Heft 915, August 2025

Der Westen, in dem ich geboren bin

von Navid Kermani

Wie es aussieht, erleben wir dieser Tage das Ende einer Epoche – die meisten von uns zum ersten Mal in ihrer Lebenszeit. Zwar fanden seit dem Zweiten Weltkrieg in vielen Teilen der Welt und ebenso an den südlichen und östlichen Rändern Europas Kriege, Umbrüche, Revolutionen, Systemwechsel statt, die das Unterste zuoberst kehrten, sich bis in den Alltag auswirkten, fast schon messianische Hoffnungen weckten oder geradezu apokalyptische Ängste hervorriefen. Aber jedenfalls im Westen Deutschlands, im Westen Europas, waren wir dabei jedes Mal nur Zuschauer. Unser eigenes Leben glich einem langen, historisch betrachtet ungewöhnlich ruhigen Fluss, dessen Stromschnellen und Wasserfälle vor allem privater Natur waren, Krankheiten, persönliche Krisen, berufliche Wenden, Unfälle, Liebe, Elternschaft, Trauer, Sterben. Sicher, auch unsere Lebenswelt hat sich drastisch verändert, seit wir Kinder waren, wenn ich allein an das Internet denke oder daran, dass noch 1990, also in meiner Studienzeit, auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik 96 Personen wegen homosexueller Handlungen verurteilt wurden und zehn Schwule deswegen in Haft saßen. Allerdings geschah der Wandel so langsam und immer zunächst untergründig, dass wir gar nicht recht mitbekamen, wie uns geschah, und uns heute kaum noch erinnern, dass es jemals anders gewesen ist.

Dieser Tage hingegen – man kann kaum mehr die Nachrichten einschalten oder eine Tageszeitung aufschlagen, ohne in seinen Gewissheiten erschüttert zu werden, sei es über den Krieg in Gaza, sei es über die Verteidigung der Ukraine, sei es über Deutschland selbst, wo eine Partei, die der Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem einstuft, in Umfragen erstmals auf Platz eins gelandet ist. Das hat natürlich zuvorderst mit den Entwicklungen in den Vereinigten Staaten zu tun seit dem neuerlichen Amtsantritt von Donald J. Trump als Präsident. Amerika hat unser Bewusstsein, unsere Politik, unsere Populärkultur wie keine andere Nation geprägt, und wenn Amerika nicht mehr dasselbe ist, gehören auch wir einer Welt von gestern an, mag es im Alltag noch eine Weile wie gewohnt weitergehen mit Regierungswechseln, Bahnchaos und jeden Abend dem gleichen Krimi im Fernsehen. Ich jedenfalls reibe mir jeden Tag die Augen, wenn ich durch die Nachrichten, Tweets und Bilder aus den Vereinigten Staaten scrolle, ich brauche das nicht alles aufzuführen. Genannt seien nur die Preisgabe der Ukraine, der Riviera-Plan für Gaza mitsamt des obszönen KI-Videos, die Drohung, sich Panama, Grönland und Kanada einzuverleiben, ja, sogar mit militärischen Mittel gegen einen NATO-Verbündeten vorzugehen, die weitreichenden Sprechverbote an öffentlichen Einrichtungen und der Frontalangriff auf die angesehenste Universität der Welt, der römische Gruß Elon Musks und seine Machtdemonstration im Oval Office zusammen mit seinem vierjährigen Sohn, der dem Präsidenten eine Nase dreht, die Missachtung höchstrichterlicher Urteile, die Verhaftung einer Richterin und die versuchte, teils bereits gelungene Erpressung der amerikanischen Großkanzleien, der Stopp der Entwicklungshilfe von einem auf den anderen Tag, die den Tod von Tausenden und Abertausenden Menschen in den ärmsten Ländern der Welt zur Folge haben wird, die in Szene gesetzten Massendeportationen, die bewusst die Bildsprache des Faschismus aufnehmen, die Leugnung des Klimawandels und damit verbunden die Priorisierung fossiler Energien gegen jede wissenschaftliche Erkenntnis, überhaupt die Wissenschaftsfeindlichkeit und damit verbunden der Förderstopp für die Forschung in lebensrelevanten Bereichen wie Medizin oder Pharmazie – und so weiter und so fort. Wer von uns hätte auch nur eine dieser Meldungen noch bis vor kurzem für möglich gehalten? Dabei waren die meisten Maßnahmen bis ins Detail beschrieben in den Übernahmeszenarien der … nein, konservativ kann man jene Denkfabriken nicht nennen, die der Regierung nahestehen, sie sind das genaue Gegenteil, nämlich im Geiste nicht weniger umstürzlerisch als die Kapitolstürmer des 6. Januar 2021, die vom neuen Präsidenten denn auch am Tag eins seines Amtsantritts amnestiert worden sind, schwere Gewaltverbrecher unter ihnen.

