Heft 894, November 2023

Demolalie

Krise und Kritik der repräsentativen Demokratie von Christian Neumeier
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Krise und Kritik der repräsentativen Demokratie

Die repräsentative Demokratie scheint in eine schwere Krise geraten. Aus welchen Gründen, ist nicht leicht zu sagen. Liegt es an den Repräsentanten, den Repräsentierten oder der Idee der Repräsentation? Der professionalisierten Politik fällt es erkennbar schwer, zu erklären, woraus sich ein Mandat ergeben könnte, das nicht in sozialer Identität mit den Repräsentierten oder dem Vollzug ihrer politischen Präferenzen liegt. Der Bundestag ist kein Abbild der Gesellschaft, weiß aus dieser Differenz aber keinen Vorzug zu machen. Im Schnitt sind seine Abgeordneten älter, wohlhabender, urbaner, männlicher und promovierter als die übrige Bevölkerung und haben seltener eine Migrationsgeschichte.1 Das schlägt sich, wie neuere Untersuchungen zeigen, auch in seinen politischen Entscheidungen nieder.2 Je eher man selbst den Abgeordneten gleicht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass aus den eigenen Ansichten tatsächlich Gesetze, also die Pflichten der anderen, werden.

Aus diesen Befunden ergäbe sich nur dann kein Problem, wenn sich die demografische Differenz von Parlament und Bürgerschaft nicht als Exklusion, sondern als Folge eines fairen Auswahlverfahrens verstehen, und sich zudem plausibel erklären ließe, warum parlamentarische Politik politische Präferenzen der Bürger zwar wahrnehmen sollte, ihnen aber nicht ohne weiteres entsprechen muss. Nur lässt sich entlang der Merkmale von Geschlecht, Vermögen oder Bildungszertifikaten ein solches Argument schwerlich entwickeln. Dass Politik und Zusammensetzung des Bundestages dieselbe soziale Schlagseite haben, nährt den alten Verdacht, dass Repräsentation nur die Ideologie einer politischen Form sein könnte, die hinter demokratischen Idealen soziale Hierarchien perpetuiert, ganz so wie es ihre frühen Verfechter, die amerikanischen Verfassungsväter, einmal erdacht hatten.3

Befragt man die Repräsentierten von heute, ergibt sich ein Bild ihrer Unzufriedenheit, das die Sache kaum einfacher macht. Sieht man von Fragen der Migration ab, erkennen sie sich in vielen politischen Überzeugungen ihrer Repräsentanten durchaus wieder, jedenfalls stärker als noch vor dreißig Jahren.4 Das Vertrauen in sie ist in derselben Zeit gleichwohl durch die Bank weg gesunken. Offenbar hegt man ein notorisch schlechtes Bild von seinen Mitbürgern, nachdem man sie selbst in ein Amt berufen hat, unabhängig davon, wieweit ihre Ansichten tatsächlich von den eigenen abweichen.

Das könnte darauf hindeuten, dass in der fehlenden Responsivität der Parlamente, so bedenklich sie ist, nicht der primäre Grund für die Krise der Repräsentation liegt. Besonders schlecht vertreten fühlen sich häufig jene, die überrepräsentiert sind, nämlich alte, halbgebildete Männer. Gleichzeitig schafft der Populismus die Repräsentation nicht ab, sondern erfindet sie neu. Amerikanische Vielleicht-Milliardäre schlagen aus den Symbolen ihres Reichtums repräsentatives Kapital, indem sie sie mit der Scheingleichheit rhetorischer Anbiederung verbinden. Soziale Differenz schließt gelingende Repräsentation offenbar nicht aus, ebenso wenig wie soziale Ähnlichkeit sie garantiert.

Liegt in der verbreiteten Unzufriedenheit einfach ein stummer Schrei nach mehr demokratischer Partizipation? Wo sie leicht zu haben wäre, in der Kommunalpolitik etwa, die den Alltag stärker beeinflusst als die meisten Bundestagswahlen, ist von einer neuen Lust an der Demokratie wenig zu hören. Wo sich am leichtesten die größten Veränderungen bewirken ließen, käme es einem darauf an, ist zugleich das Desinteresse am stärksten. Noch am ehesten Vertrauen genießen dagegen diejenigen Institutionen, die sozial am allerwenigsten repräsentativ sind, weil sie es gar nicht sein sollen: Gerichte und Zentralbanken.

Abbild, Durchschnitt, Mehrheit

Von einer Krise der repräsentativen Demokratie zu sprechen, kann sehr Unterschiedliches bedeuten, je nachdem, ob man deren politischen Sinn in der Abbildung oder der Reflexion sozialer Verhältnisse erblickt.5 So bleibt häufig ungeklärt, ob der Kern des Problems in der Differenz zwischen Repräsentanten, Repräsentierten und ihren demoskopisch ermittelten Einstellungen besteht oder darin, dass die traditionelle Vermittlung dieser Differenz durch die Parteien nicht mehr gelingt. In den zahllosen öffentlichen Debattenbeiträgen der vergangenen Jahre zeigt sich eine auffällige Tendenz, gelingende politische Repräsentation unhinterfragt als Spiegelbildlichkeit zu verstehen. Die Logik von Abbild und Durchschnitt unterläuft dabei die der Mehrheit. Dass Regierungen etwa integrationsfreundlicher sind als die Bevölkerung im Durchschnitt, könnte ja auch einfach bedeuten, dass sie eine proeuropäische Mehrheit und nicht die euroskeptische Minderheit repräsentieren.

