Europa-Kolumne
Darf Malta die Unionsbürgerschaft verhökern? von Martin HöpnerDarf Malta die Unionsbürgerschaft verhökern?
Auf der europäischen Bühne spielt derzeit ein faszinierendes Drama. Malta verkauft Goldene Pässe. Die Kommission sieht die Grundwerte der Union bedroht und hat Malta vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verklagt. Alles deutet darauf hin, dass die Kommission den Fall verliert.
Die maltesischen Goldenen Pässe
Worum geht es? In vielen Ländern gibt es so genannte Goldene Visa: Praktiken, die die Vergabe von Aufenthaltsberechtigungen gegen Direktinvestitionen oder andere Geldzahlungen ermöglichen. Goldene Pässe gehen darüber hinaus. Sie gewähren nicht nur legalen Aufenthalt, sondern die Staatsbürgerschaft. Malta und Zypern haben solche Programme nach der Euro-Krise aufgelegt, das zypriotische Programm ist aber mittlerweile eingestellt. Strittig sind nun die im Jahr 2020 aktualisierten maltesischen Vorschriften zur Bearbeitung von Einbürgerungsanträgen »für außergewöhnliche Verdienste durch Direktinvestitionen in die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Republik Malta«.
Das Programm sieht vor, dass Personen einen Antrag auf Einbürgerung stellen dürfen, wenn sie folgende Bedingungen erfüllen: Sie müssen einen Beitrag von 600 000 Euro an die maltesische Regierung leisten. Sie müssen maltesische Wohnimmobilien im Wert von mindestens 700 000 Euro erwerben (oder mindestens fünf Jahre zu einer bestimmten Mindestmiete mieten). Zudem müssen sie mindestens 10 000 Euro für gemeinnützige Zwecke spenden. Außerdem müssen sie vor der Einbürgerung 36 Monate in Malta ansässig gewesen sein, wobei diese Wohnsitz-Bestimmung nicht mit dem tatsächlichen Aufenthaltsort zu verwechseln ist. Diese 36 Monate lassen sich auf 12 Monate verkürzen, wenn statt 600 000 Euro 750 000 Euro gegeben werden.
Was hier für Malta attraktiv ist, liegt auf der Hand. Die Regierung generiert Einnahmen, die sie ansonsten durch Steuern erheben oder als Kredite aufnehmen müsste. Schätzungen zufolge hat Malta auf diese Weise seit 2014 jährlich Mittel in Höhe von ungefähr 5 Prozent der Steuereinnahmen eingenommen.1 Zusätzliches Geld fließt in den Immobiliensektor. Das ist wichtig für ein Land, das wie Malta im Zuge der Euro-Krise von Kapitalflucht betroffen war. Und falls sich wohlhabende Personen dauerhaft im Land ansiedeln, entstehen weitere Einnahmen des Staats- und des Privatsektors.
Aber ist Malta für reiche Leute aus aller Welt ein ansprechendes Land? Gewiss, Malta ist hübsch gelegen. Aber den bisher mindestens 1800 Programmteilnehmern2 geht es nicht um die Aussicht, Staatsbürger der winzigen Mittelmeerinsel südlich von Sizilien mit ihren 520 000 Einwohnern (das entspricht den Einwohnerzahlen Düsseldorfs oder Hannovers) zu werden. Attraktiv ist vielmehr der Erwerb der europäischen Unionsbürgerschaft, die mit der maltesischen Staatsbürgerschaft zwingend einhergeht.
Unionsbürger genießen Freizügigkeitsrechte in der gesamten Union. Sie dürfen sich EU-weit wirtschaftlich betätigen. Sie haben transnationale soziale und politische Rechte und ein Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz, kurz: Sie haben einen Anspruch darauf, unionsweit im Großen und Ganzen wie Inländer behandelt zu werden. Das alles ergibt sich aus der rigiden EuGH-Rechtsprechung zu den Binnenmarktfreiheiten und, darüber noch hinausgehend, zur Unionsbürgerschaft. Besonders interessant dürfte die Unionsbürgerschaft sein, wenn es im Kontext geopolitischer Konflikte zu internationalen Sanktionen kommt, die auch Private umfassen. Es sei aber angemerkt, dass Malta russische Staatsbürger seit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs vom Kreis der Antragsberechtigten ausgenommen hat.
