Heft 890, Juli 2023

Die drei Integrationsprobleme moderner Gesellschaften

von Uwe Schimank
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Das jüngste Koalitionsgerangel der »Ampel« ist noch nicht lange her. Sie hatte sich vorgenommen, auf längliche Nachtsitzungen des Koalitionsausschusses à la GroKo zu verzichten, und übertraf dann mit einem Dreißig-Stunden-Marathon-Treffen alles Bisherige. Von vielen wurde das als starkes Symptom dafür gewertet, wie fragil der Zusammenschluss von SPD, Grünen und FDP inzwischen ist. Nimmt man sich etwas Zeit, genauer darüber nachzudenken, kommt man allerdings auch noch auf andere, womöglich viel entscheidendere Punkte: Könnte es sein, dass mit der »Ampel« genau jene Konstellation politischer Positionen zusammen zu regieren versucht, die jetzt und in den kommenden Jahrzehnten – sofern wir es schaffen, bis dahin als demokratische Gesellschaft zu überleben – von den objektiven Problemlagen her gefordert ist? Und wenn ja: Liegt die Fragilität einer solchen Koalition dann womöglich weniger an den zumeist dafür als Ursachen herangezogenen kontingenten personellen Besetzungen, tagespolitischen Ereignissen und Pfadabhängigkeiten der deutschen Parteienlandschaft als vielmehr daran, dass die Hyperkomplexität des zu bewältigenden Problemknäuels strukturell fortwährenden Streit über den richtigen Weg generiert?

Ist dieser Streit womöglich gar nicht Ausdruck schlechten Regierens, sondern genau umgekehrt ein Anzeichen dafür, dass hier engagiert um die Lösung der zentralen gesellschaftspolitischen Gestaltungsprobleme gerungen wird? Endlich, könnte man hinzufügen, nach der trügerischen Harmonie der Merkel-Jahre. Die Grünen wären dann keineswegs als Verlierer des Gerangels einzustufen, wie es derzeit zumeist – gerade auch von ihnen selbst – getan wird. Sie müssten im Gegenteil sogar als die heimlichen großen Gewinner gelten. Schließlich ist es ihnen gelungen, ökologische Gesichtspunkte (hoffentlich) unwiderruflich weit oben auf die Agenda politischer Gesellschaftsgestaltung zu setzen. Zugleich aber müssen sie feststellen, dass ihre Koalitionspartner sich die grüne Lesart der politischen Agenda keineswegs völlig zu eigen machen. Zum Glück, denn von einigen harten Öko-Fundamentalisten einmal abgesehen ist wohl allen klar, dass unsere gesellschaftliche Zukunft auch noch von ein paar anderen Dingen abhängt als von einem nachhaltigeren Umgang mit der Natur.

Will man diesen Fragen weiter nachgehen, empfiehlt es sich, geeignete sozialwissenschaftliche Perspektiven und Konzepte heranzuziehen, um Abstand von den häufig blickvernebelnden öffentlichen Statements der Protagonisten des Kräftemessens zwischen den Koalitionspartnern zu gewinnen. Die soziologische Gesellschaftstheorie bietet hierzu ein Verständnis moderner Gesellschaften an, das deren Fortbestand – der Krisenresilienz und die Fähigkeit zum selbstgestalteten Wandel mit beinhaltet – als permanente Bewältigung von drei Grundproblemen gesellschaftlicher Integration begreift.

