Die Erfindung der wissenschaftlichen Rassetheorien
von Andrew S. Curran, Henry Louis Gates Jr.Im Jahr 1712 unterzeichnete der französische König Ludwig XIV. die lettres patentes, mit denen die Königliche Akademie der Wissenschaften, der Schönen Künste und der Literatur von Bordeaux offiziell gegründet wurde, eine Gelehrtengesellschaft zur Förderung der Forschung und öffentlichen Erbauung. Im Gegensatz zur eher konservativen Universität von Bordeaux, deren Hauptaufgabe es war, die künftigen Priester, Ärzte und Juristen des Landes im Einklang mit den Lehren der Heiligen Schrift auszubilden, war die Akademie ihrem Selbstverständnis nach »aufgeklärt«: Ihr Ziel war es, wissenschaftliche Wahrheit als Teil eines umfassenderen Programms voranzubringen, das darauf abzielte, »das Glück der Menschheit« zu befördern.
Jedes Jahr organisierte die Akademie einen Preisschriften-Wettbewerb, den sie in ganz Europa ausschrieb. 1739 gaben die Mitglieder das Thema des Wettbewerbs von 1741 bekannt: »Quelle est la cause physique de la couleur des nègres, de la qualité de leurs cheveux, et de la dégénération de l’un et de l’autre?« Diese Frage implizierte die Annahme, dass den »nègres« etwas zugestoßen war, aufgrund dessen sie degenerierten, schwarz wurden und ihnen ungewöhnliches Haar wuchs. Kurz gesagt wollte die Akademie wissen, wer schwarz ist und weshalb. Sie wollte ebenfalls wissen, was es bedeutet, schwarz zu sein. Dem Gewinner versprach man eine Goldmedaille im Wert von dreihundert Livres, was ungefähr dem Jahreseinkommen eines durchschnittlichen Arbeiters entsprach.
Der Wettbewerb von 1741 war nur das jüngste in einer ganzen Reihe von Beispielen für die Faszination, die dunkle Haut bei Nichtafrikanern auslöst. Als die antiken Griechen, Römer und Araber das erste Mal die Bewohner Afrikas beschrieben, waren sie am meisten von deren Farbe beeindruckt. Über viele Jahrhunderte entwickelte sich die »Schwärze« der Afrikaner zu einem pauschalen Merkmal, das die Skala von rötlichen, gelblichen und schwarz-braunen Farben ersetzte, die die Haut von Afrikanern tatsächlich aufweist. Die Farbe Schwarz wurde zudem zum Synonym für das Land selbst; viele der geografischen Bezeichnungen, die Außenstehende dem subsaharischen Afrika gaben – Niger, Nigritien, Sudan, Sansibar –, enthalten die etymologischen Wurzeln des Wortes »schwarz«. Das aussagekräftigste Beispiel ist der Name Äthiopien. Abgeleitet vom griechischen aitho (ich brenne) und ops (Gesicht), wurde er bis ins späte 17. Jahrhundert die am weitesten verbreitete Bezeichnung für den gesamten subsaharischen Teil des Kontinents. Und er enthielt sogar eine Anspielung auf die Ursache der Schwärze selbst.
Im Lauf des Jahres 1741 trafen in der Akademie von Bordeaux sechzehn Beiträge mit Erklärungen für die Ursache der schwarzen Färbung ein. Sie kamen aus so weit entfernten Ländern wie Schweden, Irland oder Holland. Die Sammlung dieser Manuskripte wird heute in der Stadtbibliothek von Bordeaux aufbewahrt und hat die Verheerungen von Mäusen und Motten, Feuchtigkeit und Feuer überstanden – von der Französischen Revolution und zwei Weltkriegen ganz zu schweigen. In dieser frühneuzeitlichen Fokusgruppe herrschte allerdings alles andere als Einigkeit: Es gibt darin Bibelforscher, die behaupten, dass die Schwärze auf einen Fluch zurückzuführen sei; Klimatheoretiker, die davon ausgehen, dass die Körpersäfte der Afrikaner, insbesondere deren Galle, durch die sengende Hitze des Kontinents aus dem Gleichgewicht geworfen wurden; ein Anatom verkündet, dass er das Geheimnis der Schwärze entdeckt habe, als er die Leichen von Afrikanern auf einer Plantage in der Neuen Welt sezierte; und auch ein Essayist war darunter, der schon vier Jahrzehnte, bevor rassische Klassifikationen in großem Stil europäische Naturforscher zu verführen begannen, andeutete, dass er »Neger« als besondere Rasse oder sogar Spezies bestimmen könne. Insgesamt zeigt sich in den Beiträgen noch nicht die unterstellte biologische und kognitive Minderwertigkeit, die wenig später sowohl freien als auch versklavten Afrikanern zugeschrieben werden sollte. Dennoch erlauben sie uns einen Einblick in die unterschwellige Beziehung zwischen »Wissenschaft« und Sklaverei – und, in Abwandlung von W. E. B. Du Bois’ klangvoller Formel, einen Blick auf die Abenddämmerung vor dem Morgengrauen des Rassekonzepts.