Die Kommission zieht vor Gericht
In den europäischen Organen formierte sich gegen das Programm breiter Widerstand. Der Tenor ist eindeutig: Die Unionsbürgerschaft ist keine Ware und darf nicht zum Verkauf stehen. In einer Entschließung vom Juli 2020 forderte das Europäische Parlament die Kommission auf, gegen das Programm vorzugehen. Wenige Monate danach, im Oktober 2020, leitete die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Malta ein, der übliche Schriftwechsel zwischen Kommission und dem Mitgliedstaat begann. Eine Einigung blieb aus. Im September 2022 legte das Parlament mit einer weiteren Entschließung nach. Schließlich rief die Kommission den EuGH an, die Klageschrift stammt vom März 2023.
Bei alledem stand die Kommission vor einem Problem: Weder im europäischen Primärrecht (den Verträgen) noch im Sekundärrecht (den Richtlinien und Verordnungen) findet sich eine Stelle, die die Prozeduren zur Verleihung von Staatsbürgerschaften europäisch regelt. Die Staatsbürgerschaft gehört zum Kern mitgliedstaatlicher Souveränität, das wird auch in Brüssel nicht bestritten. Die Kommission musste also auf allgemeine Grundsätze des Unionsrechts verweisen, um das maltesische Programm vor dem europäischen Gericht anzugreifen. Aber wie?
Der Kommission zufolge untergräbt Malta mit seinen Goldenen Pässen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, normiert in Artikel 4 Absatz 3 des EU-Vertrags, und zwar in Verbindung mit der Integrität der Unionsbürgerschaft, um die es in Artikel 20 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) geht. Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, so die Kommission, wird verletzt, weil das maltesische Programm direkte Wirkung auf die anderen Mitgliedstaaten entfaltet: Sie müssen die unterschiedlichen Staatsbürgerschaftskonzepte, die sich in der EU finden, gegenseitig anerkennen und die Bürger aller Mitgliedsländer als Unionsbürger behandeln. Werden die Pässe nun an Personen verkauft, die keine »echte Verbindung« zum betreffenden Land aufweisen, wird das Vertrauen, auf dessen Grundlage sich die Mitgliedstaaten im Zuge der gegenseitigen Anerkennung zueinander loyal verhalten, beschädigt.
Der Dreh- und Angelpunkt dieser Argumentation ist das Erfordernis einer »echten Verbindung«. Zu klären ist also, ob sich das Unionsrecht so auslegen lässt, dass es den Mitgliedstaaten verbietet, Personen gegen Geld einzubürgern, die bei Licht besehen keine »echte Verbindung« zum Mitgliedstaat aufweisen – und das, obwohl sich die Staatsbürgerschaft im ausschließlichen Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten befindet?
Malta verneint das vehement und beharrt darauf, über die Kriterien seiner Einbürgerungsprogramme allein entscheiden zu dürfen. Das Erfordernis einer »echten Verbindung«, so Malta, sei im Unionsrecht nirgends zu finden – schon gar nicht in Artikel 20 AEUV, der ja von der ergänzenden Unionsbürgerschaft und nicht von den nationalen Staatsbürgerschaften handelt. Zudem verweist Malta darauf, dass sich jede Menge historischer Vorbilder für solche Programme finden. Auch macht es geltend, dass die hohe Ablehnungsquote von ungefähr 30 Prozent aller zulässigen Anträge davon zeugt, dass das Land strenge Kontrollen durchführt, um etwaigem Missbrauch vorzubeugen.
