Der Essay und sein Thema
von César AiraEin Unterschied zwischen Essay und Roman ist der Ort, den beim einen und beim anderen jeweils das Thema einnimmt. Im Roman wird das Thema am Ende als die Figur sichtbar, die das Geschriebene gezeichnet hat, eine Figur, die unabhängig von den Intentionen des Autors entsteht und ihnen, sofern es eine Intention gab, fast immer zuwiderläuft. Das Literarische des Romans erkennen wir in der Hintanstellung des Themas und der Durchkreuzung der Intentionen; wenn das Thema den Roman vorwegnimmt und die Intention umgesetzt wurde, vermuten wir aus gutem Grund eine Absicht kommerzieller oder söldnerischer Art.
Beim Essay ist es umgekehrt: Das Thema steht am Anfang, und es ist dieser Ort, der das Literarische des Ergebnisses verbürgt. Die Trennung zwischen Intention und Ergebnis, die die Literatur im Roman ins Werk setzt, leistet im Essay eine Verallgemeinerung des Vorher; alles verlagert sich auf den Tag vor dem Schreiben, an dem das Thema gewählt wird; trifft die Wahl ins Schwarze, ist der Essay bereits geschrieben, noch bevor man ihn schreibt; das ist es, was ihn gegenüber den psychologischen Mechanismen seines Autors objektiviert und den Essay etwas mehr sein lässt als eine Darlegung von Meinungen.
Ich möchte über die Themenwahl des Essays sprechen, ausgehend von einer eigentümlichen Strategie, die unschwer auszumachen ist, da sie sich üblicherweise im Titel zu erkennen gibt; ich beziehe mich auf die zwei miteinander verpaarten Begriffe, A und B: »Die Mauer und die Bücher«, »Die Worte und die Dinge«, »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde«. Es ist ein sehr gängiges Format, und ich vermute, es gibt kein anderes, auch wenn man das zu verschleiern sucht. In den siebziger Jahren war es geradezu obligatorisch, so dass wir im Freundeskreis schon erwogen hatten, den Essayverlagsfabriken ein einfaches Verfahren zur Herstellung von Titeln anzubieten. Es bestand aus einem Raster, gebildet aus zwei im rechten Winkel angeordneten Linien, neben und über denen zweimal, einmal in der Horizontalen und einmal in der Vertikalen, dieselbe Reihe von Begriffen eingetragen wurde, die dem Fundus zeitgenössischer Themen von allgemeinem Interesse entstammten; etwa: Befreiung, Kolonialismus, Arbeiterklasse, Peronismus, Imperialismus, Unbewusstes, Psychoanalyse, Strukturalismus, Sex, etc. Man brauchte nur den Finger auf eines der Kästchen des Rasters zu legen und die Verbindung der Begriffe von Abszisse und Koordinate herzustellen, schon hatte man ein Thema: Imperialismus und Psychoanalyse, Mehrwert und Arbeiterklasse, oder was auch immer. Man musste natürlich aufpassen, nicht ein Kästchen auf der zentralen Diagonale zu wählen, in welchem Fall etwas herauskommen konnte wie Kapitalismus und Kapitalismus. Was, genau betrachtet, durchaus originell hätte sein können.
Die siebziger Jahre waren die Zeit der Non-Fiction. Eine nichtfiktionale Literatur, die heute ein wenig hemdsärmelig erscheinen würde. Die wissenschaftliche Monografie hatte noch nicht ihren Weg in die Buchhandlungen gefunden; die Autoren waren mehr oder weniger marxistisch geschulte Generalisten, und sie stützten sich auf einen Lektürefundus, der eine heute fast unvorstellbare Breite und Verbohrtheit verriet. Es war das goldene Zeitalter der sogenannten Humanwissenschaften, deren Verbreitung im Zeichen politischer Ziele stand. »Die Linguistik«, schön und gut; aber »die Linguistik« und was? Für sich genommen interessierte sie fast niemanden (die berufsmäßigen Linguisten); sie musste von der Literatur begleitet sein, von der Gesellschaft, vom Unbewussten, von der Anthropologie oder irgendeiner anderen Sache. Und jede dieser anderen Sachen bedurfte ihrerseits der Begleitung. Vor allem die Linguistik wurde immer von einem »und« begleitet, weil sie das Modell vorgab, mit dem man untersuchen musste, was uns wirklich wichtig war. Eines, das mehr als ein epistemologisches ein taktisches Modell darstellte, und alles lief auf die Verpaarung mit einer anderen Sache hinaus. Der Erztitel war natürlich Marxismus und Psychoanalyse; alle anderen Paarungen der Kombinatorik standen in seinem Schatten; ich glaube, dass alle zum Zuge kamen, wenn nicht in Büchern, dann zumindest in Zeitschriftenartikeln. Nebenbei gesagt könnte man heute dieses Raster aktualisieren, indem man die Koordinaten erweiterte und dieselben Begriffe mit dem Präfix »Post« hinzufügte.
Vor dreißig oder vierzig Jahren gehorchten diese Doppeltitel einer konkreten historischen Situation. Ganz gleich, zu welchem Thema man etwas verlautbaren wollte, man musste es sofort auf ein anderes beziehen, denn die Revolution, die unseren Horizont bildete, war genau das: der Schritt von einem Begriff zum anderen, eine Aktion kühnen Verknüpfens. Die Totalisierung begann mit einem Schritt, auf andere Weise konnte sie nicht beginnen. Der Schritt war schon die Aktion, und wenn wir ihn nicht taten, verblieben wir in intellektualistischer Träumerei oder im Elfenbeinturm. Eine Art Ungeduld, die uns heute ein wehmütiges Lächeln entlockt, lag in der Eile, mit der jedes Thema auf ein anderes übersprang, in einer endlosen, immer provisorischen Folge, so provisorisch wie die revolutionären Leben. Nun, all das ist Geschichte. Die Geschichte selbst sorgte dafür, dem ein Ende zu setzen, denn die Enthistorisierung ist ein ebenso historisches Phänomen wie jedes andere.
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