Allein schon am Bedeutungswandel des Wortes »konservativ« ließe sich ablesen, dass an unseren Begriffen kaum noch etwas stimmt. Die europäische Rechte möchten jubeln über den Nationalismus, der mit Trump gesiegt hat, aber merkt zugleich, dass die Interessen der jeweils eigenen Nation, ob Deutschland, Frankreich oder Italien, den amerikanischen diametral entgegengesetzt sind. Vollends verwirrt ist die politische Linke, die doch immer amerikakritisch war. Ein guter – oder in meinen Augen: der schlechtere Teil von ihr argumentiert, was die Ukraine oder die Globalisierung betrifft, neuerdings proamerikanisch, wohingegen ein eingefleischter Transatlantiker wie der neue Bundeskanzler am Abend seines Wahlsiegs in martialischen Worten dazu aufruft, sich gegen Amerika zur Wehr zu setzen. Und angesichts der Übermacht der Tech-Konzerne führen Ordoliberale das Wort Enteignung im Mund, das man aus dem Sozialismus kennt. Ganz zu schweigen von den verdutzten Tesla-Fahrern, die sich gestern noch für umweltfreundlich hielten und heute als Faschisten angepöbelt werden. Weitgehend Konsens ist es inzwischen – und mit inzwischen meine ich keinen Zeitraum von Jahren und Jahrzehnten, sondern die kurze Zeit seit der Demütigung des ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Weißen Haus am 28. Februar –, dass es den Westen nicht mehr gibt, den Westen, in dem die meisten von uns geboren sind.

Nun beginnt keine Revolution am Tag ihres Ausbruchs. Auch Umstürze, Kriege, Systemwechsel, so plötzlich und unerwartet sie geschehen, haben stets eine Vorgeschichte, die mit größerem zeitlichem Abstand erkennbar wird. Und was das vermeintliche oder tatsächliche Ende des liberalen Zeitalters betrifft, so sind wir mittendrin und können daher nur spekulieren, ob künftige Historiker das Jahr 2025 dereinst in eine Reihe stellen mit 1914, 1933, 1989 oder 2001. Könnte es nicht sein, dass die Amerikaner bei den Zwischenwahlen im nächsten Jahr für eine demokratische Mehrheit im Kongress sorgen und bei der nächsten Präsidentschaftswahl gerade noch rechtzeitig verhindern, dass sich ein oligarchisches Machtsystem etabliert oder eine Datendiktatur, wie sie Elon Musk und Peter Thiel vorzuschweben scheint? Durchaus spricht manches für die Resilienz der amerikanischen Demokratie und sehr viel für ein Scheitern Donald Trumps, dessen Bildungshorizont, Disziplin und strategische Fähigkeit offenkundig begrenzt sind. Der Tweet, den der ehemalige Schachweltmeister und russische Dissident Garri Kasparow nach Trumps wieder einmal kuriosem Auftritt mit dem neugewählten kanadischen Premierminister absetzte, fasst den Eindruck ganz gut zusammen, der sich vielen aufdrängt: »Wenn Sie betagte Eltern hätten, die so plappern, würden Sie ihnen Kreditkarten und Scheckbuch wegnehmen.« Nimmt man noch sein Team hinzu, das im Wesentlichen aus Geschäftsfreunden und Fernsehmoderatoren besteht, politisch weitgehend unerfahren, muss man es erst recht für abwegig halten, dass die neue Administration tatsächlich amerikanische Interessen gegen die ausgebufften Führer Chinas oder Russlands durchsetzen könnte. Vor allem aber könnten schon bald die Konflikte zwischen den widerstreitenden Unterstützern Trumps ausbrechen, insbesondere zwischen klassischen Nationalisten und den global ausgerichteten Tech-Industriellen.

Aber selbst wenn auf Trump wieder ein liberaler Präsident folgen sollte oder eine Präsidentin – ausgeschlossen scheint es, dass der Westen jemals wieder sein wird, was er für uns war, wenn man in drei Jahren überhaupt noch vom Westen sprechen wird. Denn die tektonische Verschiebung in der Weltpolitik hat lange vor dem jetzigen Erdbeben begonnen, noch vor dem Einstieg Donald Trumps in die Politik, und sie wird sich auch fortsetzen, sollte sich die Entwicklung in den Vereinigten Staaten äußerlich wieder beruhigen. Von einer Zeitenwende haben wir bereits 2022 beim Vormarsch Russlands auf Kiew gesprochen, und erinnern wir uns, einige Monate zuvor, im August 2021, als die Vereinigten Staaten mitsamt ihrer übertölpelten Verbündeten aus Afghanistan flohen, lautete die Überschrift zahlreicher Kommentare und Talkshows, dass dies das Ende des Westens sei. Und damals war es mit Joe Biden ein Demokrat, der an der gewählten afghanischen Regierung vorbei das schändliche Abkommen mit den Taliban umsetzte und insbesondere die Afghaninnen in die Knechtschaft entließ.

2004 war ich für einige Tage zu Besuch in Harvard, also etwa ein Jahr nach dem Angriff der Vereinigten Staaten auf den Irak. In Erinnerung geblieben ist mir unter anderem eine Begegnung mit dem berühmten Orientalisten Roy Mottahedeh, einem schnauzbärtigen, sehr höflichen, damals schon älteren Herrn. Ich fragte ihn, wie den USA mit all ihrer wissenschaftlichen Expertise und den anerkannt besten Nahost-Forschern der Welt ein solches absehbares Fiasko wie im Irak unterlaufen konnte.

Sie haben auf niemanden gehört, sagte Mottahedeh.

Hat die Regierung denn keine Berater? fragte ich: Niemanden, der sich mit dem Irak auskennt?

Nein, hat sie nicht. Wir waren die Berater, also auch ich. Ich war ständig in Washington, um Regierungen zu beraten, und manchmal haben sie auf mich gehört und manchmal nicht. Aber die Bush-Administration hat uns Nahost-Experten alle vor die Tür gesetzt.

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