Das erste dieser Probleme stellt die Sozialintegration dar: Die Mitglieder jeder Gesellschaft müssen sich in deren Ordnung fügen – also vor allem geltende Normen beachten, auch wo es schwerfällt, anstatt um des eigenen Vorteils willen rücksichtslos unmoralisch oder kriminell zu agieren oder gar am Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse zu arbeiten. Das zweite Problem ist die Systemintegration: Die Teilsysteme oder Sphären der modernen Gesellschaft wie Wissenschaft, Bildung, Gesundheitswesen, Recht und – im Weiteren vor allem von Bedeutung – Wirtschaft müssen in ihren jeweiligen Leistungsproduktionen funktionstüchtig sein und dürfen einander zugleich nicht unabgestimmt in die Quere kommen. Dazu kommt, als drittes Problemfeld, die ökologische Integration. Sie ist dann gegeben, wenn das gesellschaftliche Geschehen sich nachhaltig in die natürliche Umwelt einfügt, anstatt so auf diese einzuwirken, dass der gesellschaftliche Fortbestand etwa durch Umweltverschmutzung oder Übernutzung nicht erneuerbarer Ressourcen gefährdet wird.

Mit diesem zunächst sehr einfachen Sortierschema lassen sich die betrachteten Auseinandersetzungen in der Ampelkoalition wie folgt interpretieren: Es ging und wird weiter um das Kernanliegen der ökologischen Transformation gehen, das – wiewohl mit unterschiedlichen Prioritäten – in seiner gesellschaftspolitischen Zentralität und Dringlichkeit von keiner der drei Parteien und überhaupt von kaum jemandem heute noch ernsthaft angezweifelt wird. Wenn man, Charles Lindblom folgend, politische Akteure generell und Parteien speziell als »watchdogs for values« betrachtet, dann ist klar, wer in der Ampel der Wachhund für Nachhaltigkeit ist: die Grünen. Das heißt nicht, dass dieser Wertbezug zur ökologischen Integration die anderen beiden Parteien völlig kalt lässt – doch es ist nicht ihr Markenkern.

Bereits für sich genommen wirft die ökologische Transformation in ganz vielen Hinsichten, nicht nur wissenschaftlich und technologisch, schwierige und vielfach noch ungelöste Fragen auf. Hinzu kommt, dass die ökologische Integration mit den beiden anderen Integrationsproblemen auf vielfache Weisen verknäuelt ist. Die Situation wird dadurch noch einmal deutlich komplizierter. Man kann schließlich nicht erwarten, dass das, was für Sozialintegration gut oder sogar unumgänglich ist, immer auch der Systemintegration und der ökologischen Integration nützt, und das gilt umgekehrt natürlich genauso. Auch wenn solche Win-win-Situationen gelegentlich vorkommen, wäre es fahrlässig, darauf zu setzen. Realistischer ist es, sich vor Augen zu führen, dass es immer wieder Zielkonflikte zwischen den drei Integrationsdimensionen geben wird, also Nutzen in einer Richtung mit Schaden in anderen Richtungen einhergeht; und das kann bei Gestaltungsmaßnahmen zu schwierigen Abwägungen bis hin zu tragischen Dilemmata führen.

In der Ampel sorgen die Trade-offs für Dauerstreit zwischen den Grünen und den beiden anderen Parteien. Denn diese sind »watchdogs« für die beiden anderen Integrationsdimensionen: die FDP für Systemintegration, hier also vor allem Wirtschaftswachstum, und die SPD immer schon für Sozialintegration – sprich gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und auch bei diesen beiden Wertbezügen gilt: SPD und Grüne wissen längst, dass das Geld erst einmal verdient werden muss, das man für den Wohlfahrtsstaat und die ökologische Transformation ausgeben will; und FDP und Grüne haben – noch nicht ganz so lange – erkannt, dass eine funktionstüchtige Wirtschaft und eine ökologisch nachhaltige Gesellschaft nicht dauerhaft auf Kosten gesellschaftlichen Zusammenhalts gesichert werden können.

Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich ist die aktuelle Koalitionszusammensetzung nicht per se alternativlos. Die Rollen, die FDP und SPD darin spielen, könnten grundsätzlich ebenso gut von der CDU übernommen werden, die mit ihrem Wirtschaftsflügel auf der einen und ihrem Arbeitnehmerflügel auf der anderen Seite die beiden Bezüge auf System- und Sozialintegration immer schon abgedeckt hat. Allein die Grünen verfügen nach wie vor über ein Alleinstellungsmerkmal: Nur sie verkörpern authentisch einen Fokus auf ökologische Integration, die bei den anderen Parteien lediglich eine inzwischen mit zu bedenkende Randbedingung von System- bzw. Sozialintegration darstellt.

