Der halb geöffnete Mund
von Victor LoxenWährend Lenin in Russland die Oktoberrevolution unerbittlich vorantrieb, schrieb Franz Kafka eine 56 Zeilen lange Variation des Sirenenmythos in sein Oktavheft. Der Odysseus des Jahres 1917 präpariert sich mit Ketten und Wachs. Mitstreiter hat er nicht; gegen die verführerischen Laute wird lieber ein »Mittelchen« (Kafka) zu viel eingesetzt. Wie erwartet trifft Odysseus auf die Sirenen an der Meerenge, erblickt »die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, den halb geöffneten Mund«. Sie aber sehen ihn und – schweigen.
Kafka war dieses Schweigen der Sirenen eine »noch schrecklichere Waffe« als der Gesang. Das hat Tradition. Seit den römischen Epikern bedeutet das »Schweigen der Gesetze« den rechtlosen Ausnahmezustand, ist das zornige Schweigen Wesensmerkmal der Tyrannis. Im äußersten Fall zeigt das Schweigen die Revolution, Diktatur, den Ausnahmezustand an. Der Epiker Lucan fasst diese Lage nicht umsonst in das Bild der Staatstrauer, denn sie ist das rohe Phänomen und Ende des Rechtszustands. Neben diese Tyrannei tritt mit Hobbes Permissivität. Wo die Gesetze schweigen, ist wenigstens nichts mehr befohlen. Indes: Der Souverän spricht in beiden Fällen nicht, Begründungen bleiben ihm fremd. Seiner Stummheit ist nicht beizukommen. Das potente Schweigen ist daher in den Gegensatz zur Sprachlosigkeit gestellt. Die Subalternen schweigen nicht, sie können nicht sprechen. Lord Chandos schweigt nicht, seine Sprache ist vom Rost zerfressen. In dieser Stille ist ein historisch und juristisch umreißbares Schweigen auszumachen, ein Beschweigen: das Geheimnis. Es kennt Sachbereiche, Subjekte und Begründungen. Worüber darf wer jeweils schweigen? Der legitime Ort des Geheimnisses hat einen historischen Index.
Neuverortungen im Parkett
Die bürgerliche Gesellschaft kennt das Geheimnis des Einzelnen. Das Subjekt der Aufklärung konnte einen absoluten Schutzraum gegen weltliche und insbesondere geistliche Inanspruchnahme errichten. Dieses Recht auf substantielle Privatheit findet seine Kulturtechnik im bürgerlichen Schweigen. Auf den Straßen, Plätzen, in den Parks, beim Flanieren, paradigmatisch allerdings im Theater und Gesellschaftsklub setzte sich das Ideal der selbstbeherrschten Stille durch: »In the club of the 19th Century, silence had become a right.« Im Schweigen wird das Recht zur stillen Distanz öffentlich signifiziert und reproduziert; die bourgeoise »discipline of silence« verschaffte nicht nur Distinktion gegenüber der lauten Arbeiterklasse, die Privatsphäre meist schon materiell nicht beanspruchen konnte, sie etablierte das Geheimnis auch gegenüber staatlicher Macht. In der Tat »markiert Geheimhaltung als Persönlichkeitsrecht eine Zäsur in der Geschichte des Geheimnisses, weil sie Geheimnis an die Intimität des Einzelnen und nicht mehr der Gruppe, eine Institution oder der Macht selbst anschließt«. Direktes Korrelat dieses legitimierten Schweigens ist die Delegitimierung der hoheitlichen Geheimhaltung. Nicht den Staat schützt das Geheimnis, sondern den Bürger.
