Heft 872, Januar 2022

Demokratie zwischen liberalem Globalismus und autoritärem Populismus

von Martin Höpner

Armin Schäfer und Michael Zürn bereichern die politikwissenschaftliche Debatte über den Aufstieg populistischer Parteien mit ihrem 2021 erschienenen Buch Die demokratische Regression um eine These, die es in sich hat. Die Agitation populistischer Parteien wie der AfD, so die Autoren, sei erfolgreich, weil deren Beschwerde über Mängel demokratischer Repräsentation berechtigt ist. Der politische Prozess leiste nämlich keine faire Aggregation politischer Präferenzen, sondern werfe Ergebnisse aus, die zugunsten des liberalen Globalismus der höheren Schichten verfälscht seien. Das ist fachlich so faszinierend wie politisch brisant.

Dieser Essay, das möchte ich eingangs offenlegen, qualifiziert sich nicht als wissenschaftliche Rezension. Für eine solche bin ich den Autoren zu nah. Michael Zürn, den man gewiss als überzeugten Verfechter des Internationalismus bezeichnen kann, bin ich kollegial verbunden. Mit Armin Schäfer bin ich nicht nur eng befreundet, wir haben auch Fachaufsätze zur europäischen Integration gemeinsam verfasst – Arbeiten, die viele wohl in eine integrationsskeptische Schublade sortieren würden. Die Nähe zu den Autoren ermöglichte mir auch Einblicke in die Entstehung des Buchs. Zürn und Schäfer fanden sich nicht, weil ihre Perspektiven ex ante deckungsgleich gewesen wären. Vielmehr wollten sie herausfinden, über welche Gesichtspunkte des beforschten Gegenstands sich im Zuge eines längeren Diskussionsprozesses Einigkeit herstellen lassen würde. Mir ist bewusst, dass einige der kritischen Punkte, die ich nachfolgend aufrufen werde, gerade der Natur dieses Experiments geschuldet sein dürften: Das Vorgehen der Autoren mündete naturgemäß nicht nur in Synthesen, sondern auch in Kompromisse, die Spannungen zwischen unterschiedlichen Teilen des Textes erzeugten.

Die Lektüre von Die demokratische Regression erfordert keine speziellen Vorkenntnisse. Gleichwohl spricht das Buch zu umfänglichen Forschungskontroversen. So beziehen Schäfer und Zürn Position in Debatten zur normativen Demokratietheorie und zur empirischen Repräsentationsforschung. Speziell sind die Transformationen der Parteiensysteme, die durch autoritär-populistische Parteien bewirkt werden, ein großes Thema in den jüngeren Jahrgängen der politikwissenschaftlichen Fachzeitschriften.

Kontrovers wird dort etwa diskutiert, woran genau man den politischen Populismus erkennen kann; warum er gerade in den letzten zwei Dekaden groß wurde; warum es in manchen Ländern links-, in anderen rechtspopulistische Parteien gibt und ob beide überhaupt unter eine gemeinsame Überschrift gehören; und welche Arten von Präferenzen und Positionen wo auf den Achsen des politischen Raums zu verorten sind.

Ein besonderes Gewicht hat bei alledem die Frage nach den Gründen für den Erfolg des politischen Populismus. Einsichten in die Ursachen erhellen nicht nur das Phänomen als solches, sie ermöglichen zugleich Prognosen und erlauben möglicherweise praktische Hinweise auf Einwirkungen (typischerweise: zur Eindämmung). Dabei wurden ökonomische Ursachenbündel (vor allem: Populistische Parteien sammeln die Stimmen der Verlierer der wirtschaftlichen Globalisierung) und kulturelle Faktoren (vor allem: Populisten mobilisieren die Gegner von Gleichstellungspolitik und multikultureller Gesellschaft) häufig als konkurrierende Erklärungen diskutiert.

Die Populisten haben einen Punkt

Als autoritären Populismus verstehen Schäfer und Zürn jene »Ideologie, die nationalistische Positionen gegen liberale Eliten setzt und der zufolge politische Entscheidungen möglichst unverfälscht dem nichtmediatisierten Mehrheitswillen entsprechen sollen«. Diese Definition signalisiert bereits, dass das Phänomen in den Augen der Autoren etwas mit der Übersetzung politischer Präferenzen in Regierungshandeln zu tun hat. Dass der Verweis auf vermeintliche oder tatsächliche Repräsentationsmängel ein Teil populistischer Agitation ist, ist an sich nicht umstritten. Bemerkenswert ist aber, dass die Autoren Probleme politischer Vertretung in das Zentrum ihrer Erklärung rücken. Mängel der Repräsentation, so Schäfer und Zürn, bereiten den Boden für den Erfolg der autoritären Populisten. Den ökonomischen und kulturellen Erklärungen fügen sie damit eine eigenständige Deutung hinzu.