Ökologische Des- und Überintegration

Weil die aktuellen Debatten sich an der ökologischen Integration entzünden, fängt man am besten an, die Dinge von hier aus aufzudröseln. Dabei lassen sich zunächst einige wichtige Merkmale dessen verdeutlichen, was mit gesellschaftlicher Integration überhaupt gemeint ist.

Wer alltagssprachlich etwas als integriert bezeichnet, will damit in aller Regel sagen, dass sich die Bestandteile einer Einheit – also beispielsweise die einzelnen Räume eines Gebäudes – wohlgeordnet und ohne Friktionen zusammenfügen, und diese Feststellung ist fast immer positiv konnotiert. Als erste Annäherung daran, was unter der Integration einer Gesellschaft zu verstehen ist, ist dieses Begriffsverständnis durchaus hilfreich. Eine Gesellschaft ist in der Tat in dem Maße integriert, in dem die verschiedensten in ihr stattfindenden Aktivitäten zusammenpassen und einander nicht in die Quere kommen. Damit wird auch zum Ausdruck gebracht, dass Integration ein graduelles Phänomen ist. Gesellschaften sind nicht entweder integriert oder nicht integriert – sondern sie sind mehr oder weniger integriert.

An einem entscheidenden Punkt führt diese Sprachregelung allerdings in die Irre, denn sie legt eine Dualität von Integration und Desintegration nahe. Integration ist aber nicht der eine Pol eines Spektrums, dessen anderer Pol Desintegration heißt. Die Pole des Spektrums sind vielmehr Des- und Überintegration. Es kann also – bei Gebäuden wie bei Gesellschaften – zu wenig, aber auch zu viel Integration geben. Anders als zumeist unterstellt, ist nicht nur das eine, sondern auch das andere ein Problem, und Integration im positiven Sinn ist die richtige Balance zwischen beidem. Mit anderen Worten, eine wohlintegrierte Gesellschaft weist kein Maximum, sondern ein Optimum an Integration auf.

Was oder wer bestimmt, was als Optimum gilt? Die doppelte Fragerichtung verweist auf eine doppelte Antwort. Einerseits müssen wir davon ausgehen, dass der Fortbestand jeder Gesellschaft an objektive Bedingungen geknüpft ist. Ein triviales Beispiel: Ohne eine hinreichend hohe Geburtenrate, oder auch den Zuzug von Einwanderern, die eine zu niedrige Rate kompensieren, kann eine Gesellschaft die kritische Masse an Arbeitskraft nicht aufbringen, um all ihre Leistungsproduktionen am Laufen zu halten, und gefährdet dadurch ihren Fortbestand. Andererseits kommen zu diesen objektiven Bedingungen kollektiv geteilte Vorstellungen darüber hinzu, wie eine gute Gesellschaft aussehen sollte – auch und nicht zuletzt mit Blick auf Integration. Solche Wünsche hinsichtlich gesellschaftlicher Integration müssen zwar im Rahmen der objektiven Bedingungen bleiben, um erfüllbar zu sein; doch da die meisten dieser Bedingungen allenfalls vage erkennbar sind, was sich wohl auch bei allen künftigen Fortschritten der Sozialwissenschaften so schnell nicht grundlegend ändern wird, gibt es viel Spielraum, um unrealistische Wünsche ins Gespräch zu bringen.

