Die Irrtümer der Soziologie
von William DaviesDer Zeitraum der Menschheitsgeschichte, in dem man sich in Europa voller Überzeugung als »modern« bezeichnen konnte, umfasst kaum hundert Jahre, von den Umbrüchen der 1870er bis zu denen der 1970er Jahre. Es war eine Ära, in der der bürokratische Nationalstaat das stabile Bauelement geopolitischer Macht, der Wohlfahrtsstaat das Modell sozialer Gerechtigkeit schien. Die liberale Demokratie sollte sich durch die stetige Ausweitung des Wahlrechts und der gesetzlich geschützten Menschenrechte verwirklichen. Expertinnen und Experten der Natur- wie der Sozialwissenschaften (Letztere frisch in verschiedene Disziplinen geteilt) sollten ihr Wissen für die Entwicklung reicherer, gesünderer, glücklicherer Gesellschaften zur Verfügung stellen. Die Industrie war zuständig für die kontinuierliche Ausweitung produktiver Möglichkeiten. Die Kunst verlor ihre Funktion der Abbildung der Welt oder der Feier politischer oder religiöser Autoritäten und war in die Freiheit entlassen, alternative Ausdrucksformen zu erfinden.
In seinem Buch The Return of Inequality betont Mike Savage, dass die »Moderne« sich auch in einem spezifischen Verhältnis von Zeit und Raum manifestierte, am deutlichsten spürbar, wenn man durch die Straßen der großen europäischen und amerikanischen Städte spazierte. Die moderne Gesellschaft existierte in einem Zustand ständiger Bewegung, zwischen einer jetzt erloschenen Vergangenheit und einer Zukunft voller Unsicherheit, dadurch aber auch voller Optionen. Das »Prämoderne« oder »Traditionelle« war vergangen und darum kaum noch von Interesse. Verhängnisvollerweise prägte diese Einstellung, wie Gurminder Bhambra und John Holmwood zeigen, auch den Blick auf viele nichteuropäische Völker: Sie erschienen als Relikte, die auf den aktuellen Stand gebracht oder ersetzt werden mussten.
In den hundert Jahren nach 1870 entstand und entwickelte sich mit der Soziologie auch die Disziplin, die sich am stärksten mit der »Moderne« befasste. Karl Marx hat seine reifen wissenschaftlichen Schriften zwischen den späten 1860er Jahren und seinem Tod im Jahr 1883 geschrieben, während die beiden anderen Giganten des soziologischen Kanons, Max Weber und Emile Durkheim, ihre wichtigsten Werke zwischen 1890 und 1920 verfassten. Bhambra und Holmwood zeigen, wie sich dieser Kanon nach 1945 etabliert hat, und zwar vor allem dank dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons, der bei den Bemühungen, der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin Anerkennung zu verschaffen, an vorderster Front stand.
In der Nachkriegszeit erlebten die ursprünglichen Gelübde der Moderne ihre energischste Wiederbelebung, mit der Stärkung des Wohlfahrtsstaats, fortschrittlicher Stadtplanung und der bewussten »Modernisierung« sich entwickelnder Ökonomien durch deren nun unabhängige Regierungen. Die Soziologie hatte all jenen Regierungen viel zu bieten, die sich der Verringerung der Armut und der Förderung des sozialen Zusammenhalts verschrieben und sich dabei nicht auf traditionelle (ererbte, religiöse oder anders irrationale) Lösungen für gesellschaftliche Probleme verlassen wollten.
Was ist aus diesem Projekt geworden? Die multiplen Krisen nach 1968 – ökonomische, politische und kulturelle Krisen – sind längst genau untersucht. Sie umfassen, unter anderem, die Unfähigkeit der Regierungen, angesichts eines sich verlangsamenden Produktivitätswachstums Wohlstand für alle zu bieten; die Sorge, dass Wohlfahrtsstaaten genauso viele Probleme schaffen, wie sie lösen; die Entwicklung einer politischen Generation, der kulturelle Differenzen wichtiger sind als kollektive Nöte; den von vielen verspürten Niedergang städtischer Gemeinschaftlichkeit, verursacht durch die Hybris der Planer und der modernen Architektur; die stetige Verlagerung des verarbeitenden Gewerbes ins Ausland; und das Gefühl, dass Experten – besonders in Feldern wie der Psychiatrie – ungebührlich viel Einfluss erhalten hatten. Der Neoliberalismus von Thatcher und Reagan mag keine Antworten auf all diese Probleme gehabt haben, aber wenigstens war er bereit, sie auf eine Weise beim Namen zu nennen, die ihm die politische Hegemonie zu gewinnen erlaubte.