Besonders populär ist die Idee, Bürgerräte könnten Repräsentativitätsdefizite beheben. Die Auswahl der Repräsentanten durch demografisch informierte Losverfahren soll die soziale Selektivität der Parlamente vermeiden, die für die Schlagseite in der Interessendurchsetzung verantwortlich gemacht wird. Die Philosophin Cristina Lafont hat diesen und ähnliche Vorschläge in einem 2020 erschienenen, noch immer sehr lesenswerten Buch, das einen guten Überblick über die reich differenzierte Diskussion demokratischer Reformoptionen bietet, als »lottocratic shortcut« kritisiert: eine Augenwischerei, die das Ausgangsproblem der Repräsentation nicht löst, sondern reproduziert.6 Losverfahren, die manches, aber längst nicht alles dem Zufall überlassen wollen, setzen Einigkeit über die relevanten sozialen Kriterien voraus. Bei Alter und Geschlecht mag sie noch zu erzielen sein, jenseits dessen wird es schwierig. Müssen auch Millionäre, Zahnärztinnen und VWL-Professoren angemessen repräsentiert werden? Und wie feingliedrig muss die Lotterie sein? Muss der Bundestag wirklich durchschnittlich rassistisch sein?

Je genauer Losverfahren die soziale Realität abbilden, desto eher gleichen sie einer infinitesimalen Ständeversammlung. Vor allem aber lösen sie das strukturelle Problem nicht, dass die Repräsentierten auch diejenigen Entscheidungen der Repräsentanten als demokratische Selbstbestimmung verstehen müssen, die sie selbst so nicht getroffen hätten. Warum das besser gelingen soll, wenn meine Vertreter mir zugelost statt von mir selbst ausgewählt werden, ist schwer zu erklären. Schätzt man an den Bürgerräten vor allem den authentischen Charme des deliberativen Laienschauspiels, stellt sich ein verwandtes Problem: Auch Bürgerräte müssten die Bürgerinnen und Bürgern von ihren Entscheidungen überzeugen, und zwar über dieselben Mechanismen politischer Öffentlichkeit, an denen offenbar bereits die Parlamente scheitern.

Demokratische Krisenprosa

Das Krisennarrativ produziert derweil seine eigenen Logiken. Die eine ist kommerziell. Die Krise kann gar nicht ernst genug sein, um nicht noch durch ein neues Sachbuch aus ihr Profit zu schlagen. Die andere ist therapeutisch. Keine Krise ohne gut gemeinte Ratschläge. Die Demokra-tie, heißt es beispielsweise, brauche dringend bessere Schulen,7 mehr Pflichten8 und einen Stab ökologischer Berater.9 Sie sei nicht nur auf public intellectuals,10 sondern auch auf »kompetente und engagierte Bürgerinnen und Bürger« angewiesen.11

Zu den ungewöhnlicheren, wenn auch nicht ganz neuen Vorschlägen gehört, Demokratie brauche die Religion, weil der Mensch im »rasenden Stillstand« der modernen Gesellschaft so wenig »Selbstwirksamkeit« erfahre, dass es ohne Fürbitten nicht mehr gut auszuhalten sei.12 Hatte Marx das noch als Argument gegen die Gesellschaft gewendet, wird es nun flugs zum Argument für die Religion: Sie soll die Menschen »hörende Herzen« lehren. Hatte diese Praxis nicht zumeist eher hörige Herzen hervorgebracht? In der neuen Luther-Übersetzung jedenfalls ist aus dem »cor docile« der Vulgata ein »gehorsames Herz« geworden. Dennoch kann offenbar erst die innere Einstimmung auf eine göttliche Unterweisung, um die Salomo einst für seine Königsherrschaft gebeten hatte, das demokratische Mindset schaffen, um für die irdische Dauerrede der Mitbürger empfänglich zu sein.

Mit einem ähnlichen Argument hatte schon der junge Ernst-Wolfgang Böckenförde den Katholiken in der frühen Bundesrepublik die Mitwirkung an der Demokratie schmackhaft machen wollen, weil die liberale Gesellschaft, der er einen Hang zur »Selbstzerstörung« attestierte, ohne sie bald an sich selbst scheitern würde.13 Ob es seitdem Liberalismus oder Katholizismus infolge der eigenen autodestruktiven Potentiale verheerender ergangen ist, mag man unterschiedlich beurteilen; aber das hat das Argument nicht vor einer Wiederentdeckung bewahrt. Weitere Krisenprosa darf man getrost erwarten: Gewiss braucht die Demokratie auch einen anderen Kapitalismus, neue Orte der Gemeinschaft oder mehr Selbstvertrauen.

Die direktdemokratische Option

Das neue Buch der ehemaligen Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff Demophobie ragt auf mehrfache Weise aus diesem Genre heraus.14 Statt Verfallsgeschichten zu erzählen, die implizit eine demokratische Normalität behaupten, ohne sich der Mühe einer Begründung zu unterziehen, stellt sie eine ebenso grundlegende wie bedenkenswerte normative Frage: Könnte die repräsentative Demokratie nicht demokratischer werden, indem die Bürger statt ihrer Repräsentanten häufiger einfach selbst entscheiden?

In den Vereinigten Staaten mehren sich schon seit einiger Zeit die Stimmen, die für eine Ausweitung direktdemokratischer Verfahren plädieren.15 So naheliegend die Frage ist, so selten wird sie von deutschen Verfassungsjuristen gestellt. Zwar verstehen sie das Demokratieprinzip des Grundgesetzes ausdrücklich als »Staatszielbestimmung«. Da Ziele meist in der Zukunft liegen, scheint das Grundgesetz also auf eine Demokratie zu setzen, die auch noch demokratischer werden könnte. Nur hat man von utopischen Ener-gien des Grundgesetzes in den vielen Jubiläumsreden der letzten Jahre selten gehört. Sein Modus ist die Geltung, nicht das Versprechen. In der Vergangenheit hat es sich bewährt, in der Gegenwart ist es bedroht, in der Zukunft bleibt, bestenfalls, alles beim Alten.

