Die Mittelschichtsgesellschaft als Projektion: Wie soziologische Zeitdiagnose gesellschaftliche Selbstbilder nachzeichnet und dabei ihren Gegenstand verfehlt
von Nils C. Kumkar, Uwe Schimank»Doch der Mittelschicht
Entkommt ihr nicht.«
Rainald Grebe, Lass die Kerne in den Oliven
Soziologische Zeitdiagnosen sind – wo sie erfolgreich sind – Beiträge zur gesellschaftlichen Selbstverständigung, wirken also an der Konstitution ihres Gegenstands mit. Die Anschlussfähigkeit einer Zeitdiagnose in der öffentlichen Debatte erweist sich darin, inwiefern sie der Gesellschaft hilft, ihr Selbstverständnis zu finden. Die Zeitdiagnose muss ein Deutungsangebot vorlegen, das den praktischen Alltagserfahrungen der Rezipientinnen und Rezipienten nicht grundlegend widerspricht und auch theoretisch nah genug am Vertrauten bleibt, um nachvollzogen werden zu können; und sie muss zugleich eine neue Sicht der Dinge anbieten, die dabei hilft, gesellschaftliche Probleme so zu fassen, dass sie bearbeit- oder zumindest hinnehmbar werden. Das bedeutet, dass eine erfolgreiche Zeitdiagnose, unabhängig von ihrer fachlichen Qualität, immer auch ideologisch in dem Sinn wirkt, dass sie standpunktgebundene Sichtweisen und Bewertungen bestätigen muss, um wirken zu können. Das macht es aber auch für eine Soziologie soziologischer Zeitdiagnosen interessant, sich mit ihnen auseinanderzusetzen: Warum wird eine Zeitdiagnose gesellschaftlich aufgenommen? Was lernt eine Gesellschaft über sich selbst, und was versäumt sie zu lernen, wenn sie sich darin wiederzuerkennen meint?
Mit solch einem Blick wollen wir uns dem in den letzten Jahren breiten Diskurs über die »Krise« der Mittelschichten und insbesondere Andreas Reckwitz’ Krisendiagnose, als avanciertestem und einflussreichstem Beitrag, nähern. Es gibt wohl kein soziologisches Buch der vergangenen Dekade, das derart breit in der politischen Landschaft rezipiert wurde, wie dessen Studie zum Ende der Illusionen. Politiker wie Christian Lindner, Robert Habeck und Lars Klingbeil haben das Buch in ihre öffentliche Selbstdarstellung einbezogen. Auch Friedrich Merz und Sahra Wagenknecht beziehen sich explizit auf Reckwitz’ Diagnose.
Die empirischen und theoretischen Unschärfen dieser Diagnose wurden an anderer Stelle behandelt. Wir wollen uns hier stattdessen wissenssoziologisch darauf konzentrieren, was den offenbar überparteilichen politischen Reiz von Reckwitz’ Deutungsangebot ausmacht. Voraussetzung seines beeindruckenden Erfolgs in der öffentlichen Debatte, so unser Argument, ist ein Beobachtungsfehler: Gegenstand der Diagnose ist – anders als in der Rezeption oft unterstellt – nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit, sondern die gesellschaftliche Selbstbeobachtung. Reckwitz prägt also nicht deshalb die Debatte, weil seine Diagnose »stimmt«, sondern weil sie »passt«. Nicht ihre Realitätsangemessenheit überzeugt, sondern die diskursive Problemlösungskapazität, die sie daraus zieht, dass sie den Selbstdeutungen der Rezipientinnen und Rezipienten entgegenkommt.
Dabei rekonstruiert Reckwitz die derzeitige gesellschaftliche Selbstbeobachtung durchaus korrekt, was aber gerade den Blick dafür verstellt, wie tiefgreifend sich die gesellschaftlichen Verhältnisse inzwischen verändert haben. Wer diese Diagnose der Selbstbilder für »die Sache selbst« nimmt, missversteht infolgedessen die daraus hervorgehenden politischen Konflikte der Gegenwart in einer Weise, die den politischen Kräften aller Seiten entgegenkommt. Wir teilen Reckwitz’ Impetus, als Soziologen zur gesellschaftlichen Selbstverständigung beizutragen, wie auch seine Schwerpunktsetzung auf ein besseres Verständnis der Verbindung von politischen und kulturellen Konflikten der Gegenwart mit den ökonomischen Veränderungen der vergangenen Dekaden. Diese Frage auf die Tagesordnung gesetzt zu haben, ist kein geringes Verdienst. Allerdings sind wir der Ansicht, dass gerade wenn dieser Anspruch eingelöst werden soll, eine Perspektivverschiebung in Bezug auf Reckwitz’ Diagnose erforderlich ist.
Die Wurzeln der Mittelschichtsgesellschaft
Um die Gründe dafür nachvollziehen zu können, muss man bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik zurückgehen, als die Mittelschichtsgesellschaft zum breit geteilten Selbstbild der Gesellschaft wurde. Hier kann man zunächst an Reckwitz selbst anknüpfen. In seiner Rekonstruktion der »Subjektkulturen« der Moderne zeigt er auf, wie die elitäre hegemoniale Kultur der bürgerlichen Moderne seit Anfang des 20. Jahrhunderts in die egalitärere Kultur des »Angestelltensubjekts« überging – forciert in der Weimarer Republik. Sozialstrukturelle Träger dieser »Subjektkultur« waren die sich vergrößernden mittleren Einkommensschichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm diese »Subjektkultur« die kulturelle Hegemonie, so dass man – analog zur »bürgerlichen Gesellschaft« des langen 19. Jahrhunderts – durchaus sinnvoll von der Mittelschichtsgesellschaft der 1950er bis in die erste Hälfte der 1970er Jahre sprechen kann. Diese – auch in anderen westlichen Gesellschaften des »Golden Age« entstandene – Gesellschaftsform ging aus ineinandergreifenden ökonomischen, kulturellen und politischen Veränderungen hervor.
Ökonomisch wurden durch den »Fahrstuhleffekt« eines rapide und verlässlich steigenden Lebensstandards verelendete oder auch nur prekäre Lebenslagen zu Ausnahmen. Fast alle konnten sich immer mehr leisten – Waschmaschine, Fernseher, PKW, Restaurantbesuche, Sommerurlaub. Der »Pauperismus«, der im 19. Jahrhundert den antagonistischen Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit lebensweltlich plausibel gemacht hatte – im Kommunistischen Manifest spielt er eine zentrale Rolle –, schien der Vergangenheit anzugehören. Der herauffahrende Fahrstuhl transportierte zwar auch diejenigen weiter nach oben, die sich bereits in den oberen Stockwerken der Gesellschaft befanden; doch das waren eben weit weniger als diejenigen, die aus dem Souterrain nach oben fuhren.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.