Die Soziologie hat darauf in unterschiedlicher Weise reagiert. Jene mit dem entschiedensten Investment in die existierende Disziplin, zum Beispiel Anthony Giddens, sahen ihre Aufgabe darin, sie jetzt erst recht zum wichtigsten Erklärinstrument, zur Navigationshilfe für die moderne Gesellschaft zu entwickeln. Andernorts entstand eine Art postmoderner Soziologie, inspiriert von französischer Theorie, der das Nichtvorkommen der Experten in ihren eigenen Entdeckungen immer suspekt war. Welche Rolle spielten Statistiker bei der Erschaffung dieses Dings namens »Gesellschaft«, von dem sie so viel zu wissen behaupteten? Welche Macht verliehen Ärzte sich selbst, wenn sie versprachen, Menschen zu »heilen«? Wie brachten Wissenschaftler die »Natur« dazu, sich in ihren Laboratorien und Aufsätzen mit solcher Klarheit zu äußern?
Wenn wir die erwähnte Periodisierung akzeptieren, liegt der Höhepunkt der politischen Moderne und des sie begleitenden soziologischen Projekts nun mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Sind wir noch immer, bis heute, postmodern? Haben wir noch immer mit den Nachwirkungen von 1968 zu tun? Es kann zumindest so scheinen, wenn wir auf die jüngsten Ausbrüche der Kulturkämpfe blicken. Und doch leben wir zugleich im Schatten der Finanzkrise von 2008, des sich beschleunigenden Klimazusammenbruchs und einer Pandemie. Diese Ereignisse machen die terminologische Äquivalenz von »Gesellschaft« und »Nationalstaat«, um das Mindeste zu sagen, unhaltbar. Auf subtile Weise haben sie auch zu einem neuen Typus soziologischen Denkens beigetragen, der nicht auf Konzepten wie der Prämoderne, der Moderne oder Postmoderne beruht. Stattdessen verdankt er seine Einsichten und Inspirationen einer Disziplin, die deutlich weniger Mühe auf die Konzeptualisierung der modernen Gesellschaft verwendet hat: der Geschichtswissenschaft.
Die Geschichte und Historikerinnen übernehmen heute häufig die Rolle, die Soziologie und Soziologen einst suchten: als Erzähler und Kontextualisierer der Konflikte unserer Zeit. Die antirassistischen Bewegungen des vergangenen Jahrzehnts, kulminierend in Black Lives Matter, haben sich darauf konzentriert, Bewusstsein für Kolonialgeschichte zu schaffen, und damit auch für die Bedeutung der Sklaverei wie des imperialen und des Siedlerkolonialismus in der Entwicklung des europäischen Kapitalismus. Es ist auch ihnen zu verdanken, wenn man heute nicht überrascht ist, in den Nachrichten etwas über die Ursprünge des National-Trust-Eigentums oder von Cecil Rhodes’ Verbrechen zu erfahren.
Die Invasion Russlands in der Ukraine hat, um ein anderes Beispiel zu nehmen, zu neuen Diskussionen über den Zusammenbruch der Sowjetunion und die oft katastrophalen politischen Weichenstellungen der 1990er Jahre geführt: Die »Schocktherapie«, die darauf zielte, die russische Wirtschaft gemäß den in den USA dominierenden ökonomischen Tendenzen rasch zu privatisieren und zu liberalisieren, führte zum wirtschaftlichen Kollaps und einem Absinken der Lebenserwartung, wie es sie in einem industrialisierten Nationalstaat noch nie gegeben hatte. Die Profiteure waren am Ende Wladimir Putin, der auf einer nationalistischen Welle an die Macht gelangte, und die Oligarchen, die sich der privatisierten Vermögen bemächtigen konnten.
Wenn die Medien darüber diskutieren wollen, ob Donald Trump ein Faschist oder ob der Brexit ein imperialistisches Projekt ist und wie Pandemien an ihr Ende gelangen, werden Historikerinnen und Historiker zu den konsultierten Experten gehören. Adam Tooze, der öffentliche Intellektuelle, der in der englischsprachigen Welt die umfassendsten soziologischen Analysen der Finanzkrise, der Pandemie und ihrer jeweiligen Bezüge zur Klimapolitik anzubieten hatte, ist überhaupt kein Soziologe, sondern Historiker. Savage, Bhambra und Holmwood sind sich darüber einig, dass die Soziologie von Anfang an einer allzu hochfliegenden Vision der Moderne anhing, die einem im Rückblick ausgesprochen beschränkt vorkommen kann. Wozu wäre die Soziologie in der Lage, hätte sie ein ehrlicheres Verhältnis zu ihrer eigenen Vergangenheit?
Die globale Finanzkrise hatte die Linke zunächst in einige Aufregung versetzt, schließlich schien sie einen gravierenden Bruch im kapitalistischen System zu annoncieren. Schnell genug jedoch erwies sie sich als Coup für das Finanzkapital, das seine gesellschaftliche und politische Macht mit ihrer Hilfe zu stärken verstand. In den darauffolgenden Jahren versuchten mächtige Finanzinstitutionen, ihre Macht über die Ohnmächtigen auszunutzen, und es wurde immer schwieriger, die alten Ungleichheiten von Kultur, Nation und race zu ignorieren. Es ist nicht so einfach, die Vision moderner Unsicherheit oder einer genuin kapitalistischen Dynamik aufrechtzuerhalten angesichts einer Ökonomie, die sich, wie es Linkspopulisten formulieren, »manipuliert« anfühlt.