugänglichen Bedürfnisse der eigenen Leiblichkeit als lästig empfindet oder ob man es als Abstoßungspunkt zum Zweck der Selbstentfaltung und kulturellen Veredelung begrüßt – die Möglichkeit, diesen Punkt zu überspringen, besteht nicht. Die Gestaltung der Ernährung ist unausweichlich, und sie geschieht im Horizont der wechselnden Modelle, welche die Gesellschaft, vor allem die moderne Konsumgesellschaft, an den Einzelnen heranträgt.
Eine zentrale Rolle kommt dabei dem Kochbuch zu. Dort tauchen jetzt verstärkt auch die allgegenwärtigen Bequemlichkeitsprodukte der Lebensmittelindustrie auf, die zunächst noch weitgehend positiv beurteilt werden. Im Jahr 1951 etwa erscheint das Can Opener Cookbook der Ernährungsjournalistin Poppy Cannon. Und in der überarbeiteten Nachkriegsfassung eines ursprünglich 1931 erschienenen Kochbuchs mit dem Titel The Joy of Cooking heißt es 1957 lapidar: »Dosensuppen sind ein Segen für jede Hausfrau.«1
Ausweitung der Kochzone
Gleichzeitig beginnen Wert- und Stilunterschiede eine stärkere Rolle zu spielen. Entlang eingespielter kultureller Blickachsen werden nationale und regionale kulinarische Traditionen entdeckt, wobei die Suche nach kulinarischen Anregungen zunächst vor allem in Richtung Südeuropa verläuft, zum Mittelmeerraum und nach Frankreich. (Die Erschließung Italiens und Südfrankreichs für den touristischen Massenkonsum entwickelt sich parallel dazu, während die westliche Sicht auf den europäischen Osten durch die politische Teilung Europas für lange Zeit blockiert bleibt.) Die geografische Erweiterung des kulinarischen Handlungsspielraums ist ein Hinweis darauf, dass die Frage nach der kunstgerechten Zubereitung von Mahlzeiten bald schon nicht mehr ausschließlich an die Affirmation ritualisierter bürgerlicher Familiarität gekoppelt sein wird, der die Kochbuchliteratur direkt nach dem Krieg für kurze Zeit noch einmal ostentativ huldigt.
Vor dem Hintergrund eines sich stetig vervielfältigenden Warenangebots und erhöhter individueller Mobilität dienen Kochbücher künftig mehr und mehr der Orientierung in der wachsenden Fülle kulinarischer Optionen. Zwar gab es schon in der Zwischenkriegszeit Gelegenheit, neue Geschmackswelten zu entdecken. In London, Berlin und Hamburg etwa eröffneten in den 1920ern die ersten chinesischen Restaurants Europas. Wie vielfältig das Angebot in New York damals bereits war, lässt sich den Zeitungsartikeln der Journalistin Clementine Paddleford entnehmen, die die frühen »Foodies« der Stadt mit ihren auch auf diesem Feld schier unbegrenzten Möglichkeiten vertraut machte. Doch das waren an die Gunst bestimmter Orte gebundene Ausnahmen. Eine differenzierte kulinarische Konsumkultur, an der die breite Masse der Bevölkerung teilhaben konnte, entstand erst in der Nachkriegszeit.
In Großbritannien war es die weitgereiste Elizabeth David, die in ihren erfolgreichen Rezeptsammlungen schon kurz nach dem Krieg die romanischen Länder als kulinarische Sehnsuchtsorte entwarf. »Die Küche der mediterranen Küsten«, heißt es im Vorwort ihres noch heute lieferbaren Erstlings A Book of Mediterranean Food von 1950, »beschenkt mit all den natürlichen Rohstoffen, der Farbe und dem Geschmack des Südens, ist eine Mischung aus Tradition und brillanter Improvisation. Der lateinische Geist blitzt aus den Pfannen.« Dass »Süden« hier nicht nur für bestimmte Zutaten und Gartechniken, sondern ganz allgemein für ein sinnlich gesteigertes Lebensgefühl stand, dokumentierten auch die langen, den kulinarischen Zauber der mediterranen Welt evozierenden Textpassagen aus Werken renommierter Schriftsteller, die die einzelnen Abteilungen des Buchs jeweils literarisch eröffneten.
David war sich des Umstands bewusst, dass ihre Rezeptvorschläge angesichts der Versorgungsschwierigkeiten im England des Jahres 1950 eine Herausforderung darstellten. Im Vorwort von 1955 erklärte sie, es sei ihr darum gegangen, das Nachdenken über die vorgestellten Gerichte anzuregen, »um dem tödlichen Stumpfsinn des Schlangestehens und der Frustration beim Einkauf der wöchentlichen Ration zu entgehen«.
Doch die Küche des Südens hatte für sie noch einen weiteren Vorzug: »Es handelt sich um ehrliche Küche; nicht den Schwindel der Grande Cuisine der internationalen Hotelpaläste.« Von der mondänen Luxuskultur distanzierte sich David, die Zeit ihres Lebens mit dem eigenen, reichen Herkunftsmilieu haderte, damit stellvertretend für ihr Publikum gleich mit. Ein Publikum, von dem sie vermuten durfte, dass es die Einfachheit und Ehrlichkeit dieser Küche schon deshalb zu schätzen wusste, weil beides der neuen Konsumkultur des Mittelstands entsprach: einer Kultur von Komfort auf der Basis überschaubarer, aber solider Einkünfte, der gegenüber das Mondäne in den Illustrierten der Nachkriegszeit ein ambivalentes Eigenleben führte.
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