Lübbe-Wolff nähert sich der direkten Demokratie auf eher indirektem Weg. Sie versteht darunter die Möglichkeit, durch Volksabstimmung »Sachentscheidungen« zu treffen. Statt die Vor- und Nachteile einer solchen Option für das Regierungssystem der Bundesrepublik gegeneinander abzuwägen, macht sie sich zunächst daran, zehn Standardeinwände gegen die direkte Demokratie aus dem Feld zu räumen.16 Diese Evergreens reichen von der angeblich fehlenden Urteilskraft des Volkes bis zum Verdacht, die direkte Demokratie sei eine leichte Beute für Demagogen und Rechtspopulisten und dementsprechend gefährlich für Minderheiten.

Lübbe-Wolff überzeugen diese Einwände allesamt nicht. Mit bewundernswertem Scharfsinn werden sie einzeln seziert und erweisen sich dabei zumeist als oberflächlich und voreilig. Dafür macht sie zwei strukturelle Argumentationsfehler verantwortlich. Den einen erkennt sie darin, die holprige Realität direkter Demokratie mit einem Ideal der Repräsentation zu vergleichen, das es außerhalb der Federalist Papers nirgends gegeben hat. Der zweite Fehler besteht darin, in der Kritik der direkten Demokratie alle Formen von Bürgerinitiative bis Referendum unter einen Hut zu werfen und sich wenig für institutionelle Bedingungen ihres Gelingens zu interessieren. Das eine nennt Lübbe-Wolff den Pauschalierungs-, das andere den Idealvergleichsfehler.

Vermeide man beide Kurzschlüsse, bleibe von den Vorbehalten gegen die direkte Demokratie nicht mehr viel: Die Menschen seien durchaus klug genug für direktdemokratische Verfahren; jedenfalls würden sie es auf dem Weg dorthin. Wenn sie es nicht wären, würde das der repräsentativen Demokratie nicht weniger gravierende Schwierigkeiten bereiten. Ob die direkte Demokratie eine Bühne für Demagogen bietet, hänge von Kultur und Regularien der politischen Öffentlichkeit ab. Empirisch sei die direkte Demokratie trotz mancher Schreckensbeispiele kaum eindeutig rechtslastig, sondern höchstens status-quo-freundlich.

Auch wenn die Beteiligung relativ zum sozialen Status abnehme, seien ihre Ergebnisse nicht unsozial. Sie erschöpfe sich nicht in der binären Ja- /Nein-Entscheidung der eigentlichen Abstimmung, sondern produziere vielfältig positive Rückwirkungen auf die Repräsentanten, die Volksabstimmungen antizipieren und sich insgesamt kompromissfreudiger und responsiver zeigten. Schließlich lasse sie sich nicht nur auf Alpenwiesen und in kleinen Gemeinden praktizieren, weil sie etwas anderes meine als die körperliche Versammlung.

Dem stellt Lübbe-Wolff in einem zweiten Schritt unterschätzte Vorzüge der direkten Demokratie gegenüber: Sie löse »festgeschnürte Politikpakete« auf, sei langfristig orientiert und erlaube eine »De-mokratisierung der Außenpolitik«, womit konkret gemeint ist, dass sie Globalisierung und eine weitere europäische Integration erschweren soll, was exakt »dem politischen Bedarf« entspreche.17 Wessen Bedarf genau da gemeint ist, möchte man zaghaft fragen. Der der traditionell integrationsfreundlichen Mehrheit in Deutschland jedenfalls nicht. Offenbar verbirgt sich hinter dem grundsätzlichen Plädoyer für mehr Demokratie bisweilen auch eine allzu menschliche Sehnsucht nach einer anderen Politik.

Die Denkfehler der Anderen

Das nimmt dem Buch nichts von seinem Gewicht. Es ist schon deshalb lesenswert, weil es sich auf Argumente konzentriert, vergleichend angelegt ist, eine beeindruckende Fülle von Material verarbeitet und sich mit der angenehmen Selbstverständlichkeit für Empirie interessiert, dass Gesellschaft etwas anderes ist als das Bauchgefühl, das man sich von ihr macht. Freilich beschleicht einen, je interessierter man das hochgelobte Buch liest, eine zunehmende Skepsis. Das gilt zunächst für die Anlage der Fragestellung, die die Reichweite der Ergebnisse beschränkt. Auch wenn man die direkte Demokratie nicht fürchten muss, mag man ihre Nachteile noch immer gravierender finden als ihre Vorzüge. Selbst wenn alle Gegenargumente, die sich das Buch vornimmt, wirklich so leicht zu widerlegen wären, wie es bei Lübbe-Wolff den Anschein hat, könnte es noch andere geben, die es nicht sind.

Hier liegt das eine von zwei Problemen des Buches. Das sine ira, aber offenbar cum studio geschriebene Plädoyer, das zwischen Streitschrift und gelehrter Abhandlung changiert, macht es sich mit den Gegenargumenten, die es widerlegen will, bisweilen nicht allzu schwer. Lübbe-Wolff ist sich ihrer Sache sehr sicher. Die Gegenargumente erscheinen mal »aus ideologischer Luft gegriffen«, mal »nachgerade absurd«. Es sind »abgeschmackte Relikte antidemokratischer Affekte«. Selbst wenn es an den akademischen Stammtischen wirklich immer so rustikal zuginge, wie es in Demophobie mitunter den Anschein hat, könnte man sich unter den Gegenargumenten ja die klügeren aussuchen.

