Heft 894, November 2023

Die Kadenz widerrufen

Gegenwart und Vergangenheit des Schocken Verlags von Kai Sina

Es ist vielleicht kein aberwitziges, aber doch ein höchst ungewöhnliches Vorhaben, über das die Süddeutsche Zeitung vor einigen Wochen berichtete: Der Schriftsteller Joshua Cohen, der zuletzt durch seinen mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman The Netanyahus auf sich aufmerksam gemacht hat, habe sich vorgenommen, den in New York ansässigen Verlag Schocken Books und damit »das Kronjuwel der jüdischen Gelehrsamkeit« in den Vereinigten Staaten zu kaufen.1 Das Geld aus dem Pulitzer-Preis hat er durch ein finanzkräftiges Konsortium aufstocken lassen (ihm gehört unter anderem der bekannte Galerist Lucas Zwirner an), dazu einen Geschäftsplan erstellt und die ideelle Unterstützung der Schocken-Familie in Israel eingeholt. Auch habe es schon erste, wenn auch bislang erfolglose Gespräche mit den Eigentümern des Verlagshauses gegeben. Dabei handelt es sich um einen der größten Player im internationalen Mediengeschäft, nämlich die Gütersloher Bertelsmann AG, die Mitte der neunziger Jahre die Verlagsgruppe Random House gekauft hat, zu der wiederum Schocken Books, vormals im Familienbesitz, seit den späten achtziger Jahren gehört.

Der Auslöser für Cohens Vorhaben war ein langer Artikel über die Verlegerin Lisa Lucas, der im Juni 2022 im New York Times Magazine erschienen war. Lucas war kurz zuvor Chefin von Pantheon Books geworden, als erste schwarze Frau in der achtzigjährigen Geschichte des Verlags. Pantheon ist heute wie Schocken ein Imprint von Penguin Random House, wo man sich seit einigen Jahren, konkret seit dem Mord an George Floyd im Sommer 2020 und den dadurch ausgelösten Protesten, mit großer Entschiedenheit um programmatische, aber auch personelle Diversität bemüht. Die Verlagsgruppe folgt damit einem Trend, der die amerikanische Verlagswelt im Ganzen erfasst hat, wie der Artikel an zahlreichen Beispielen darlegen kann. Lisa Lucas steht repräsentativ für das Bemühen, durch die Rekrutierung nichtweißer Führungskräfte die bislang von »rich, white men« bestimmte Verlags- und Bücherwelt offener, vielstimmiger, durchlässiger zu machen.2

Cohen stellt die historische Benachteiligung von Frauen und minority writers auf dem Buchmarkt keineswegs infrage; auch das Streben nach größerer Vielfalt befürwortet er ausdrücklich. Gereizt fühlt er sich aber durch das, was in dem Artikel mit keiner Silbe erwähnt wird, dass nämlich jene reichen, weißen Männer, die im Artikel für all das verantwortlich gemacht werden, was in den Verlagen bisher falsch lief – dass all diese Männer Juden waren, »publishing what they would, and what they could, while the Europe of their forebears burned, and burned their co-religionists«, wie er in einem Leserbrief an das Magazin der New York Times ausführte.3 Ohne diesen Hintergrund mit nur einer Silbe zu erwähnen, präsentiert der Artikel eine Liste der wichtigsten Vertreter in der Geschichte des amerikanischen Verlagswesens, gerade so, als handelte es sich um Beschuldigte, die sich nun ihrer historischen Verantwortung zu stellen hätten. Genannt werden Größen wie Roger Straus Jr., Mitgründer von Farrar, Straus & Giroux, Barney Rosset, Eigentümer von Grove Press, und Alfred A. Knopf, Gründer des gleichnamigen Verlags und, neben vielem anderen, Hauptunterstützer Thomas Manns im amerikanischen Exil.

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