Heft 899, April 2024

Der neue Architekturstreit

von Owen Hatherley

Die Blase der ultramodernen Architektur ist geplatzt. Die öffentlichen Gebäude der Welt werden heute nur noch selten von den »Starchitekten« entworfen, die die späten 1990er und 2000er Jahre dominierten – Zaha Hadid, Herzog & de Meuron, Rem Koolhaas und Frank Gehry. Die Städte füllen sich nicht mehr mit gewölbten, fließenden, verspielten Signature-Buildings, in denen es keine rechten Winkel gibt, aber dafür umso mehr Ingenieursleistung und fortschrittliche Computertechnik. Die Architektur ist von einer neuen Nüchternheit erfasst worden. Die Tradition, so sieht es aus, ist zurück.

Die Abwendung von der ultramodernen Architektur vollzog sich zunächst langsam, beschleunigte sich aber mit der Finanzkrise von 2008, als die Weltwirtschaft und so manches politische System ins Wanken gerieten. In diesem Chaos erhielt die Stabilität der neoklassischen Architektur ihren Segen von ganz oben. Im Jahr 2020 unterzeichnete Präsident Donald Trump eine Verordnung zur Förderung von »klassischer« Architektur, insbesondere »schöner« traditioneller Stile wie Greek Revival, Neogotik, Georgianische Architektur und Neoklassizismus. Er folgte damit dem Beispiel der konservativen britischen Regierung, die 2018 den schon etwas älteren Philosophen Roger Scruton zum Leiter einer Kommission ernannt hatte, die dafür sorgen sollte, dass neue Wohnhäuser »schön« gebaut werden, wobei Scruton schnell klarstellte, dass damit »traditionell« gemeint war.

Schon zuvor, im Jahr 2014, hatte der chinesische Präsident Xi Jinping ein Edikt erlassen, in dem er ein Ende der »seltsamen Architektur« in China forderte – wahrscheinlich eine Anspielung auf Gebäude wie das geschwungene Opernhaus in Guangzhou (entworfen von Hadid), die der Schwerkraft trotzenden, oben verbundenen Doppeltürme der CCTV-Sendezentrale in Beijing (von Koolhaas /OMA) oder das benachbarte Olympiastadion, das »Vogelnest« genannt wird (von Herzog & de Meuron und Ai Weiwei). Die traditionellen Gassen in Beijing, die Hutongs, von denen viele aufgrund der Olympischen Spiele 2008 dem Abriss zum Opfer fielen, wurden in den letzten Jahren als Touristenattraktionen sorgfältig restauriert. Und in der Europäischen Union, insbesondere in Deutschland und Polen, errichtet man im Rahmen von historischen Rekonstruktionsprojekten – an deren Stelle in einem früheren Jahrzehnt vielleicht ultramoderne, mithilfe extremer digitaler Rechenpower abenteuerlich gestaltete Kunstzentren entstanden wären – nun neue Gebäude in Retro-Optik mit Giebeln und Dachschrägen und verwinkelten Gassen.

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