Gleich als ersten der Standard-Einwände gegen die direkte Demokratie führt Demophobie das Argument vor: »Für Sachentscheidungen ist das Volk zu dumm.« Diesen Einwand hatte man so eigentlich noch selten gehört. Lübbe-Wolff dagegen meint, er sei »so verbreitet«, dass eine »zufällige Auswahl an Beispielen genüge«: ein halbseitiger Kommentar der originellen und streitlustigen, aber weiter nicht als politische Theoretikerin aufgefallenen Rechtshistorikerin Regina Ogorek, dann eine ebenso abfällige wie bei-läufige Bemerkung des Historikers Wolfgang Reinhard in seinem Standardwerk über die Geschichte der modernen Staatsgewalt. Schlägt man beide Fundstellen nach, steht dort freilich nichts von »Dumm-heit«. Bei Ogorek geht es um die Komplexität vieler, aber längst nicht aller politischen Materien, bei Reinhard um die »Borniertheit und Verführbarkeit« des Volkes, die er in einer transhistorischen Gesamtschau zwischen Französischer Revolution und Gegenwart ausgemacht haben will.18 Beides ressentimentgeladene Behauptungen, die vieles sein mögen, aber keine ausgearbeiteten Argumente.

Sie als »Dummheit« des Volkes zu reformulieren und zum Einwand zu nobilitieren, den zu widerlegen sich lohnt, ist nicht nur eine Frage schnittiger Überschriften. Es macht einen Unterschied in der Sache, ob der Einwand darauf hinauslaufen soll, die Bürger seien nicht hinreichend intelligent, nicht hinreichend informiert, nicht charakterfest, nicht genügend geübt im politischen Urteil, meist mit anderen Dingen beschäftigt oder viele legislative Materien moderner Gesellschaften eigneten sich nicht ohne weiteres für die konkrete Verfahrensrealität direkter Demokratie. Alles vermutlich keine überzeugenden Argumente, aber sie erfordern eben jeweils andere und gesonderte Widerlegungen.

Demokratische Arbeitsteilung

Den Gegnern der direkten Demokratie allerhand Fehler und Vorurteile nachzuweisen ist zwar effektvoll, vermeidet aber bisweilen diffizilere Fragen. Versteht man den Komplexitäts-Einwand nicht einfach als Ausdruck eines bornierten Ressentiments, wirft er eine durchaus bedenkenswerte Frage auf. Sie hat weniger mit der angeblichen Dummheit des Volkes als mit Arbeitsteilung und Spezialisierungsvorteilen zu tun. Wer zum Beispiel sinnvoll über Krankenhausreformen entscheiden will, mag es nützlich finden, mehr über Gesundheitspolitik zu wissen, als sich vor einer Abstimmung in bürokratischen Informationsbroschüren abdrucken und ad hoc anlesen lässt, zum Beispiel durch Gespräche mit Ärztinnen, Patienten, Krankenkassen und Kreisverwaltungen. Abgeordneten, die sich in Fachausschüssen jahrelang mit Gesundheitspolitik befassen, fällt das relativ leicht. Sie erhalten eher Zugang zu Institutionen und müssen sich nicht einmal sonderlich um relevante Informationen bemühen, weil sie ihnen von interessierten Kreisen aufgedrängt werden.

Dass Selbstbestimmung nicht von Wissensgraden abhängt und keine Professionalität vor Torheit schützt, heißt nicht, dass gründlichere Kenntnisse keinen Vorzug bedeuten könnten. Dieser Frage geht Lübbe-Wolff aus dem Weg, indem sie den Einwand kategorial formuliert, wo es um relative Vorzüge verschiedener demokratischer Verfahren ginge. Nun kann das Volk sehr wohl selbst qualifiziert und dennoch der Meinung sein, seine Vertreter könnten womöglich noch informierter entscheiden. Eine Gesellschaft kann sich aus genuin demokratischen Gründen ein Verfahren ersinnen, bei dem Richtungsentscheidungen von allen, Einzelfragen aber nur von einigen getroffen werden, die ausreichend Zeit und einen leichteren Zugriff auf Informationen bekommen und sich zudem eine kritische Prüfung ihrer Annahmen und Argumente gefallen lassen müssen.

Will man epistemische Vor- und Nachteile direkter und repräsentativer Gesetzgebung vergleichen, wäre die interessantere Frage in diesem Zusammenhang gewesen, wie in ihnen jeweils Informationen beschafft und verarbeitet werden. Der Vorteil der repräsentativen Demokratie, den es abzuwägen gälte, könnte darin bestehen, was ihr gemeinhin als Lobbyismus zum Vorwurf gereicht: der Fähigkeit, sich strukturell informelles Wissen zu verschaffen. Um ein Beispiel des Buchs aufzugreifen: Für die Entscheidung, ob Albanien in die Europäische Union aufgenommen werden sollte, könnte es nicht nur nützlich sein, zu wissen, wie Mehrheitsbildung im Europäischen Rat in der Praxis funktioniert, sondern auch, sich in Albanien einen Eindruck vom Zustand albanischer Politik und Justiz zu verschaffen, der über das hinausgeht, was im typischen Zeit-Dossier zu lesen wäre. Einer Parlamentsdelegation fällt das leichter als einer ganzen Bürgerschaft. Das heißt nicht, dass man Bürgerinnen und Bürger diese Entscheidung nicht überlassen könnte. Die Frage ist nur, worauf sie in dem einen oder anderen Verfahren am Ende beruht.