Der moralische Gehalt des Standpunkts der Kommission
Wie würden wir entscheiden? Die meisten von uns sind keine Europarechtler und können nicht beurteilen, ob sich ein Verbot der maltesischen Praktiken kreativ und forsch, aber dennoch stimmig in das Unionsrecht hineinlesen lässt.3 In moralischer Hinsicht scheint der Standpunkt der Kommission überlegen zu sein: Die Staatsbürgerschaft ist nichts, mit dem man Handel treiben kann und soll. Wo kommen wir da hin?
Die Staatsbürgerschaft gilt als »heiliger Kern« dessen, was einen Staat ausmacht. Sie bindet die Bürgerinnen und Bürger an das im Staat verkörperte Gemeinwesen, an den dort gültigen Gesellschaftsvertrag. Sie etabliert eine Schicksalsgemeinschaft, mit der man nicht nur rechtlich, sondern auch emotional verbunden ist. Die Rechte und Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen gehen über rein juristische Gesichtspunkte hinaus. Was Bürgerinnen und Bürger voneinander erwarten, ergibt sich aus einem ungeschriebenen Regelkonsens, in den man hineinsozialisiert wird (und der einem oft erst bewusst wird, wenn man mit den ungeschriebenen Regeln anderer Gemeinwesen konfrontiert wird). Typischerweise sucht man sich nicht aus, in welchem Gemeinwesen man Staatsbürger ist – es ergibt sich über die Abstammung und den Ort der Geburt.
Nun gibt es hiervon in Einwanderungsländern wie Deutschland und anderen natürlich zahlreiche Ausnahmen, aber selbst diese scheinen die Notwendigkeit einer gewissen Bindung vor der Einbürgerung zu bestätigen. Die Verleihung der Staatsbürgerschaft ist voraussetzungsvoll und setzt legale Anwesenheitsdauern, Integration in den Arbeitsmarkt, Sprach- und Landeskenntnisse und anderes voraus. Gewiss kann man fragen, ob es nicht fast überall Einbürgerungspraktiken gibt, die das Erfordernis einer »echten Bindung« derart minimieren, dass es kaum noch erkennbar ist. Man denke etwa an Paragraph 8 des deutschen Staatsangehörigkeitsgesetzes, das die Einbürgerung aufgrund außergewöhnlicher (internationaler) sportlicher Leistungen erlaubt. Aber wir würden wohl gleichwohl zustimmen, dass der schlichte Verkauf der Staatsangehörigkeit die Sache merkwürdig auf die Spitze treibt.
Interessant ist die Staatsbürgerschaft auch aus Perspektive der Unterscheidung zwischen profanen und sakralen Materien. Ihre Verleihung erfolgt häufig zeremoniell. In den USA findet die Einbürgerung mitunter in einem Gerichtssaal statt. Der neue Mitbürger erhält nicht lediglich ein Dokument, sondern durchläuft ein Ritual, in dessen Rahmen er den Eid der Treue auf die Verfassung schwört. Dabei läuft die Nationalhymne, oder sie wird gesungen. In Australien gibt es am Nationalfeiertag besondere Einbürgerungszeremonien mit kulturellen Darbietungen. Die symbolische Aufladung der Prozeduren verweist auf einen zwar nicht im engeren Sinne religiösen, dennoch aber quasisakralen Charakter der Staatsbürgerschaft. Das lässt verstehen, warum Goldene Pässe Argwohn hervorrufen: Die Malteser behandeln Sakrales profan, das ist moralisch anrüchig.
Die andere Sicht: Dimitry Kochenov
Aber hat die Kommission die Moral im Konflikt mit Malta wirklich auf ihrer Seite? Man kann das auch völlig anders sehen. Einer der interessantesten Teilnehmer der rechtswissenschaftlichen Debatte über die Staatsbürgerschaftspolitik ist Dimitry Kochenov, der die Republik Malta bei der Planung und Durchführung des Programms auch selbst beriet. Er ist ein vehementer Gegner der aus seiner Sicht überkommenen Idee nationaler Staatsbürgerschaften und wirft der Kommission vor, die Versprechen der europäischen Integration mit ihrem Vorgehen gegen Malta zu verraten.