Bis tief in die Neuzeit hinein war das arcanum imperii eine zumindest akzeptierte Dimension politischer Herrschaft. Noch 1843 fand Marx in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie den »allgemeinen Geist« der monarchischen Bürokratie im Geheimnis, doch zu diesem Zeitpunkt war jener Geist bereits unter Beschuss geraten. Mit dem aufklärerischen Übersprung des Geheimnisses auf das Individuum ging die Genese der bürgerlichen Öffentlichkeit einher. Sie stellte den Staat prompt zur Rede. Nicht zufällig im Zeitalter der bürgerlichen Wissenschaften mit ihren gegen die »Stummheit der Welt« (Karl Löwith) gerichteten Enzyklopädien, endlosen Katalogen und Genealogien musste auch die Herrschaft gesprächig gemacht werden. Aus Legitimität wird Legitimation. Eine höhere Wahrheit konnte der Staat ohnedies nicht mehr bergen; die öffentliche Erörterung und Debatte über die beste Regierung der bourgeoisen Gesellschaft forderte zur pragmatisch-instrumentellen Besserung aller Lebensbereiche dem Grunde nach sämtliche Informationen ein.
Der »aristokratische Begriff des Geheimen«, dem Carl Schmitt in seiner Katholizismusschrift von 1923 nachtrauert, war tief in der monarchischen Ordnung verankert. Das Ende dieser Gesellschaftsform bedeutete auch das Ende ihres Geheimnisses. Schmitt fürchtete den heraufziehenden Staat, in dem »es keine ›Arcana‹ mehr geben, keine Hierarchie, keine Geheimdiplomatie und überhaupt keine Politik mehr [geben wird], denn zu jeder großen Politik gehört das ›Arcanum‹. Alles wird sich vor den Kulissen abspielen (vor einem Parkett von Papagenos).« Die Sentimentalität des konservativen Revolutionärs, der den Bourgeois (Papageno) in Sachen Repräsentation für wesensmäßig ungeeignet befindet, verdeckt ein wenig die hellsichtige Feststellung, dass die Zeit des echten Staatsgeheimnisses zwar einerseits lange abgelaufen, dass andererseits aber noch kein Vollstrecker dieses geschichtlichen Urteils auf den Plan getreten ist. Nirgends war bislang der Staat vor die Kulissen gezogen, nirgends ein rechtlicher Mechanismus installiert worden, der sein Schweigen bricht.
Californication …
Auf der anderen Seite des Atlantik wird im Jahr 1952 ein junger Mann in den amerikanischen Kongress gewählt. John E. Moss, Repräsentant für einen kalifornischen Distrikt, gilt der Eisenhower-Regierung als Kommunistensympathisant, fordert Akten zu den knapp dreitausend politischen Entlassungen der Regierung an und agitiert gegen McCarthy. Oberhalb dieser tagespolitischen Kämpfe fasst er bald ein großes Projekt ins Auge, einen Freedom of Information Act (FOIA).
Der Boden dafür war längst bereitet. Mehr als ein Jahrzehnt vor Schmitts Elegie auf das Arcanum gießt Woodrow Wilson sein Wahlprogramm von 1912 in ein Buch, in dem er den Staat in eine topologisch gewagte Zweidimensionalität hineinmetaphorisiert: »Government ought to be all outside and no inside.« Eine Rückseite der Kulisse soll es nicht mehr geben; keinen Ort, »where anything can be done that everybody does not know about«. Der große Supreme-Court-Richter Louis Brandeis, von Wilson berufen, fasste das urliberale Versprechen dieser Durchsichtigkeit in einen heute im Englischen zur Phrase gewordenen Satz: »Sunlight is said to be the best of disinfectants.«
Das totale Außen des Staates bedeutet seine totale Sichtbarkeit, das Ende des Geheimnisses in der Semantik des Visuellen. Mehr noch: Die Absage an den originären Innenraum des Staates wird nur möglich mit seiner endgültigen Demokratisierung. Allein in der Demokratie ist »der Staat selbst nur eine Selbstbestimmung des Volks und ein bestimmter Inhalt desselben«; er wird zum »objektivierten Menschen«. Der Dualismus von Souverän und Untertan ist in der Differenz institutionalisierter Selbstregierung aufgegangen.
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