Eine vergleichbare Neigung, die Gegenargumente schwächer als nötig erscheinen zu lassen, zeigt sich noch in einem zweiten, kaum weniger wichtigen Punkt. Die Apologeten der repräsentativen Demokratie, behauptet Lübbe-Wolff, priesen gern deren Fähigkeit zur »Veredelung« von Interessen. Auch diesen Begriff einer aristokratischen Gesellschafts-Chemie hat man in der Gegenwart eigentlich selten gehört. Vor allem bringt er die Sache nicht recht auf den Punkt, die damit gemeint sein dürfte. Es geht dabei nicht um ein diffuses »Anstandsgefühl« oder die »Transformation der Interessensicht«. Interessen müssen gar nicht »transformiert« werden, es genügt schon, ein Verfahren bereitzustellen, um sie zu kritisieren.

Dass es legitim ist, die eigenen oder andere Interessen zu vertreten, heißt offensichtlich nicht, dass alle Interessen gleichermaßen berechtigt sind. Es macht einen Unterschied, ob man eine Kreuzfahrt, gleiche Bezahlung oder eine neue Autobahn einfordert. Was immer man von seiner Praxis halten mag, sieht die repräsentative Demokratie ein solches Verfahren vor, wenn Opposition und Medien Abgeordnete für ihre Positionen zur Rede stellen, meistens sogar recht energisch. Dass es so übel nicht funktioniert, zeigt gerade ein Beispiel, das von Lübbe-Wolff für ihr Versagen angeführt wird, die berüchtigte Mehrwertsteuersenkung für Hoteliers, von der sich die damalige Koalition nie mehr erholt hat. Man hätte gern erfahren, ob und wie man sich ein Verfahren der demokratischen Interessenkritik unter direktdemokratischen Bedingungen vorstellen kann.

Bürgerinnen und Bürger kann man zu ihrer Stimmabgabe weder öffentlich befragen noch sie dafür kritisieren. Deswegen ist es auch keineswegs »kurios«, darauf hinzuweisen, dass es bei direktdemokratischen Entscheidungen an Verantwortlichkeit fehlt. Natürlich treffen die Bürger im einen wie im anderen Fall die Folgen einer Entscheidung. Das allein bedeutet allerdings nicht viel, wenn sie sich erst eine Generation später mit voller Wucht einstellen. Folgentragung ist daher kein guter Ersatz für das Verfahren, vor und nach einer Entscheidung für sie Rede und Antwort stehen zu müssen. Schon in Fragen der eigenen Lebensführung kann man die leidvolle Erfahrung machen, dass unhinterfragte Entscheidungen nicht immer die besten sind, nicht einmal gemessen an den eigenen Interessen.

Auch an anderen Stellen wirft Demophobie einen eigentümlich verkürzten Blick auf die repräsentative Demokratie. Sie wird vorgestellt »als ein System, das darauf ausgerichtet ist, die Interessen der Bürger so weit wie möglich zum Eigeninteresse der Repräsentanten zu machen«. Schon das trifft ihre möglichen Vorzüge kaum, die in der Reflexion von Interessen, nicht ihrer Durchsetzung über einen Anreizmechanismus für Abgeordnete bestehen. Überhaupt kommt die repräsentative Demokratie schlechter weg, als es eine auch nüchterne Kritik ihrer vielen Schwächen rechtfertigen würde. Mit einer gewissen Beklommenheit nimmt man zur Kenntnis, wie weit manche Stereotype selbst unter den gebildeten ihrer Beobachterinnen bereits salonfähig geworden sind.

»Repräsentative Politik«, heißt es da etwa, neige »bekanntlich zu Wahlgeschenken und zu teurer Klientelbedienung«. Woraus ist dies Bekanntliche bekannt? In diesem Fall aus einem einzelnen Satz, wie die Fußnote zu erkennen gibt. Er stammt von Otmar Jung, der seinerseits die Erforschung der direkten Demokratie immer als veredelte Form der Advokatur verstanden und dabei herausgefunden hat: »Es sind die Vertreter, die permanent der Versuchung unterliegen, zu verschwenden«.19 So belegt ein Vorurteil ein Vorurteil. Haben nicht ausgerechnet die verschwendungssüchtigen Vertreter in Deutschland die Schuldenbremse eingeführt, genauso wie die sparsamen Schweizer Bürger? Das eine wird in Demophobie erwähnt, das andere nicht. Man braucht über Korruptionsfälle und Probleme der Fiskalpolitik nicht hinwegzugehen, aber muss die Bund-der-Steuerzahler-Brücken-ins-Nirgendwo-Perspektive deshalb noch lange nicht akzeptieren.

Institutionelle Folgen

Das zweite Problem des Buches betrifft das weitgehende Fehlen jener institutionellen Überlegungen, die es bei den Gegnern der direkten Demokratie zu Recht immer wieder anmahnt. Selbst wenn alle Vorzüge der direkten Demokratie tatsächlich so unterschätzt würden, wie es Demophobie behauptet, genügt es kaum, sie einfach aufzulisten. Es macht in der Tat einen erheblichen Unterschied, wie das Buch sehr überzeugend herausarbeitet, ob den Bürgern Entscheidungen von der Regierung vorgelegt werden oder selbst von ihnen initiiert werden können, wie Quoren beschaffen sind und Abstimmungen vorbereitet werden. Derselben Differenziertheit bedarf es allerdings, wenn es um die strukturellen Wirkungen einer Ausweitung direkter Volksgesetzgebung geht. Über die Kompatibilität mit der »repräsentativen Demokratie« nachzudenken, ist da kaum präzise genug gefragt. Vereinbar ist vieles, die Frage ist, was das eine mit dem anderen macht. Hier wiederholt sich die Vereinfachung, aus einer relativen eine kategoriale Frage zu machen und ihr so aus dem Wege zu gehen.