Wer sich mit Kochenovs Aufsätzen und den mit ihm geführten Interviews vertraut macht, sollte sich auf einen Zeitgenossen gefasst machen, der kein Blatt vor den Mund nimmt.4 Der Sinn der Integration bestehe gerade darin, so Kochenov, die Identitäten, die mit einer spezifischen Staatsbürgerschaft verbunden sind, irrelevant zu machen. Die Notwendigkeit »echter Verbindungen«, sagt er, wird durch die Unionsbürgerschaft ja gerade zerstört – ein zivilisatorischer Fortschritt im Kampf gegen ewiggestrigen Nationalismus. Für ihn beruht der Mythos der »natürlichen«, »echten«, »wirklichen« Staatsbürgerschaft auf vergangenen, ja: widerwärtigen Idealen. Der Kommission hält er vor, mit ihrem Beharren auf »echten Verbindungen« die Büchse der Pandora zu öffnen und die EU letztlich von »unechten« Wesen säubern zu wollen, sie zu entmenschlichen. Das alles laufe am Ende auf einen Blutnationalismus zu: Die Kommission, sagt Kochenov, singe eine Hymne auf Blut und Boden und poche darauf, dass Blutreinheit niemals käuflich sein dürfe.
Das ist so faszinierend wie irritierend. Man kann das Vorgehen Maltas offenbar auch aus anderen Gründen gut finden als aus dem profanen Grund, dass es dem Staat Geld einbringt und zumindest wohl nicht offenkundig unionsrechtswidrig ist. Kochenovs Argumentation ist hochmoralisch: Für ihn ist die Staatsbürgerschaft eines von vielen Instrumenten der globalen Ungleichheit. Die globale Geburtslotterie bringt Gewinner und Verlierer hervor. Was manche durch Abstammung und ihren Geburtsort gebührenfrei zugewiesen bekommen, kann man sich in Malta zu einem hohen Preis kaufen – was, so dieser Autor, gerade die Heuchelei des modernen Staatsbürgerschaftswesens an die Oberfläche zerrt, seine Legitimität beschädigt und möglicherweise letztlich zerstört.
Uns soll es an dieser Stelle darauf ankommen, dass die Kommission moralische Gesichtspunkte im aufgeworfenen Konflikt wohl in der Tat nicht ausschließlich auf ihrer Seite hat, je nach Standpunkt. Man muss Kochenov nicht folgen. Drei Einwände drängen sich auf. Erstens ist die Deklaration der Aufhebung von Staatsbürgerschaft – und nationaler Staatlichkeit an sich – als Ziel der europäischen Integration gewagt. Es handelt sich um eine Zielvorstellung bestimmter Milieus, die sie in das Integrationsprojekt hineinprojizieren. Zweitens lässt der Vorwurf des Blutnationalismus Fairness vermissen und ist einigermaßen bösartig. Denn die Kommission behauptet nicht, dass die Abstammung die einzig legitime Quelle »echter Verbindungen« sei. Sähe sie es so, müsste sie gegen Migration an und für sich vorgehen, statt Malta davon abzuhalten, die Unionsbürgerschaft zu verkaufen.
Und drittens die globale Ungleichheit: Ja, natürlich, diese Ungleichheit schreit zum Himmel. Aber es sind ja gerade nicht die Ärmsten der Armen der Welt, die sich auf dem Umweg über Malta eine Unionsbürgerschaft kaufen können. Das behauptet Kochenov auch nicht. Er meint vielmehr, dass Goldene Pässe die Staatsbürgerschaft dahingehend entmystifizieren, sie von ihrem sakralen Charakter befreien, dass mittelbar Akteure gestärkt werden, die sich für globale Gerechtigkeit einsetzen – so jedenfalls verstehe ich es. Das ist interessant, aber auch reichlich von hinten durch die Brust ins Auge. Oder gar: an den Haaren herbeigezogen? Wie auch immer, schauen Sie sich die Schriften Kochenovs selbst an. Es ist garantiert nicht langweilig.
