Der Krieg der Hisbollah
von Zain SamirAn einem warmen Nachmittag im Oktober waren die Straßen der südlibanesischen Stadt Aalma El Chaeb wie ausgestorben. Die Tankstelle, der Lebensmittelladen, die Bäckereien und die Kirche waren geschlossen. Mitten in der Stadt wühlten drei Graureiher in wochenalten Müllsäcken, ohne auf das monotone Summen der israelischen Drohne zu achten, die irgendwo über ihnen flog. Auf einem Bergrücken gegenüber, außerhalb des Kibbuz Chanita, stand ein befestigter israelischer Militärposten mit Kommunikationsmasten und betonarmierten Geschütztürmen, der eine Einheit der israelischen Streitkräfte mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen beherbergte. Einige Tage zuvor hatte sich eine Gruppe von Hisbollah-Kämpfern, bewaffnet mit Panzerabwehrlenkraketen des Typs Kornet aus russischer Produktion, im Unterholz versteckt, um den Posten zu beobachten. »Ya Fatimat al-Zahra«, rief einer der Hisbollah-Kämpfer, als er eine Rakete abfeuerte. Sie hinterließ eine schwache Rauchfahne, bevor sie einen Merkava-Panzer traf und zerstörte. Eine weitere Rakete folgte, und ein zweiter Panzer ging in Flammen auf. In einer Erklärung, die die Hisbollah zusammen mit dem Video des Angriffs veröffentlichte, erklärte die Organisation, dass »mehrere feindliche Soldaten getötet und verletzt wurden«.
Die folgenden Tage über gab es weitere Angriffe auf Chanita, bei denen neben Kleinwaffen auch Panzerabwehrraketen und Raketen eingesetzt wurden. Zwei palästinensische Kämpfer wurden getötet, als sie versuchten, den Grenzzaun zu durchbrechen und in den Stützpunkt einzudringen. Israel schlug zurück, indem es die Außenbezirke von Aalma El Chaeb beschoss und ein Feuer auf den Feldern und Olivenhainen entfachte, das bis an den Stadtrand reichte. Die Hisbollah hatte am 8. Oktober 2023 mit Angriffen auf israelische Militärstellungen begonnen, einen Tag nachdem Hamas-Kämpfer die israelische Grenze überquert und dabei 1200 Menschen getötet und 250 als Geiseln genommen hatten. Die Mudschahedin des »islamischen Widerstands« – wie sich die Hisbollah selbst bezeichnet – erklärten, sie führten militärische Operationen »zur Unterstützung unseres standhaften palästinensischen Volkes im Gazastreifen sowie seines tapferen und ehrenhaften Widerstands« durch. Die Hisbollah verfügt über eine größere und erfahrenere Kampftruppe als die Hamas, Israel hat allen Grund, sich vor ihr in Acht zu nehmen.
Der Umfang der Angriffe und Gegenangriffe war zunächst begrenzt. Mit der Verschärfung des Kriegs im Gazastreifen erhöhte die Hisbollah jedoch das Tempo und weitete ihre Angriffe auf Kasernen und andere militärische Stellungen aus. Die beschränkten sich allerdings weiterhin auf die Gebiete entlang der Grenze – zum Unmut einiger in der Region. Auch Israel verschärfte seine Vergeltungsmaßnahmen. Mithilfe der Luftwaffe und bewaffneter Drohnen wurden Hisbollah-Kämpfer in erheblicher Zahl, aber auch einige Zivilisten getötet, was wiederum die Hisbollah dazu veranlasste, zum ersten Mal Raketen schweren Kalibers und Kamikaze-Drohnen einzusetzen. Nach fast zwei Jahrzehnten relativer Ruhe an der libanesisch-israelischen Grenze droht der israelische Verteidigungsminister, mit Beirut ebenso zu verfahren wie mit Gaza. Hassan Nasrallah, der Führer der Hisbollah, hat Israel gewarnt, die Hisbollah werde im Falle eines erneuten Angriffs auf Beirut ihrerseits mit Raketen auf Tel Aviv und darüber hinaus feuern. Es ist klar, dass ein neuer Krieg sich nicht auf den Libanon beschränken würde, sondern die gesamte Region einbeziehen könnte, wenn die mit dem Iran verbündete »Achse des Widerstands« – die Hisbollah, die Hamas, die Arabische Republik Syrien und andere Gruppen – sich auf die Doktrin der »Einheit der Schlachtfelder« beruft. Die jemenitischen Huthi und proiranische Gruppierungen im Irak haben bereits amerikanische und israelische Stützpunkte angegriffen.