Als die Wissenschaftsakademie den Wettbewerb über den Ursprung der Schwärze ankündigte, erwähnte sie die Sklaverei nicht. Und dennoch tauchte dieses scheinbar klinische Interesse an spezifischen afrikanischen Charakteristika offensichtlich zeitgleich mit der zunehmenden Abhängigkeit von der Besitzsklaverei in der gesamten Neuen Welt auf. Schätzungen zufolge bestiegen 1741 – dem Jahr, in dem die Beiträge in der Akademie eintrafen – 62 485 afrikanische Männer, Frauen und Kinder entlang der afrikanischen Westküste Schiffe in Richtung Brasilien, Zentralamerika, Karibik und Nordamerika. Regelmäßig starb eine schockierende Anzahl dieser Menschen unterwegs, alleine in diesem Jahr 9454. Obwohl der transatlantische Sklavenhandel seinen Höhepunkt noch nicht erreicht hatte, belief sich die Zahl der Afrikaner, die man auf diese gefürchtete Reise gezwungen hatte, schon damals auf weit über vier Millionen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, der Epoche, die wir heute als Aufklärung kennen, wurden weitere 4,5 Millionen Afrikaner gezwungen, ihren Kontinent zu verlassen, um auf der anderen Seite des Atlantiks in Städten, auf Farmen und Plantagen in brutaler Sklaverei zu leben.
Obwohl Bordeaux eine der großen Hafenstädte am Atlantik war, blieb die Stadt zur Zeit des Wettbewerbs ein vergleichsweise unbedeutender Akteur im Sklavenhandel. Bis 1837 hatten die dortigen Reeder, die sogenannten armateurs, jedoch etwa fünfhundert Expeditionen nach Afrika organisiert, in deren Folge etwa 150 000 Afrikaner auf französische Plantagen verschleppt wurden. Diese Zahl entspricht etwa 13 Prozent der 1,2 Millionen versklavten Afrikaner, die die Seereise überlebten und in den französischen Kolonien ankamen. Und sie übersteigt bei weitem die Einwohnerzahl von Bordeaux selbst, die 1789 bei etwa 110 000 lag.
Ein Großteil des Reichtums, der in den Jahren nach 1700 – Bordeaux’ so genanntem goldenem Zeitalter – in die Stadt strömte, stammte aus Unternehmungen in Amerika, insbesondere den drei größten französischen Kolonien Martinique, Guadeloupe und Saint-Domingue (Haiti). Diese Beziehungen trugen dazu bei, dass sich Bordeaux bis zur Jahrhundertmitte zum verkehrsreichsten und wichtigsten Hafen Frankreichs entwickelte; mehr als dreißig Schiffe wurden dort ausschließlich für den Kolonialhandel mit den Antillen eingesetzt. Schiffe, die Bordeaux in Richtung Antillen verließen, transportierten Mehl, Schweineschmalz, Rindfleisch, Schinken, Eisenrollen, Kupfergerätschaften, Keramik, Bedachungen, Eisenwaren, Werkzeuge, Stoffe und Kleidung sowie Waffen und Munition, die dazu dienten, die schwarze Bevölkerung der Insel zu kontrollieren. Auf ihrem Rückweg nach Bordeaux brachten die Schiffe Kakao, Kaffeebohnen, Baumwolle, Ingwerwurzeln und Tausende Tonnen Rohrzucker mit.