Für die Bundesrepublik etwa kommt alles darauf an, wie die direkte Demokratie mit dem parlamentarischen Regierungssystem und dem eingespielten Modus föderaler Interessenaushandlung im Bundesrat interagieren würde, um zu entscheiden, ob man mehr direkte De-mokratie für eine gute Idee hält. Das Brexit-Referendum etwa hat nicht nur die Regierung Cameron zu Fall gebracht, weil sie mit einer Entscheidung konfrontiert war, die sie zwar angezettelt hatte, aber nicht umsetzen wollte, sondern auch das Parlament zu einer bloßen Ansammlung negativer Mehrheiten werden lassen und damit an die Grenze der Unregierbarkeit gebracht. Das kann man kaum einfach als »ungeklärte Verfassungsfrage« abtun. Vergleiche mit den amerikanischen Bundesstaaten, die zwar über ein repräsentatives, aber kein parlamentarisches Regierungssystem verfügen, helfen hier nicht weiter. Das Gleiche gilt für die Schweiz, wo die Regierung zwar vom Parlament gewählt wird, aber Abstimmungsniederlagen leichter verschmerzen kann, weil sie durch eine feste Amtszeit geschützt ist.

Es ist nicht klar, wie ein politisches System, in dem Regierung und Opposition sich programmatisch definieren, das also von der Identifikation von Personen mit politischen Positionen lebt, damit umgehen würde, wenn beides häufiger auseinanderfällt. Geht die Regierung einfach gelassener mit Niederlagen um als der übernächtigte David Cameron oder sabotiert sie womöglich die Umsetzung? Erfindet sie sich als plebiszitär legitimierte Verwaltung neu? Das ist schwer vorherzusagen, und man hätte gern Lübbe-Wolffs Einschätzung dazu gelesen. Die Erfah-rungen mit den Berliner Volksentscheiden etwa, die sich für den Tegeler Flug-hafen und die Vergesellschaftung von Wohnungsunternehmen ausgesprochen haben, zeigen das Problem deutlich an. Das eine hat der Senat ignoriert, weil es sich nicht sinnvoll in die Verkehrsplanung integrieren ließ, das andere im Abklingbecken einer Expertenkommission zwischengelagert. Man kann das beklagen, interessanter wäre aber die Frage nach einem politischen Mechanismus, der es verhindert. In Lübbe-Wolffs Buch kommen diese Beispiele, wie überhaupt die Erfahrungen in den Bundesländern, seltsamerweise nicht vor.

Der Charme des Kompromisses

Stattdessen richtet sich der Blick vor allem auf die Schweiz, die für die direkte Demokratie den gleichen mythischen Status genießt wie Skandinavien für die Bildungspolitik. Hier wie dort werden Funktionsbedingungen und Idiosynkrasien gern übersehen, so dass man fast von einem Schweiz-Vergleichsfehler sprechen könnte. Starker Föderalismus, schwache Parteien auf Bundesebene und außenpolitische Neutralität lassen sich in Deutschland kaum replizieren. Von der politischen Ökonomie als globaler Ressourcenhändler und Steuervermeidungsparadies ganz zu schweigen.20

Wie würden sich häufigere Volkabstimmungen auf das Verhältnis von Regierung und Opposition auswirken? Schaut man trotz aller Unterschiede auf die Schweiz, spricht manches dafür, dass Volksabstimmungen zum Verschwinden der Opposition im Bundestag führen könnten. Die Schweizer Parteien bilden seit langem lagerübergreifende Großkoalitionen und eine Art Allparteienregierung, um potentiell mobilisierungsfähige Positionen vorab zu integrieren. Bei Lübbe-Wolff erscheint diese Neigung zum supermajoritären Kompromiss als wünschenswerte Folge direkter Demokratie. Die Kehrseite besteht allerdings darin, dass die Schweizer ihre Regierung praktisch nicht mehr abwählen können. Zwischen 1959 und 2003 blieb ihre Zusammensetzung unverändert. Auf Deutschland übertragen würde das nicht nur eine dauernde Kenia-Koalition, sondern die selbstverständliche Mitregierung der AfD bedeuten. Auch das gehört zur direktdemokratischen Realität der Schweiz, dass sie seit Jahrzehnten eine rechtspopulistische Partei an der Regierung beteiligt, die von einem Milliardär zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen gekapert wurde.