Der Europäische Gerichtshof verhandelt den Fall
Alles deutet darauf hin, dass die Kommission den Fall verliert. Schon bei der öffentlichen Verhandlung im Juni 2024 geriet sie in arge Bedrängnis. Eine starke Rechtsposition hatte sie nicht vorzuweisen. Es fiel dem Kommissionsvertreter auch schwer, klar zu vermitteln, worin die behauptete Verletzung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit durch Malta denn nun genau bestand: in dem Umstand, dass sie Staatsbürgerschaften an Personen ohne »echte Verbindung« vergab, oder darin, dass dies gegen Geld geschah. Das war so spannend wie ein Krimi. Übrigens ist der Gerichtshof dazu übergegangen, solche Verhandlungen – einmalig und zeitversetzt – zu streamen. Ich kann nur dazu ermuntern, sich so etwas einmal anzusehen. Fälle, die für Sie interessant sein könnten, können Sie über den auf der Website des EuGH verfügbaren Gerichtskalender identifizieren.
Im Oktober 2024 hat der aus Irland stammende Generalanwalt Anthony Michael Collins dem Gericht seinen Schlussantrag vorgelegt.5 Solche Anträge sind Empfehlungen, denen der EuGH häufig folgt, aber nicht zwingend folgen muss. Er empfiehlt, den Fall zugunsten Maltas zu entscheiden und die Klage der Kommission also abzuweisen. Die Voten der Generalanwälte können ziemlich umfänglich ausfallen, dieses hier aber ist recht kurz – offenbar liegen die Dinge in diesem Fall seiner Ansicht nach so klar, dass es nicht viel zu sagen gibt.
Der Generalanwalt macht drei Punkte. Erstens sind die Kriterien zur Verleihung von Staatsbürgerschaften nicht vergemeinschaftet. Die Mitgliedstaaten hätten das anders entscheiden können, haben das aber bewusst unterlassen (Randnummer 44). Die Unionsbürgerschaft ändert daran nichts, denn sie ersetzt – überschreibt – die nationalen Regelungen nicht. Zweitens ändert daran auch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nichts. »Die im EU-Recht verankerte Pflicht, die Staatsangehörigkeit anderer Mitgliedstaaten anzuerkennen«, sagt Generalanwalt Collins, »ist eine gegenseitige Anerkennung und Achtung der Souveränität jedes Mitgliedstaats – und kein Mittel, um die ausschließlichen Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten in diesem Bereich zu untergraben« (Randnummer 57). Bemerkenswert ist hier, wie Collins der Kommission einen der fundamentalsten Grundsätze des Unionsrechts um die Ohren haut. Drittens, so Collins weiter, sei richtig, dass sich der EuGH in früherer Rechtsprechung bereits an Fragen der Staatsbürgerschaft herangerobbt habe. Dort aber ging es um Schutz der Unionsbürger vor willkürlichem Entzug der Staatsbürgerschaft. Regelungen zum Erwerb hingegen verletzen keine Grundrechtspositionen und geben für den Standpunkt der Kommission daher nichts her (Randnummer 55).
Zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Kolumne lag noch kein Termin zur Urteilsverkündung vor, mit dem Urteil ist im ersten Halbjahr 2025 zu rechen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der Gerichtshof dem Schlussantrag des Generalanwalts folgen. Alles andere, so formulierte der Rechtswissenschaftler Martijn van den Brink auf dem Verfassungsblog, »wäre ein verfassungsrechtlicher Skandal«.6
Noch mehr competence creep?
Der faszinierende Konflikt um Maltas Goldene Pässe hat in der Europarechtswissenschaft große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Sache ist einigermaßen verzwickt. Die EU hat sich zu einem System mit einer gemeinsamen Unionsbürgerschaft entwickelt. Gleichzeitig verbleibt die Einbürgerungspolitik bisher und auf absehbare Zukunft im ausschließlichen Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten, was den Verkauf der nun transnational konstruierten Staatsbürgerschaft einschließt – sofern die EuGH-Richter nicht noch mit etwas äußerst Überraschendem um die Ecke kommen. So ein System würde sich in der Tat niemand ausdenken.
