Der Mythos der Entscheidung
von Bernhard Schlink1.
In der Verzweiflung am Denken, in der Verachtung des Denkens wird auf die Entscheidung gesetzt. In dem Augenblick, in dem Gott in das Leben einbricht, endet für Kierkegaard das Denken in den vorgezeichneten Bahnen und gilt es die Entscheidung, den Sprung in den Glauben. In dem Augenblick, in dem der Mensch für seine Lieben, seine Pflichten und sein Denken Argwohn und Verachtung empfindet, hält Nietzsche ihn zur Entscheidung für die Freiheit fähig. In dem Augenblick, in dem die Philosophie sich ihrer tradierten Prätentionen entledigt, sieht Heidegger sie ihren Sinn schärfen und sich der Situation des Handelns und der Entscheidung stellen.
Auch Juristen sind im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert an den Methoden und Resultaten ihres Denkens verzweifelt und haben es verachtet. Das dem Positivismus zugeschriebene Versprechen, das Gesetz gebe dem Richter vor, was er für seine Urteile brauche, einen Mechanismus des Auslegens, Subsumierens und Anwendens, hatte sich nicht erfüllt und konnte sich nicht erfüllen. Was als Auslegung geübt wurde und zum einen auf die Grammatik, den Wortlaut des Gesetzes, dann auf den Willen des historischen Gesetzgebers, dann auf das Telos, den Willen des Gesetzes, und schließlich auf den systematischen Zusammenhang der Gesetzesbestimmungen abstellte, war nicht von mechanischer Genauigkeit und Verlässlichkeit und holte nicht den Gehalt aus dem Gesetz, der in ihm lag. Es fügte dem Gesetz Gehalt zu. Es bestimmte, welcher Sprachgebrauch und welche Wortbedeutung zählen sollten, fingierte die zufälligen Äußerungen weniger Abgeordneter zum Willen des Gesetzgebers, legte dem Gesetz einen Willen zu, den ein Gesetz nicht haben kann, und konstruierte die systematischen Zusammenhänge, in denen es die Gesetzesbestimmungen sah. Und nicht nur versetzten die tradierten Methoden der Auslegung den Richter nicht in den Stand, als bloßer Mund des Gesetzes zu urteilen. Das erwachende soziologische und psychologische Interesse an der Wirklichkeit des Rechts bemerkte, dass Richter ihre Urteile nicht finden, indem sie einfach von der grammatischen über die historische und teleologische zur systematischen Auslegung voranschreiten, sondern dass sie auf die Interessen blicken, die im Fall im Spiel sind, sich an Billigkeit und Gerechtigkeit, Empathie und Sympathie orientieren und darauf achten, was Nutzen bringt, Frieden stiftet, der höheren Instanz gefällt, der Karriere dient und manches mehr. In der Freirechtsbewegung des frühen 20. Jahrhunderts dankte das juristische Denken zugunsten der aus dem Rechts-, Moral- und Kulturgefühl erwachsenen Entscheidung ab.
Weil auch Carl Schmitt in den Auslegungsmethoden kein und im Gefühl ein schlechtes Kriterium für die Richtigkeit der richterlichen Entscheidung fand, wollte er in seiner frühen Arbeit Gesetz und Urteil von 1912 die Richtigkeit einer richterlichen Entscheidung daran prüfen, ob ein anderer Richter sie ebenso getroffen hätte. Nicht die Theorie erweise die Richtigkeit, sondern die der Rechtsbestimmtheit verpflichtete, auf Gleichmäßigkeit und Einheitlichkeit, Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit angelegte Praxis. Sie sei eigenständig gegenüber der Theorie, die Entscheidung eigenständig gegenüber dem Gesetz.
Der Gedanke der Eigenständigkeit der Entscheidung bleibt im Werk Schmitts bestimmend. Souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheide; hier offenbare sich das spezifisch juristische Formelement der Dezision in absoluter Reinheit, denn hier sondere sich die Entscheidung in besonderer Deutlichkeit von der Rechtsnorm und beweise die Autorität, dass sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben brauche (Politische Theologie, 1922). Vom spezifisch juristischen Formelement wird die Dezision zum Wesenselement einer spezifischen Art juristischen Denkens (Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934), und von der staatlichen und rechtlichen Sphäre greift der Dezisionismus in die politisch-existentielle über. Der Begriff des Staates setze den Begriff des Politischen voraus, und politisch werde es, wenn es um die Entscheidung zwischen Freund und Feind gehe, eine eigenständige, eine existentielle Entscheidung, eine Entscheidung auf Leben und Tod (Der Begriff des Politischen, 1932).
Das fand seine philosophisch-juristische, juristisch-philosophische Nachbarschaft und Nachfolge. Auf dem Weg, auf dem Walter Benjamin seine Kritik der Gewalt zur Unterscheidung von rechtsetzender und rechterhaltender Gewalt, zur Verwerflichkeit beider Gewalten und zur Heiligkeit einer rechtsvernichtenden, entsühnenden, reinen Gewalt führt, betont er die Unlösbarkeit aller Rechtsprobleme; sie folge daraus, dass nicht die Vernunft die Berechtigung von Mitteln und die Gerechtigkeit von Zwecken erweise, sondern die Entscheidung, und über die Berechtigung von Mitteln entscheide schicksalhafte Gewalt, über die Gerechtigkeit von Zwecken Gott (Zur Kritik der Gewalt, 1921). Ohne die letzte Entscheidung der Rechtsprobleme dem Schicksal oder Gott zu übertragen, hält Jacques Derrida im Aufgreifen der Gedanken Benjamins zu Gewalt und Recht an der Unfähigkeit der Vernunft zur Entscheidung aller Rechtsprobleme fest; er sieht jede Entscheidung in der Nacht der Nichtregelung und des Nichtwissens getroffen, sieht jede Entscheidung als Aporie (Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1990). In dem permanenten Ausnahmezustand, in dem wir nach Giorgio Agamben leben, gibt es zwischen Gewalt und Recht, zwischen Leben und Norm keinerlei substantielle Verbindung mehr, bleibt aber allemal die Entscheidung (Ausnahmezustand, 2003). Zuletzt hat Rainer Maria Kiesow den Mythos aufgegriffen; die Stunde der Entscheidung schlage im Normal- wie im Ausnahmezustand gleichermaßen, sie schlage, weil das Recht sich nicht sagen lasse, wie es gesagt werden soll, weil an den Rechtsproblemen der Verstand scheitere und nur die Entscheidung bleibe (Zwischen Gesetz und Urteil gibt es keine Hermeneutik. In: Merkur, Nr. 842, Juli 2019).
2.
Mit der Entdeckung, dass Auslegung mit den tradierten Methoden die juristische Entscheidungsfindung weder hinreichend steuert noch hinreichend steuern kann, begann die Mythisierung der juristischen Entscheidung. Seitdem wird die unzureichende Steuerungskraft wieder und wieder entdeckt und wird die Eigenständigkeit der juristischen Entscheidung wieder und wieder betont und gegen juristische Hermeneutik ausgespielt.
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