Die Sozialwissenschaften sind bei Integrationsfragen also unweigerlich in einander überlagernde kognitive und normative Diskussionen verstrickt. Sozialwissenschaftler streiten untereinander über die nebulösen objektiven Bedingungen gesellschaftlicher Integration und werfen einander immer wieder vor, eigene Wünsche zu objektiven Erfordernissen zu erklären; in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit wird darüber gestritten, wie eine gut integrierte Gesellschaft auszusehen hätte, und dabei werden die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse über die objektiven Bedingungen gesellschaftlicher Integration mehr oder weniger zur Kenntnis genommen; und diese Kämpfe über Lesarten guter Integration müssen die Sozialwissenschaften dann auch noch in ihre Analysen gesellschaftlicher Dynamiken einbeziehen, die ja vom handelnden Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Kräfte vorangetrieben werden, also auch von Vorstellungen einer guten Gesellschaft.

Sozialwissenschaftliche Gesellschaftsbeobachtung, sobald sie sich an die gesellschaftliche Öffentlichkeit wendet und in deren Debatten einschaltet, kommt aus dieser Gemengelage nicht heraus. Sie liefert nach Objektivität strebende Einschätzungen objektiver Bedingungen und kollektiver Aspirationen; diese Objektivität bleibt kognitiv und normativ angreifbar; und die wissenschaftlichen Einschätzungen können von nichtwissenschaftlichen wie wissenschaftlichen Sprechern instrumentalisiert oder abgelehnt werden.

Auf derzeitige Diskussionen zur ökologischen Transformation übertragen bedeuten diese Überlegungen dreierlei. Erstens: Es gibt eine überwältigende wissenschaftliche Evidenz für die ökologische Desintegration der heutigen Gesellschaft. Das sind zum einen hinlänglich bekannte naturwissenschaftliche Daten. Zum anderen verfügen wir über – deutlich schwächer belegte – sozialwissenschaftliche Beobachtungen dazu, welche Strukturen moderner westlicher Gesellschaften vom Kapitalismus bis zur kulturellen Idee der Naturbeherrschung das Menschengemachte der ökologischen Probleme hervorgebracht haben. Im Einzelnen ist allerdings sehr schwer festzumachen, welches Ausmaß an Desintegration, also Nichtnachhaltigkeit, noch gesellschaftlich aushaltbar ist, mit welchen Kosten und für wie lange – und wann Kipppunkte irreversibel überschritten werden. Hierzu existieren sehr weit auseinandergehende, mehr oder weniger wissenschaftlich abgesicherte kollektive Deutungen – bis hin zur vagen, aber entlastenden Hoffnung, dass am Ende der technische Fortschritt schon alles richten werde. Und sei es durch Wechsel des Planeten.

Zweitens steht politische Gesellschaftsgestaltung trotz der hochgradigen Eindeutigkeit der Lage bei jeder spezifischen Maßnahme vor immensen Entscheidungsunsicherheiten. In zeitlicher Hinsicht geht es darum, dass verlässliche Voraussagen darüber getroffen werden müssen, welche Auswirkungen bestimmte Maßnahmen, etwa die Verlagerung größerer Teile des Gütertransports von der Straße auf die Schiene, langfristig auf verschiedene ökologische Parameter haben werden; in sachlicher Hinsicht sind bislang größtenteils nicht hinreichend durchschaute Wirkungszusammenhänge einer Vielzahl gleichzeitig implementierter Maßnahmen zu berücksichtigen; und in sozialer Hinsicht müssen multiple Betroffenheiten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in Rechnung gestellt werden – von den Anrainern der Bahnstrecken bis zu den Mitarbeitern der Transportunternehmen oder der Automobilindustrie. Bei einer derart komplexen Gemengelage, bei der überdies ständig damit gerechnet werden muss, dass auch wohlüberlegte Lösungsversuche mit unbeabsichtigten Nebenfolgen verbunden sein können, ist das Risiko des Scheiterns hoch; jeder Misserfolg wiederum schwächt das Selbstvertrauen der Entscheider und steigert umgekehrt die Bereitschaft all derer, die von den Entscheidungen betroffen sind, dahinter grundsätzlich Inkompetenz zu vermuten.