Wie ist diese Lage entstanden? Wir können uns auf den Standpunkt stellen, dass die Mitgliedstaaten es versäumt haben, die Staatsbürgerschaft zu vergemeinschaften. Wir können den Sachverhalt aber auch von der anderen Seite betrachten und fragen, warum der EuGH die Unionsbürgerschaft so forsch fortentwickelt hat, obwohl er doch wusste, dass die Mitgliedstaaten nicht gewillt sind, ihre Alleinverfügung über ihre Staatsbürgerschaftspolitik ganz oder auch nur teilweise an die EU abzutreten. Schon das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, das die EU-Bürger als Wirtschaftsbürger konzipiert, war wesentlich eine Schöpfung des EuGH. Die Unionsbürgerschaft, die die Mitgliedstaaten dann in Maastricht in die Verträge schrieben, war zunächst nur ein blumiger Begriff ohne erkennbare Rechtswirkung. Fortan, ab den frühen 2000er Jahren, nutzte das europäische Höchstgericht den Begriff zur umfänglichen Rechtsfortbildung und Kompetenzverdichtung. Am merkwürdigen Status quo ist der EuGH also alles andere als unschuldig.
Im Prinzip wäre nicht verwunderlich, würde der EuGH das Problem durch noch mehr competence creep lösen, diesmal in Form von richterlich geschöpften unionalen Standards der Vergabe von Staatsbürgerschaften. Es ist nicht auszuschließen, dass das irgendwann geschieht. Derzeit aber scheinen die Widerstände hierfür zu groß. Sollten die übrigen Mitgliedstaaten die maltesischen Einbürgerungspraktiken wirklich als Problem empfinden, werden sich die Regierungen politisch unterhalten müssen – das Unionsrecht wird die Spannungen nicht beseitigen.7
Kristin Surak, The Golden Passport: Global Mobility for Millionaires. Cambridge /Mass.: Harvard University Press 2023. (Die Angabe zu den Einnahmen findet sich auf Seite 73.)
Der zuständige Minister Byron Camilleri bezifferte die Zahl der über die Programme eingebürgerten Personen Anfang 2023 mit mehr als 1500 (timesofmalta.com/article/1500-people-maltese-citizens-golden-passport-scheme.1013883). Bis Ende 2023 kommen, laut Angaben während der Anhörung vor dem Europäischen Gerichtshof im Juni 2024, 259 Personen hinzu, für das Jahr 2024 sind noch keine Zahlen verfügbar.
Mit dem Drang des EuGH zu steter Rechtsfortbildung befasste sich eine frühere Kolumne ausführlich. Martin Höpner, Überdreht: Die Integration durch Recht. In: Merkur, Nr. 875, April 2022.
Stellvertretend für viele Wortmeldungen des Autors sei verwiesen auf: Dimitry Vladimirovich Kochenov, Policing the Genuine Purity of Blood: The EU Commission’s Assault on Citizenship and Residence by Investment and the Future of Citizenship in the European Union. In: Studia Europejskie – Studies in European Affairs, Nr. 25/1, 2021; Ahmad Abbas, Kochenov Expects »Strong Growth of CBI in Europe« if ECJ Dismisses Malta CBI Case. Interview mit Dimitry Vladimirovich Kochenov. In: IMI (Investment Migration Insider) vom 21. Oktober 2024 (imidaily.com/editors-picks/kochenov-expects-strong-growth-of-cbi-in-europe-if-ecj-dismisses-malta-cbi-case/).
Martijn van den Brink, Concise, Clear, and Convincing. The Opinion of Advocate General Collins in Commission v Malta (Citizenship for Sale). In: Verfassungsblog vom 9. Oktober 2024 (verfassungsblog.de/concise-clear-and-convincing/).
Für wertvolle Hinweise danke ich Konstantinos Papanikolaou.
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