Aus den Gewinnen des kolonialen Handels wurden auch etliche der fünftausend gemauerten Wohngebäude und opulenten Stadthäuser finanziert, die in dieser Zeit errichtet wurden. Das sichtbarste Zeugnis für Bordeaux’ koloniales Engagement in der Karibik (und im Sklavenhandel) findet sich an den Fassaden von zahlreichen Gebäuden aus dem 18. Jahrhundert in der Nähe des alten Zollhauses am Garonne-Ufer. Über den massiven portes-cochères, den Toreinfahrten dieser ehemaligen Stadthäuser, blicken Maskarons, also Fratzenköpfe aus Stein oder Gips, mit afrikanischen Gesichtszügen auf die Passanten herab.
Im Großen und Ganzen machten sich die vierzig Mitglieder der Akademie von Bordeaux die Hände nicht im transatlantischen Sklavenhandel schmutzig. (Was auch wenig überraschend ist, da die Akademie keine Kaufleute in ihre Reihen aufnahm, nicht einmal, wenn es sich um reiche Kaufleute handelte.) Dennoch hatten viele Akademie-Mitglieder wichtige Kontakte und erhebliche finanzielle Interessen in der französischen Karibik. Einige von ihnen stammten aus Adelsfamilien, deren schwindende Vermögen durch die königliche Zuteilung von Plantagen in Martinique oder Saint-Domingue aufgefrischt worden waren. Dies gilt für Nicolas-Alexandre de Ségur und für Louis-Charles Mercier Dupaty de Clam sowie seinen Bruder, Jean-Baptiste Mercier Dupaty; Jean-Baptiste wurde auf dem Familienanwesen in Saint-Domingue geboren. Außerdem nahm die Akademie André-Daniel Laffon de Ladebat, François-Armand de Saige und Pierre-Paul Nairac auf, die alle aus Familien mit Verbindungen zum Sklavenhandel stammten. Nairac und seine beiden Brüder waren sogar selbst am Geschäft beteiligt; das Unternehmen der Familie hatte mehr als achttausend afrikanische Gefangene in die französischen Kolonien verschleppt, mehr als jedes andere Konsortium oder einzelne Unternehmen in der Stadt.
Das umfassendere »wissenschaftliche« Interesse der Akademie, das Wissen über die französischen Kolonien insgesamt und über die versklavten Völker auf diesen Inseln im Besonderen zu erweitern, ist nicht unabhängig von all diesen Verbindungen zur Karibik denkbar. Darum war es auch alles andere als unwahrscheinlich, dass die Akademie 1748 den auf Martinique geborenen Botaniker, Kolonialverwalter und Plantagenbesitzer Jean-Baptiste Thibault de Chanvalon in ihre Ränge aufnahm.
Der in diesem Zusammenhang vielleicht aufschlussreichste Moment kam jedoch im Jahr 1738, als diejenigen adligen Akademie-Mitglieder, die gleichzeitig einen Sitz im Parlament von Bordeaux hatten, über die Frage des rechtlichen Status der schwarzen Bevölkerung der Stadt urteilen mussten. Vor 1716 war es in Frankreich zumindest der Theorie nach rechtswidrig, eine Person zu versklaven. Einer königlichen Ordonnanz zufolge, die aus dem 14. Jahrhundert stammte, war jede Person, die ihren Fuß auf französischen Boden setzte, unmittelbar frei. Das Parlament von Bordeaux hatte dies 1571 in einem berühmtgewordenen Fall aufrechterhalten, als ein Sklavenhändler aus der Normandie in die Stadt kam und versuchte, seine Fracht afrikanischer Sklaven zu verkaufen. Das Parlament berief sich auf das Prinzip, wonach »niemand in Frankreich ein Sklave ist«, befreite die Sklaven und ließ den Eigentümer verhaften.
Der Status dieses »Privilège de la terre de France«, des so genannten Grundsatzes des freien Bodens, wurde zunächst während der Régence, der Übergangszeit zwischen der Herrschaft Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. in den Jahren von 1715 bis 1723, infrage gestellt. In dieser Phase der ungezügelten kolonialen Expansion proklamierte der französische Regent Philippe d’Orléans im Jahr 1716, dass versklavte Afrikaner aus der Karibik, die der Code Noir von 1685 als »meubles«, als bewegliches Eigentum, betrachtete, nicht mehr automatisch frei waren, wenn sie französischen Boden betraten. Nach vierhundert Jahren war die Sklaverei in Frankreich wieder legal.
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