Misserfolge leiten einerseits Wasser auf die Mühlen der Bremser, provozieren andererseits aber zugleich umgekehrt lautstarke Forderungen nach radikalen ökologischen Integrationsmaßnahmen, wie sie etwa die Aktivisten von Fridays for Future, Extinction Rebellion und Last Generation vertreten. Deren Forderungen zu erfüllen würde bedeuten, die Erfordernisse gesellschaftlicher Sozial- und Systemintegration bis auf weiteres weitgehend von der politischen Agenda zu streichen. Wie riskant und zugleich kontraproduktiv eine solche Überintegration sein kann, zeigt sehr nachdrücklich der Blick zurück in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, als es darum ging, erst einmal nur Sozial- und Systemintegration auszubalancieren.

Die Dualität von Kapitalismus und Wohlfahrtsstaat

Gesellschaftliche Sozialintegration ist in dem Maß gewahrt, wie die Gesellschaftsmitglieder Konformität mit den jeweils geltenden Normen – nicht nur Gesetzen – zeigen, und zwar nicht nur, weil sie sich einer entsprechenden Drohmacht fügen oder durch Anreize dazu bewegt werden, sondern weil ein breiter Konsens über die die fraglichen Normen begründenden Werte besteht. Die gesellschaftlichen Ordnungen der westlichen Moderne zeichnen sich diesbezüglich allerdings dadurch aus, dass sie den Gesellschaftsmitgliedern ein hohes Maß an individueller Selbstentfaltung ermöglichen. Entsprechend beruhen sie weniger auf allseitigem Konsens mit enggefassten substantiellen Werten und Normen in Gestalt von Pflichtenkatalogen oder Maximen der Lebensführung, als auf Werten wie der Hochschätzung von persönlicher Einzigartigkeit und Selbstbestimmung oder von Demokratie als kollektivem Entscheidungsmodus, die dem Einzelnen substantiell große Freiheiten lassen.

Genau diese Werte, die sich als sozialintegrative Leitvorstellungen davon, was eine gute Gesellschaft ausmacht, in der Frühmoderne etabliert hatten, wurden durch die Auswirkungen der industriellen Revolution für sehr große Teile der Bevölkerung dementiert, geradezu mit Füßen getreten. Die brutale Ausbeutung des Proletariats – von den Sklaven in den US-amerikanischen Südstaaten und in den Kolonien des heute so genannten Globalen Südens ganz zu schweigen – schuf nicht nur großes materielles Elend, sondern exkludierte die große Mehrheit der Bevölkerung aus der individualisierungsfähigen Menschheit. Diese als illegitim erlebten Exklusionserfahrungen riefen ihrerseits kollektiven Widerstand hervor, aus dem – keineswegs automatisch, sondern abhängig von bestimmten Voraussetzungen – Gegenkräfte wie die Arbeiterbewegung in Gestalt von Gewerkschaften und Parteien entstanden, die so stark werden konnten, dass die etablierten Kräfte ihnen entgegenkommen mussten. Ein Beispiel dafür sind Bismarcks Sozialreformen der 1880er Jahre, die angesichts der Drohkulisse einer möglicherweise revolutionsbereiten Arbeiterschaft als Rettung der Kapitalisten vor den selbstzerstörerischen Folgen der eigenen Profitgier verstanden werden müssen. Seitdem ist der Wohlfahrtsstaat hierzulande enorm ausgebaut worden und hat sich weltweit, wenngleich noch lange nicht flächendeckend verbreitet.