Die politische Frage, die jenseits dieser Veränderung des Regierungssystems mit der Erweiterung direktdemokratischer Entscheidungen auf dem Spiel stehen könnte, zeigt sich bei einer der wichtigsten der vielen interessanten Einsichten des Buches. Anders als man vermuten könnte, ist die direkte Demokratie nämlich kein Instrument majoritärer Politik.21 Sie schwächt notgedrungen die Rolle von Parlamenten und Parteien, multipliziert die gesellschaftlichen Veto-Akteure und stärkt die Gerichte, die über allerhand neue Fragen von der Kampagnenfinanzierung bis hin zu den Grenzen politischer Kommunikation bei Volksabstimmungen entscheiden müssen.22

In der Schweiz erhöht die direkte Demokratie die Neigung zu Aushandlung und Kompromiss. Das Instrument nutzt dabei in der Praxis denen am meisten, die erfolgreich Kampagnen organisieren können. Das sind, folgt man dem Schweizer Politologen Silvano Moeckli, der seit Jahrzehnten die direkte Demokratie erforscht und nicht zu ihren Kritikern gehört, vor allem zwei Gruppen: »gebildete Mittelschichten«, die nicht zu den Insidern der »Regierungs-, Parlaments- und Parteienkreise« zählen, aber von ihm desillusioniert sind, und »finanz- und organisationsstarke Interessenverbände«. Auch ohne dass sie eine einzige Abstimmung gewinnen, wird ihre Verhandlungsmacht durch die direktdemokratische Option gestärkt, weil sie Vetomacht generiert, die von anderen politischen Akteuren eingepreist werden muss.

Bei Lübbe-Wolff erscheint das politische System, das daraus resultiert und in der Politikwissenschaft Konkordanzdemokratie heißt, etwas idyllisch als »Kultur der Kollegialität und des Kompromisses«. Mit ihm gehen allerdings drei strukturelle Folgen einher, über die länger nachzudenken sich lohnte. Es stärkt, erstens, den Korporatismus und erschwert damit die Politisierung sozialer Verhältnisse, zum Leidwesen Schweizer Intellektueller, die ihre bundesrepublikanischen Leser darüber seit siebzig Jahren zuverlässig unterrichten.23

Die Neigung zum Kompromiss kann man als postideologische Sachlichkeit begrüßen. Nur werden Kompromisse häufig von Verbänden, die ihrerseits nicht demokratisch organisiert sein müssen, außerhalb von politischen Verfahren ausgehandelt, auf die man als Bürger noch weniger Einfluss hat als auf Abgeordnete. Die Responsivitätsgewinne im politischen System tauscht man daher zum Teil gegen die Auswanderung von Entscheidungen aus dem politischen System. Die Befriedung von sozialen Konflikten durch Interessenaushandlungen zwischen organisierten Gruppen zielt zudem auf etwas fundamental anderes als das, was traditionell einmal Gemeinwohl hieß.

Die Konkordanzdemokratie begünstigt, zweitens, den Status quo. Wo mehr verhandelt werden muss, ändern sich die Dinge langsamer. Für Lübbe-Wolff ist auch dies ein Vorzug. Ob man dieses Urteil teilt, hängt allerdings nicht nur davon ab, wie bewahrenswert man die derzeitigen Zustände in Deutschland findet. Weder das Alte noch das Neue ist von vornherein besser, wie Lübbe-Wolff zu Recht feststellt. Nur sollte sich das politische System gerade deswegen nicht dauernd in Richtung des Alten neigen. Wer die Gegenwart strukturell privilegiert, verringert nicht nur die »Erfolgschancen für Unnötiges, Überbürokratisches und rein Symbolpolitisches«, das sich, wie Lübbe-Wolff mit einem weiteren Seitenhieb gegen die repräsentative Demokratie meint, »politische – auch verbandspolitische – Akteure zur Befriedigung bestimmter Klientelen oder zum Beweis allgemeiner Nützlichkeit gern ausdenken«, sondern benachteiligt auch all diejenigen, die den Status quo mit guten Gründen ändern wollen, weil sie von seinen Früchten wenig haben oder nicht zu denen gehören, die es sich in ihm bereits bequem gemacht haben. Je mehr das politische System innerhalb des demokratischen Spektrums einzelne Positionen strukturell begünstigt, desto weniger entspricht es dem urdemokratischen Versprechen gleicher Freiheit.

Demokratie ohne Mehrheiten

Die dritte und bislang am wenigsten thematisierte Folge direktdemokratischer Instrumente besteht schließlich darin, dass sie die Intensität, mit der Positionen gehalten werden, in politische Entscheidungen übersetzen. Sie fügen dem politischen System so eine neue Variable hinzu. Die Opposition im Parlament verhält sich traditionell zu allen Vorschlägen der Regierung, auch den für sie weniger interessanten. Entscheiden die Bürger selbst, bleiben sie bei Desinteresse häufig einfach zuhause. Das erhöht umgekehrt die Erfolgschancen für Bürger, die einer Position mit besonderer Passion anhängen, und verringert die Repräsentation der übrigen in der Entscheidungsfindung.

Abstimmungen mit stark variabler Beteiligung funktionieren daher als politisches Äquivalent einer Auktion, weil sie ähnlich wie der Preismechanismus die Intensität von Präferenzen abbilden. Ob man das für eine gute Idee hält, ist einerseits eine taktische Frage. Womöglich erhöht es in der Tat die Akzeptanz eines politischen Systems, wenn die Durchsetzungschance für die eigenen Überzeugungen abhängig vom Betroffenheits- oder Erregungsgrad steigt. Ob es allerdings unter Gesichtspunkten politischer Gleichheit wünschenswert ist, wenn aus selbstgewähltem, aber nicht notwendig selbstverschuldetem Desinteresse Exklusion bei der Entscheidungsfindung wird, ist eine offene Frage. Lübbe-Wolffs Antwort auf dieses Problem fällt vielleicht etwas zu nonchalant aus. Es liege in der »Natur der Chancengleichheit, dass sie im Ergebnis Ungleichheit produziert, weil die Bereitschaft und Fähigkeit zur Nutzung der angebotenen Chancen ungleich verteilt ist«. Alles andere sei eine Frage sozialreformatorischer Bildungspolitik. Damit wird allerdings zugleich eine der wesentlichen Einsichten moderner Repräsentationstheorie preisgegeben. Sie bestand darin, dass gerade die Positionen der Mehrheit strukturell schwerer zu organisieren sein können, wenn sie in nur schwach ausgeprägten Präferenzen bestehen.24

Wer das Hohelied der direkten Demokratie anstimmt, sollte solche Folgewirkungen bedenken und sich zudem klar darüber sein, wer vorderhand vermutlich zu ihren stärksten Profiteuren gehört: korporative Verhandlungslogiken, der Status quo und Bürger mit starken, aber nicht mehrheitsfähigen Meinungen. Das für keine überzeugende Form der Demokratisierung zu halten, mag sich als falsch herausstellen, demophob ist es nicht.

