Heft 876, Mai 2022

Der Romantik-Popanz

Ein Wiedergänger von Stefan Matuschek

Ein Wiedergänger

Von der Romantik auf schiefer Ebene hinab bis zu Hitler: Das Schreckgespenst des romantisch-deutschen Irrationalismus wird derzeit wieder einmal mit großem Gestus mahnend beschworen. Es ist ein leerer Spuk. Denn erstens sind Nationalcharaktere ohnehin nur imaginäre Größen, zweitens ist die Geschichte kein Fatum, dem die Akteure ausgeliefert wären, und drittens ist die Romantik keine typisch deutsche, sondern in ihren ersten Inspirationen eine englische, schottische, deutsche und französische Erscheinung, die sich schnell und in großer Vielfalt und Verschiedenartigkeit über Europa und auch darüber hinaus ausbreitete. Die Verschiedenartigkeiten verliefen dabei nicht entlang der Landesgrenzen, sondern lagen quer dazu. Novalis und Chateaubriand etwa formulierten zur gleichen Zeit und ohne voneinander zu wissen ein sehr ähnlich ästhetisiertes Christentum. E. T. A. Hoffmann war der englischen Schauerromantik enger verbunden als den meisten deutschsprachigen romantischen Autoren seiner Zeit, und er stieß in England und Frankreich zunächst auf eine unvergleichlich größere Resonanz als in Deutschland.

Romantische Impfgegner?

Neu ist die Anrufung der romantischen Irrationalismus-Topoi nicht. Botho Strauß’ 1984 erschienener Roman Der junge Mann enthält ein »Der Wald« überschriebenes Kapitel, das aus Klischeemotiven der Romantik und in parodistischer Anlehnung an Novalis’ allegorische Märchen den deutschen Nationalcharakter vorführen will. Man ist nicht überrascht, darin auch eine Allegorie des Nationalsozialismus zu finden. Sie erscheint als ein Aufmarsch eines nach Berufsständen hierarchisch gegliederten »Volk[s]«, das von einer Führerfigur an seiner Spitze »aus seiner ›Ödnis‹ herausgeführt werden wollte«. Ziellos im Wald herumlaufend, verschlingt sich diese Menschenschlange schließlich Stück für Stück von hinten, bis »nichts mehr übrigblieb als die Führung selbst, hinter ihr aber nur Blut und Zerfall«.

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