Die sozialpolitischen Eingriffe in die kapitalistische Wirtschaft durften freilich nicht zu weit gehen. Hier kommt die gesellschaftliche Systemintegration ins Spiel – also die Sicherstellung des Funktionierens der kapitalistischen Wirtschaft. Auf der einen Seite wollten die Unternehmen und Kapitaleigentümer ihre Profite realisieren – je höher, desto besser; und dafür wurde Massennachfrage gebraucht. Ohne diesen Impetus hätte es keinen hinreichenden Anreiz für die Überbietungsdynamik im Bereich technologischer Innovationen und die damit verbundene schwindelerregende Steigerung des Wirtschaftswachstums gegeben. Auf der anderen Seite wollten die ausgebeuteten Arbeiter nicht in vorkapitalistische ärmliche Unterdrückungsstrukturen zurückgeworfen werden; sie begrüßten den gesellschaftlichen Fortschritt, vor allem die »ungeheure Warensammlung« (Marx) des Kapitalismus, sobald sie diese erst einmal, und nach und nach mehr davon, bezahlen konnten. Das haben die Frankfurter Salonlinken im »Grand Hotel Abgrund« (Lukács) nie kapieren wollen, sie konnten nur in fassungslosem Dünkel den Kopf darüber schütteln, dass das angeblich historisch auserkorene »revolutionäre Subjekt« der Weltgeschichte sich dieser Rolle verweigerte.

Dennoch gilt weiterhin: Wer wie viel von den Wachstumserträgen des Kapitalismus bekommt, bleibt nicht nur umkämpft; sondern es bleibt auch ein ungleicher Kampf. Zwar gab es das »golden age« (Eric Hobsbawm) von den 1950er Jahren bis Mitte der 1970er, in dem in den meisten westlichen Ländern Arbeitgeber, Arbeitnehmer und der Staat mit der Berücksichtigung der jeweiligen Interessen gleichermaßen zufrieden sein konnten. Im Gegensatz zu heute gab es damals aber auch ein stabiles und starkes Wirtschaftswachstum, das Vollbeschäftigung und steigende Löhne sowie üppige Steuereinnahmen generierte, die den Ausbau des Wohlfahrtsstaats – insbesondere des Bildungssystems – ermöglichten. Seitdem mussten längst nicht nur die Arbeiter, sondern alle abhängig Beschäftigten bis hin zu Staatsbediensteten mit Kündigungsschutz erfahren, wie prekär ihre kollektive Gegenmacht gegen kapitalistische Dynamiken ist, die wieder und wieder Ausbeutungsverhältnisse restituieren oder steigern, ein als sicher errungen geglaubtes »Normalarbeitsverhältnis« mit unbefristeter Festanstellung und Aussichten auf Lohnsteigerungen und Karrierechancen in um sich greifende Prekarität verwandeln. Dennoch ziehen die meisten diese Auspizien aus guten Gründen den Illusionen einer revolutionär errungenen nachkapitalistischen Gesellschaft ebenso vor wie dem Rückfall in vorkapitalistische Verelendung.

Die Errungenschaften, die mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaats erreicht wurden, sind also offenbar alles andere als gesichert. Doch immerhin ist bis heute der Kapitalismus davor bewahrt worden, sich – wie von Marx prophezeit – selbst und die seinen Wirt darstellende Gesellschaft zugrunde gerichtet zu haben. Mit einer wachstumsausgerichteten kapitalistischen Wirtschaft im Zentrum ist die gesellschaftliche Systemintegration letztlich erfolgreich aufrechterhalten worden, wenn auch selten einvernehmlich, sondern meist in heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Protagonisten von Kapital und Arbeit. Dabei mussten der wirtschaftlichen Dynamik Zugeständnisse an gesellschaftliche Sozialintegration abgerungen werden. Nichts garantiert, dass sich diese Balance von System- und Sozialintegration auch weiterhin stabil halten lässt. Doch je mehr sich alle Beteiligten der Prekarität dieser Balance und der zugrundeliegenden Wirkungszusammenhänge bewusst sind, desto wahrscheinlicher wird es, dass sie versuchen, ihre Handlungsmöglichkeiten in stabilisierender Absicht zu nutzen. Ob das dann ausreicht, um den Fortbestand der Gesellschaft zu sichern, bleibt eine offene Frage. Mehr aber können wir nicht tun.