Anmerkungen

1

Benjamin Höhne /Melanie Kintz, Soziale Herkunftslinien von Abgeordneten im Wandel. In: Elmar Wiesendahl (Hrsg.), Parteien und soziale Ungleichheit. Wiesbaden: Springer VS 2017.

2

Lea Elsässer /Svenja Hense /Armin Schäfer, »Dem Deutschen Volke«? Die ungleiche Responsivität des Bundestags. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Nr. 27/3, Juli 2017; Lukas Haffert, Stadt, Land, Frust. München: Beck 2022.

3

David F. Epstein, The Political Theory of The Federalist. Chicago University Press 1984; Robert C. Post, Citizens Divided. Campaign Finance Reform and the Constitution. Cambridge /Mass.: Harvard University Press 2014.

4

Armin Schäfer /Michael Zürn, Die demokratische Regression. Berlin: Suhrkamp 2021.

5

Nadia Urbinati, Representative Democracy: Principles and Genealogy. University of Chicago Press 2006.

6

Cristina Lafont, Democracy without Shortcuts. A Participatory Conception of Deliberative Democracy. Oxford University Press 2020.

7

Julian Nida-Rümelin /Klaus Zierer, Demokratie in die Köpfe. Warum sich unsere Zukunft in den Schulen entscheidet. Stuttgart: Hirzel 2023.

8

Felix Heidenreich, Demokratie als Zumutung. Für eine andere Bürgerlichkeit. Stuttgart: Klett-Cotta 2022.

9

Roger de Weck, Die Kraft der Demokratie. Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre. Berlin: Suhrkamp 2020 (»ein mächtiger Rat der Umweltweisen«).

10

Ulrike Ackermann (Das Schweigen der Mitte. Wege aus der Polarisierungsfalle. Darmstadt: wbg Theiss 2020) beschließt ihr Buch mit der Forderung nach mehr »Intellektuellen, die hervorstechen aufgrund ihrer außergewöhnlichen Ideen und ihres Mutes, Neues zu denken, auch wenn der große Rest noch nicht so weit ist«.

11

Herfried Münkler, Die Zukunft der Demokratie. Wien: Brandstätter 2022.

12

Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion. Über ein eigentümliches Resonanzverhältnis. München: Kösel 2022.

13

Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart [1972]. In: Ders., Recht, Staat, Freiheit. Frankfurt: Suhrkamp 1991; Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche [1957]. In: Ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte. Münster: LIT 2004.

14

Gertrude Lübbe-Wolff, Demophobie. Muss man die direkte Demokratie fürchten? Frankfurt: Klostermann 2023.

15

John G. Matsusaka, Let the People Rule. How Direct Democracy Can Meet the Populist Challenge. Princeton University Press 2020.

16

Ähnlicher Ansatz bei Paul Tiefenbach, Alle Macht dem Volke? Warum Argumente gegen Volksentscheide meistens falsch sind. Hamburg: VSA 2013.

17

Lübbe-Wolff, Demophobie: »Der Prozess der weiteren weltwirtschaftlichen und europapolitischen Integration würde sich dann zweifellos zäher gestalten. Das entspräche aber auch genau dem politischen Bedarf«.

18

Regina Ogorek, Direkte Demokratie – Heilsbringer oder Büchse der Pandora? In: Zeitschrift für Rechtspolitik, 2019: »Vor allem aber setzen Mitwirkungsrechte voraus, dass der Bürger weiß, worüber er abstimmt. Das ist, sofern es gelingt, allgemeines Interesse zu mobilisieren, auf Gemeindeebene am ehesten gewährleistet, in wenigen Fällen (›Rettet die Bienen‹) vielleicht noch auf Länderebene. Auf Bundes- oder supranationaler Ebene sind die Implikationen regelmäßig zu komplex, als dass sie volksabstimmungstauglich wären«; Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. München: Beck 1999.

19

Otmar Jung, Direkte Demokratie – Forschungsstand und Perspektiven. In: Theo Schiller /Volker Mittendorf (Hrsg.), Direkte Demokratie. Forschung und Perspektiven. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002.

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Lea Haller, Transithandel. Geld- und Warenströme im globalen Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp 2019; André Mach /Christine Trampusch, The Swiss Political Economy in Comparative Perspective. In: Dies. (Hrsg.), Switzerland in Europe. London: Routledge 2011.

21

Stefan Vospernik (Modelle der direkten Demokratie. Volksabstimmungen im Spannungsfeld von Mehrheits- und Konsensdemokratie. Baden-Baden: Nomos 2014) bestätigt den Befund jenseits der Schweiz.

22

Silvano Moeckli, So funktioniert direkte Demokratie. Universitätsverlag Konstanz 2018.

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Max Frisch, Demokratie ohne Opposition [1968]. In: Ders., Schweiz als Heimat? Frankfurt: Suhrkamp 1990.

24

Robert A. Dahl, A Preface to Democratic Theory. University of Chicago Press 1956.