Heft 865, Juni 2021

Die Entstehungsgeschichte von Edward Saids »Orientalismus«

von Timothy Brennan

Edward Saids Orientalismus ist schon lange ein akademischer Klassiker. Als die englische Originalausgabe 1978 bei Pantheon Books in New York erschien, war die große Resonanz, auf die es stoßen sollte, allerdings nicht ansatzweise abzusehen. Das Buch beginnt mit einem krassen Schwenk über die im Bürgerkrieg ausgebrannte Architektur der Altstadt Beiruts. Daran schließt sich ein Exkurs über die Geschichte einer obskuren akademischen Disziplin aus der Zeit der Romantik an. Die Kapitel springen von der Literatur des 19. Jahrhunderts über die opera buffa des Medienbetriebs der Vereinigten Staaten zu den üblen Machenschaften von Henry Kissinger. Wer noch nie etwas von Said gelesen hatte und nicht vertraut war mit den Schriften des Historikers William Appleman Williams über das Empire als »a way of life« oder auch mit der Dichtung von Lamartine, den musste die Auswahl der Quellen verwirren oder gar überfordern. Die eine Hälfte der Philologen und Historiker, deren Urteile über den Erfolg des Buches entschieden, sah in dem Buch einen Triumph der Wissenschaft, die andere empfand es als Skandal – niemand aber konnte es einfach ignorieren.

Dass hier eine Anklageschrift gegen die englische und französische Erforschung der arabischen und islamischen Welt vorlag, machte Orientalismus hinreichend deutlich. Das Feld der Orientalistik, so lautete der zentrale Vorwurf, hatte es geschafft, ein fantasievoll ausgestaltetes Bild von Arabern und vom Islam zu schaffen, das sich lückenlos in die Vorurteile des westlichen Publikums fügte. Manchmal waren diese Projektionen überschwänglich und berauschend, manchmal infantilisierend oder gehässig, aber nie beschrieben sie Araber und Muslime auf eine zutreffende Weise. 

Über Jahrhunderte hinweg formten diese Bilder und Einstellungen ein Netz aus sich gegenseitig verstärkenden Klischees, die sich in den Vorgehensweisen der Medien, der Kirche und der Universität widerspiegelten. Mit der Autorität der scheinbar objektiven Wissenschaft gesellten sich neue Vorurteile zu denen, die bereits im Umlauf waren. Dieses beeindruckende Gebäude der Gelehrsamkeit, dessen Fundament letztlich aus kaum mehr bestand als einer Handvoll religiöser Schriften aus der Zeit des Mittelalters, verstellte schließlich jeden anderen Zugang zur arabischen Welt – sie war gefangen in den Klassikern ihrer eigenen Vergangenheit. Diese Beschreibung des Felds war noch der unstrittigste Punkt an Orientalismus. Darüber hinaus war sich die Kritik aber praktisch über nichts einig. 

Bei der Abfassung seines ikonoklastischen Buchs kam Said seine Freundschaft mit Noam Chomsky zugute. Chomsky, dessen Bücher im gleichen Verlag erschienen, hatte wegen seiner politischen Invektiven reichlich Erfahrung mit schlechter Presse. Said verfolgte Chomskys Angriffe auf die akademischen Institutionen, denen er Komplizenschaft im Vietnamkrieg vorwarf, und er erwog vorübergehend, mit Chomsky gemeinsam ein Buch über fehlgeleitete kulturelle Darstellungen des Nahen Ostens zu schreiben. Da Chomsky sich aufgrund anderweitiger Verpflichtungen außerstande sah, etwas zu dem Projekt beizutragen, machte Said schließlich allein weiter. So entstand Orientalismus

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