Kapitalismus, Wohlfahrtsstaat und Ökologie

Bis Anfang der 1970er Jahre konnte man eine Betrachtung der Probleme gesellschaftlicher Integration auf die geschilderte Dualität von Sozial- und Systemintegration beschränken. Zu der Zeit attestierte Jürgen Habermas der gerade erschienenen Studie des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums, sie zeige, »dass ein exponentielles Wachstum von Bevölkerung und Produktion […] eines Tages an Grenzen der biologischen Umweltkapazität stoßen muss«.1 Ganz abgesehen von der eindimensionalen Fixierung auf quantitatives Wachstum als Ursache ökologischer Nichtnachhaltigkeit: Das »eines Tages« spricht Bände. Die eigentlich anstehende gesellschaftliche Krise, der Habermas auf der Spur war, werde eine andere sein, an Problemen der ökologischen Integration werde der »Spätkapitalismus« nicht scheitern.

Natürlich ist man hinterher immer klüger. Durchaus massive menschengemachte ökologische Probleme – etwa das, was im Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert der Emscher widerfuhr, die dieser Tage wiederbelebt wurde – blieben lange Zeit unerheblich für den gesellschaftlichen Fortbestand. Weder im Ruhrgebiet noch in Deutschland drohte die gesellschaftliche Ordnung wegen der Verschmutzung der Gewässer zusammenzubrechen, Probleme wie diese lagen – anders als etwa das Artensterben heute – unterhalb der Bagatellgrenze. Da hatte Habermas erstens faktisch Recht. Und er konnte zweitens im Nachhinein reklamieren, dass vieles, was längst Faktizitäten ökologischer Desintegration waren, gesellschaftlich noch nicht breitenwirksam registriert worden war. Das heißt allerdings nicht, dass es gar keine gesellschaftlich desintegrativen Effekte gehabt hätte – bis hin zu spürbaren Beeinträchtigungen der Lebensführung und Lebenserwartung größerer gesellschaftlicher Gruppen. Doch wie Niklas Luhmann pointiert festhält: Nur kommunikativ thematisierte ökologische Probleme können gesellschaftlich, also auch politisch bearbeitet werden.2

Damit sind wir in der Gegenwart und der nun erforderlichen Ausbalancierung der Trias von System-, Sozial- und ökologischer Integration angelangt. Dies stellt sich naturgemäß einer soziologischen Gesellschaftsbeobachtung als weitaus opaker dar, als wir inzwischen die vor fast einhundertfünfzig Jahren einsetzende Ausbalancierung der Dualität von System- und Sozialintegration einschätzen können. Was lässt sich dazu von einer – noch dazu unweigerlich involvierten, also keine hinreichende Distanz zum Geschehen aufweisenden – Beobachterposition überhaupt schon halbwegs verlässlich sagen? Stichworte müssen und können genügen. Denn die aktuellen Diskussionen liefern hinreichend konkretes Anschauungsmaterial von der Abschaltung der Kernkraftwerke und neu zu verlegenden Stromtrassen bis zur Aufforderung zum weitgehenden oder gar völligen Verzicht auf Fleischkonsum und zum geforderten Verbot von Inlandsflügen. Diese wie alle weiteren Konfliktkonstellationen lassen sich einem von zwei Typen von Trade-offs zuordnen.

Der erste Typus liegt vor, wenn Umgangsweisen mit der ökologischen Problematik in sozialintegrativer Hinsicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu strapazieren drohen – oft deshalb, weil das, was sozialintegrativ wirkt, so aus ökologischen Rücksichten nicht mehr fortgeführt werden kann. Gesellschaftliche Sozialintegration wurde nicht nur wie geschildert durch Sozialpolitik gesichert; auch erkämpfte Lohnsteigerungen und entsprechende Steigerungen des Lebensstandards sind dazugekommen – von Lebensmitteln bis zu Urlaubsreisen. Wenn Fleisch für fleischgewohnte Menschen immer teurer und kaum noch mehrfach pro Woche erschwinglich wird und naturzerstörende Bettenburgen des Massentourismus nicht mehr gebaut werden dürfen, kann das spätestens in der Summierung leicht zu einer Delegitimierung ökologischer Integrationsmaßnahmen bei breiteren Bevölkerungsgruppen führen. Wie kann man sie dann noch »mitnehmen«, also verhindern, dass sie an der Wahlurne, und nicht nur dort, Denkzettel verteilen? Das gilt insbesondere dann, wenn unübersehbar wird, dass begütertere Gruppen sich all das weiterhin leisten können. Solche neuerlich aufreißenden Ungleichheiten führen schnell zu Verbitterung, Neid und letzten Endes Wut. Nicht nur in Deutschland dürfte ein zentraler Stein des Anstoßes sehr bald die Einschränkung des Autoverkehrs durch Fahrverbote und rasant steigende Energiepreise sein.