Zwei Faktoren bewirken demzufolge in entwickelten Demokratien einen Rückgang an Demokratiequalität, in der Terminologie des Buchs: eine demokratische Regression. Erstens geht es um die Ausbreitung nichtmajoritärer Institutionen (NMIs). Das sind auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene angesiedelte, demokratisch nicht oder nur schwach legitimierte Organe mit Entscheidungsbefugnissen wie etwa Zentralbanken, Verfassungsgerichte und unterschiedlichste technokratische Organisationen. Was in deren Befugnis liegt, ist der Steuerung über Wahlen entzogen. Wichtiger für das im Buch geführte Argument ist aber, dass NMIs zudem politisch nicht neutral sind. Sie stehen für offene Märkte und offene Grenzen, Globalismus, Individualrechte statt Mehrheitsentscheidungen, compliance mit internationalen Regeln, Inflationsbekämpfung. Sie verschieben die Ergebnisse des politischen Prozesses in liberal-globalistische Richtungen, ohne sich den Wählern gegenüber verantworten zu müssen.

Den zweiten Faktor sehen Schäfer und Zürn in der parlamentarischen Unterrepräsentation der abhängig Beschäftigten. In Parlamenten wie dem Bundestag waren Arbeiter schon immer schwach vertreten. Das hat sich im Zeitverlauf weiter zugespitzt und die heutigen Akademikerparlamente hervorgebracht. Der Einwand liegt nahe, dass die Zusammensetzung der Parlamente noch nichts darüber aussagt, welche Schichten von politischen Entscheidungen begünstigt werden, können doch auch Akademiker Arbeitnehmerinteressen vertreten. Wie aber der von den Autoren rekapitulierte Forschungsstand zeigt, übersetzt sich die fehlende Repräsentation der abhängig Beschäftigten in den Parlamenten tatsächlich in Entscheidungen zugunsten der Präferenzen gehobener Schichten. Wiederum werden durch diesen bias liberal-globalistische Präferenzen begünstigt.

Die so entstehende Dominanz der liberalen Globalisten ist den Autoren zufolge eine der Triebfedern des Erfolgs autoritär-populistischer Kräfte. Die Populisten stehen nicht nur dem liberalen Globalismus ablehnend gegenüber, sondern werfen der politischen Klasse zudem auch – zu Recht, wenn man Schäfer und Zürn folgt – Ignoranz gegenüber den Präferenzen der »einfachen Leute« vor. Zur empirischen Untermauerung dieser zentralen These des Buchs zeigen sie Zusammenhänge zwischen drei auf Individualebene angesiedelten Variablenbündeln: der wahrgenommenen Offenheit des politischen Systems für eigene Anliegen; der Wahrscheinlichkeit, autoritär-populistische Parteien zu wählen; und der Zugehörigkeit zu bestimmten Berufs- und Qualifikationsgruppen. Je stärker Personen der Ansicht sind, keinen Einfluss zu haben, umso eher wählen sie autoritär-populistische Parteien. Diese Wahrnehmung und dieses Wahlverhalten finden sich besonders häufig bei Geringqualifizierten, aber auch bei Handwerkern und Facharbeitern, und besonders selten bei den so genannten soziokulturellen Experten.

Komplementäre Erklärungsbündel

Richtigerweise kennzeichnen Schäfer und Zürn ihre repräsentationspolitische Deutung als Ergänzung zu den kulturellen und ökonomischen Erklärungsangeboten. Beschrieben wird derselbe Problemkomplex, betrachtet aus einer alternativen Perspektive. Ohnehin hat die Frontstellung zwischen kulturellen und ökonomischen Deutungen in der Debatte mehr Verwirrung gestiftet als Klarheit geschaffen, haben doch auch ökonomische Konflikte wie der Klassenkonflikt, wie Schäfer und Zürn zu Recht anmerken, immer auch eine kulturelle Komponente.

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