Heft 854, Juli 2020

Das Zeitalter der Pandemien

Von der Cholera bis Covid-19 von Thomas Zimmer

Von der Cholera bis Covid-19

Am 23. Juli 1851 trafen sich Vertreter von zwölf europäischen Staaten in Paris zur ersten internationalen Gesundheitskonferenz. Das war der Beginn der modernen internationalen Gesundheitspolitik. Erstmals nämlich traten Mediziner neben Diplomaten als offizielle Repräsentanten ihrer Regierungen auf, und durch die von der Pariser Zusammenkunft begründete Tradition solcher Konferenzen wurde die öffentliche Gesundheitsfürsorge als Thema in den internationalen Beziehungen verankert. Dabei ging es den anwesenden Herrschaften in der Regel darum, Europa vor Gefahren aus anderen Teilen der Welt zu schützen. Vor allem die Cholera dominierte den europäischen Vorstellungshorizont, seitdem sich die Krankheit zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstmals vom indischen Subkontinent aus um den Erdball verbreitet hatte. In Europa war die Cholera forthin als »asiatische« oder »indische Krankheit« verschrien. Den letzten verheerenden Ausbruch im Westen erlebte im Sommer 1892 Hamburg: Innerhalb von Wochen erkrankten 17 000 Menschen in der Hansestadt, mehr als 8000 von ihnen erlagen der Seuche.1

Den internationalen Gesundheitskonferenzen schienen vor allem Quarantänevorkehrungen im Schiffsverkehr als probates Mittel zum Schutz. Diese waren harsch, wie die Odyssee des italienischen Schiffs Matteo Bruzzo illustriert, das im Herbst 1884 den Hafen von Genua in Richtung Montevideo verließ. Weil die Cholera für eine Reihe von Erkrankungen auf dem Schiff verantwortlich gemacht wurde, durfte es weder in Montevideo noch anderswo in Südamerika anlegen. Die Matteo Bruzzo musste umkehren und wurde nach der erneuten Überquerung des Atlantiks zunächst auf der Insel Pianosa südlich von Elba festgesetzt. Nach Ablauf der Quarantäne durften die Passagiere schließlich in Livorno wieder italienisches Festland betreten – nach insgesamt vier Monaten und keine 150 Kilometer vom Ausgangspunkt der Reise entfernt. Die Wirksamkeit solcher Maßnahmen war mutmaßlich sehr begrenzt. Aus heutiger Sicht spricht jedenfalls viel dafür, dass sich die Cholera vor allem auf dem Landweg über Russland nach Europa ausbreitete.

Die voranschreitende Globalisierung und das Empfinden, einer akuten Bedrohung durch Infektionskrankheiten ausgesetzt zu sein, waren eng aufeinander bezogen. Erst die intensivierten weltweiten Handelsbeziehungen und die schnellere Beförderung von Menschen und Gütern durch Dampfschiffe und Eisenbahnen machten die Cholera-Pandemien des 19. Jahrhunderts möglich. Umgekehrt wirkte die Cholera im Westen als Katalysator für Interdependenzwahrnehmungen, aus denen sich die Anfänge einer institutionalisierten internationalen Gesundheitspolitik speisten. Allerdings fand diese zwischenstaatliche Kooperation nicht unbedingt im Geist übernationaler Solidarität statt: Die Gesundheitskonferenzen des 19. Jahrhunderts zielten meist darauf, nationale Grenzen zu schützen und zu stärken.

Die Ära von Bakteriologie und Virologie

Wodurch werden Krankheiten ausgelöst? Die Antwort auf diese Frage war zu Zeiten der ersten internationalen Gesundheitskonferenzen heftig umstritten. Britische Experten beispielsweise waren gegenüber Quarantänemaßnahmen skeptisch, weil sie glaubten, die Cholera werde durch giftige Dämpfe ausgelöst, die durch unsaubere Verhältnisse jederzeit und überall entstehen könnten. Diese sogenannte Miasma-Theorie war seit dem Mittelalter weit verbreitet und führte im 19. Jahrhundert zu einer Reihe großangelegter Reformen zur Verbesserung der hygienischen Verhältnisse. Bezüglich der Ursachen von Cholera lagen die Vertreter dieser Auffassung zwar völlig falsch, die getroffenen Maßnahmen waren aber insofern effektiv, als sich der Choleraerreger nicht mehr so leicht über verunreinigtes Trinkwasser verbreiten konnte.

Seit den 1870er Jahren erfuhr die Welt dann aber in schneller Folge von der Entdeckung immer neuer Krankheitserreger. 1882 gelang es Robert Koch, das Tuberkulosebazillus zu isolieren; zwei Jahre später bewies er die Existenz des Cholera-Erregers Vibrio cholerae. Die Durchbrüche der Virologie sollten noch einige Jahrzehnte auf sich warten lassen – das erste Virus wurde 1892 entdeckt, das erste Grippevirus erst 1933. Trotzdem: Seit dem späten 19. Jahrhundert schienen die Schuldigen eindeutig ausgemacht; die Wissenschaft musste bloß noch Wege finden, die Keime zu eliminieren. Der umfassende Sieg über Krankheiten schien erstmals in greifbare Nähe gerückt.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden solche Hoffnungen jedoch jäh zunichte gemacht. Beginnend mit dem Jahr 1918 forderten Seuchen und Epidemien in kurzer Zeit weitaus mehr Menschenleben als der Große Krieg. So war die »Spanische Grippe« von 1918/19, die wohl bis zu einem Drittel der damaligen Weltbevölkerung infizierte und zwischen 50 und 100 Millionen Todesopfer forderte, die wahrscheinlich tödlichste Pandemie der Geschichte.2 Ihren Ausgangspunkt nahm sie vermutlich im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten – von dort brachten US-Soldaten die Influenza übers Meer nach Europa. In den kriegführenden Staaten fand eine öffentliche Berichterstattung über die Grippe aufgrund von Zensurmaßnahmen nur eingeschränkt statt. Im neutralen Spanien wurde hingegen ausführlich über den Verlauf der Krankheit diskutiert; so entstand der irreführende Eindruck, das Land sei besonders hart von der Grippe getroffen – daher ihr Name.

Dass sie sich zur präzedenzlosen Seuche auswachsen würde, war zunächst nicht ersichtlich. Im Sommer 1918 klang eine erste Welle ab, und in vielen Ländern gaben die Autoritäten Entwarnung. Im Herbst aber kam die Grippe in einer zweiten, weitaus tödlicheren Welle zurück – rund zwei Drittel aller Todesfälle fielen in diesen Zeitraum; schließlich folgte Anfang 1919 noch eine dritte Welle, die vor allem dort viele Opfer forderte, wo das Virus zuvor noch nicht gewütet hatte. Mehr als zwei Millionen Tote verzeichneten die europäischen Staaten, die USA beinahe 700 000 (diese Zahlen sind allenfalls als Annäherungen zu verstehen, denn verlässliche Angaben über die Exzessmortalität gibt es nur für die wenigsten Regionen). Noch viel verheerender wirkte sich die Pandemie in Weltregionen aus, in denen sie auf eine Bevölkerung traf, die zuvor nur wenig Kontakt mit Grippeviren gehabt hatte, oder auf Gruppen, die in besonders schwierigen sozioökonomischen Verhältnissen lebten: in den Pazifikstaaten etwa oder unter den Maori in Neuseeland und generell unter der indigenen Bevölkerung ehemaliger europäischer Siedlerkolonien. Hier raffte die Grippe in wenigen Wochen zwischen fünf und zwanzig Prozent der Bevölkerung dahin.

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