Der zweite Typus von Trade-off besteht darin, dass ökologische Erfordernisse in systemintegrativer Hinsicht immer wieder mit Funktionserfordernissen der wirtschaftlichen Leistungsproduktion kollidieren. Kann sich Deutschland beispielsweise einen Niedergang der Autoindustrie infolge eines zu späten Umstiegs auf nichtfossile Antriebsenergie und eines baldigen politischen Verbots von Verbrennungsmotoren leisten? Oder sorgt ein so eintretender ökologisch begründeter Rückgang des Wirtschaftswachstums in den betroffenen Regionen für noch tiefgreifendere soziale Verwerfungen als der Niedergang von Kohle und Stahl im Ruhrgebiet? Wenn aber das Wirtschaftswachstum nachlässt und die Steuereinnahmen entsprechend sinken, werden sowohl sozialpolitische Leistungen wie vor allem Arbeitslosenunterstützung vermehrt nachgefragt als auch fiskalische Sparzwänge gesteigert. Und wenn es erst so weit gekommen ist: Kann dann noch der Ausbau der Solarenergie gewährleistet werden, von der Erhaltung der Artenvielfalt in landwirtschaftlich genutzten Räumen ganz zu schweigen? Genereller gefragt – wie es schon, ziemlich optimistisch, Sozialdemokraten in den 1970er Jahren taten: Wie belastbar ist die Wirtschaft? Bekannt ist, dass Unternehmen immer enger werdende Spielräume ihres Gewinnstrebens zum Anlass nehmen, Exit-Optionen auszuloten. Dass es in der internationalen Zusammenarbeit der Staaten gelingt, solche Fluchtmöglichkeiten des Kapitals auszuschalten, kann man vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen bezweifeln.

Drei Zusatzprobleme können die beiden Trade Offs verschärfen. Erstens können sozialintegrative gesellschaftliche Zusammenhaltsprobleme rein aus sich heraus entstehen – etwa durch ungeregelte Migration von Armuts- und Kriegsflüchtlingen. Zweitens kann, um nur dieses Beispiel zu nennen, ein nicht hinreichend auf wirtschaftliche Erfordernisse ausgerichtetes Ausbildungssystem rein systemintegrative Probleme der Funktionstüchtigkeit der Wirtschaft aufwerfen. Drittens schließlich können die schon angesprochenen Probleme der Ausbalancierung von Sozial- und Systemintegration hinzukommen. Aus allen drei Richtungen kann die Ausbalancierung von ökologischer Integration mit Sozialintegration auf der einen, Systemintegration auf der anderen Seite zusätzlich erschwert werden.

Die heutige Balanceproblematik der Trias von Sozial-, System- und ökologischer Integration ist also offenbar noch um einiges schwieriger als das, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als soziale Frage zu meistern war. Wären wir Zuschauer dieses Geschehens, könnten wir uns zurücklehnen und sagen: Es bleibt spannend! Leider widerfährt uns das Geschehen, und wir haben je individuell und auch kollektiv verdammt wenig Einwirkungsmöglichkeiten darauf. Jetzt müssen wir sogar auf diese Ampel hoffen.

Anmerkungen

1

Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt: Suhrkamp 1973.

2

Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1986.

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