Die Grenze zwischen Israel und dem Libanon wird die »Blaue Linie« genannt. Obwohl sie eine der am stärksten befestigten zwischenstaatlichen Grenzen der Welt ist, handelt es sich dabei nicht um eine Grenze im völkerrechtlichen Sinn, sondern um eine von der UNIFIL – der UN-Übergangstruppe im Libanon – festgelegte »Rückzugslinie«, um den Rückzug der israelischen Streitkräfte aus dem Südlibanon im Jahr 2000 zu bestätigen. (»Unbeschadet künftiger Grenzabkommen zwischen den betroffenen UN-Mitgliedstaaten«, wie die UNIFIL es ausdrückte.) Die Blaue Linie erstreckt sich über eine Länge von fast 120 Kilometern von der Mittelmeerküste im Westen über die Hügel von Dschabal Amil und dann nach Nordosten bis zur syrischen Grenze oberhalb der besetzten Golanhöhen, neben dem sogenannten Galiläischen Finger des israelischen Territoriums. Israel hat entlang der Blauen Linie eine hochmoderne Sicherheitsbarriere errichtet, die Stützpunkte wie den in Chanita mit anderen entlang der Grenze verbindet. Sie ist bis zu neun Meter hoch und besteht aus Betonplatten, die mit einem Stahlzaun versehen sind. In regelmäßigen Abständen ragen aus den Mauern schräge Metallkonstruktionen mit Überwachungs- und Wärmebildkameras sowie anderen Sensoren und Abhörgeräten heraus, die es Israel ermöglichen, die libanesische Seite ständig zu überwachen.
Ich bin die gesamte Strecke in beiden Richtungen abgefahren. Die Mauer schlängelt sich die Hügel hinauf und um sie herum, an einigen Stellen versteckt sie sich hinter Bäumen oder Bergkämmen, an anderen liegt sie dicht an der Straße und überragt alles, was darauf fährt. Auf der libanesischen Seite haben Künstler Wandbilder gemalt: Eines im Banksy-Stil zeigt einen Mann, der eine Pistole durch ein Fenster abfeuert, hinter dem die goldene Kuppel der al-Aqsa-Moschee zu sehen ist; es gibt auch schablonierte Porträts von Märtyrern, darunter der iranische Kommandeur Qasem Soleimani, der vor vier Jahren von einer US-Drohne getötet wurde. Unterwegs sah ich Kämpfer in Militärjeeps oder auf Geländemotorrädern. Als ich mich Aalma El Chaeb näherte, stiegen weiße Rauchsäulen von einem weiteren israelischen Angriff auf, und später, in Dhayra, konnte ich den eigentümlichen Lärm einer abgehenden Raketensalve hören. Nachts bebte mein kleines Hotel in Naqura, als ein israelischer Luftangriff eine nahegelegene Stellung traf.
Die Einwohner von Aalma El Chaeb und anderen Grenzstädten wollten nicht abwarten, in welche Richtung sich der Krieg entwickeln, ob er von kurzer Dauer sein oder sich auf die gesamte Region ausweiten würde. Am 9. Oktober, einen Tag nachdem die Hisbollah ihre erste Rakete abgefeuert hatte, verließen fast alle die Stadt – zum sechsten Mal seit 1978. Aber eine Handvoll Menschen war noch da, darunter zwei Nonnen, die ich in einer Seitenstraße traf. Sie hatten beschlossen, an diesem Nachmittag mit ihrem alten Toyota aufzubrechen, aber der Priester, der sie begleitete, wollte bleiben. Während des Krieges 2006, so erzählte er mir, hatten israelische Angriffe 130 Häuser zerstört – das wollten die Menschen nicht noch einmal durchmachen. »Wir wissen nicht, was passieren wird«, sagte er. »Niemand ist gekommen und hat uns gesagt, was wir tun sollen. Wir wissen nicht, ob wir bleiben oder gehen sollen, die Eltern wissen nicht, was sie mit ihren Kindern machen sollen. Es ist wie im letzten Krieg, und wir sind zwischen den Fronten gefangen. Sie – die Hisbollah, die libanesische Regierung, die Armee – haben hier keinen einzigen Schutzraum gebaut.« In einer anderen Stadt, weiter die Straße entlang, waren die einzigen verbliebenen Bewohner eine alte Frau und ihr Mann. Sie saß auf einem Plastikstuhl auf der Betonveranda ihres Hauses und sagte, dass sie nicht mehr laufen könne. »Ich schleppe mich auf diesem Stuhl herum, wenn ich mich bewegen will.« Neben ihr stand ein kleiner Ofen, den sie zum Backen von Fladenbrot benutzte. »Wohin sollen wir gehen?«, fragte sie, »Unsere Kinder können ihre Familien kaum ernähren; wir werden hier bleiben und sterben, wenn Allah es will.«
In den Hügeln des Südlibanon haben mehr Kriege zwischen Israel und Arabern stattgefunden als irgendwo sonst im Nahen Osten, mit Ausnahme des Gazastreifens. Schon vor der ersten israelischen Invasion 1978 hatte die PLO, die den Libanon nach ihrer Vertreibung aus Jordanien zu ihrem ständigen Stützpunkt gemacht hatte, viele Opfer unter der lokalen schiitischen Bevölkerung zu beklagen. Auf die zweite Invasion im Jahr 1982 folgten achtzehn Jahre israelischer Besatzung, die mithilfe der Südlibanesischen Armee, einer überwiegend maronitischen christlichen Miliz, durchgeführt wurde. Nach einem langen Aufstand der Hisbollah zog Israel seine Truppen im Jahr 2000 ab, allerdings erst nach zwei brutalen Bombenangriffen in den Jahren 1993 und 1996. Dann kam der Krieg von 2006, durch den schätzungsweise eine Million Libanesen vertrieben wurden.
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