Die drei Integrationsprobleme moderner Gesellschaften
von Uwe SchimankDas jüngste Koalitionsgerangel der »Ampel« ist noch nicht lange her. Sie hatte sich vorgenommen, auf längliche Nachtsitzungen des Koalitionsausschusses à la GroKo zu verzichten, und übertraf dann mit einem Dreißig-Stunden-Marathon-Treffen alles Bisherige. Von vielen wurde das als starkes Symptom dafür gewertet, wie fragil der Zusammenschluss von SPD, Grünen und FDP inzwischen ist. Nimmt man sich etwas Zeit, genauer darüber nachzudenken, kommt man allerdings auch noch auf andere, womöglich viel entscheidendere Punkte: Könnte es sein, dass mit der »Ampel« genau jene Konstellation politischer Positionen zusammen zu regieren versucht, die jetzt und in den kommenden Jahrzehnten – sofern wir es schaffen, bis dahin als demokratische Gesellschaft zu überleben – von den objektiven Problemlagen her gefordert ist? Und wenn ja: Liegt die Fragilität einer solchen Koalition dann womöglich weniger an den zumeist dafür als Ursachen herangezogenen kontingenten personellen Besetzungen, tagespolitischen Ereignissen und Pfadabhängigkeiten der deutschen Parteienlandschaft als vielmehr daran, dass die Hyperkomplexität des zu bewältigenden Problemknäuels strukturell fortwährenden Streit über den richtigen Weg generiert?
Ist dieser Streit womöglich gar nicht Ausdruck schlechten Regierens, sondern genau umgekehrt ein Anzeichen dafür, dass hier engagiert um die Lösung der zentralen gesellschaftspolitischen Gestaltungsprobleme gerungen wird? Endlich, könnte man hinzufügen, nach der trügerischen Harmonie der Merkel-Jahre. Die Grünen wären dann keineswegs als Verlierer des Gerangels einzustufen, wie es derzeit zumeist – gerade auch von ihnen selbst – getan wird. Sie müssten im Gegenteil sogar als die heimlichen großen Gewinner gelten. Schließlich ist es ihnen gelungen, ökologische Gesichtspunkte (hoffentlich) unwiderruflich weit oben auf die Agenda politischer Gesellschaftsgestaltung zu setzen. Zugleich aber müssen sie feststellen, dass ihre Koalitionspartner sich die grüne Lesart der politischen Agenda keineswegs völlig zu eigen machen. Zum Glück, denn von einigen harten Öko-Fundamentalisten einmal abgesehen ist wohl allen klar, dass unsere gesellschaftliche Zukunft auch noch von ein paar anderen Dingen abhängt als von einem nachhaltigeren Umgang mit der Natur.
Will man diesen Fragen weiter nachgehen, empfiehlt es sich, geeignete sozialwissenschaftliche Perspektiven und Konzepte heranzuziehen, um Abstand von den häufig blickvernebelnden öffentlichen Statements der Protagonisten des Kräftemessens zwischen den Koalitionspartnern zu gewinnen. Die soziologische Gesellschaftstheorie bietet hierzu ein Verständnis moderner Gesellschaften an, das deren Fortbestand – der Krisenresilienz und die Fähigkeit zum selbstgestalteten Wandel mit beinhaltet – als permanente Bewältigung von drei Grundproblemen gesellschaftlicher Integration begreift.
Das erste dieser Probleme stellt die Sozialintegration dar: Die Mitglieder jeder Gesellschaft müssen sich in deren Ordnung fügen – also vor allem geltende Normen beachten, auch wo es schwerfällt, anstatt um des eigenen Vorteils willen rücksichtslos unmoralisch oder kriminell zu agieren oder gar am Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse zu arbeiten. Das zweite Problem ist die Systemintegration: Die Teilsysteme oder Sphären der modernen Gesellschaft wie Wissenschaft, Bildung, Gesundheitswesen, Recht und – im Weiteren vor allem von Bedeutung – Wirtschaft müssen in ihren jeweiligen Leistungsproduktionen funktionstüchtig sein und dürfen einander zugleich nicht unabgestimmt in die Quere kommen. Dazu kommt, als drittes Problemfeld, die ökologische Integration. Sie ist dann gegeben, wenn das gesellschaftliche Geschehen sich nachhaltig in die natürliche Umwelt einfügt, anstatt so auf diese einzuwirken, dass der gesellschaftliche Fortbestand etwa durch Umweltverschmutzung oder Übernutzung nicht erneuerbarer Ressourcen gefährdet wird.
Mit diesem zunächst sehr einfachen Sortierschema lassen sich die betrachteten Auseinandersetzungen in der Ampelkoalition wie folgt interpretieren: Es ging und wird weiter um das Kernanliegen der ökologischen Transformation gehen, das – wiewohl mit unterschiedlichen Prioritäten – in seiner gesellschaftspolitischen Zentralität und Dringlichkeit von keiner der drei Parteien und überhaupt von kaum jemandem heute noch ernsthaft angezweifelt wird. Wenn man, Charles Lindblom folgend, politische Akteure generell und Parteien speziell als »watchdogs for values« betrachtet, dann ist klar, wer in der Ampel der Wachhund für Nachhaltigkeit ist: die Grünen. Das heißt nicht, dass dieser Wertbezug zur ökologischen Integration die anderen beiden Parteien völlig kalt lässt – doch es ist nicht ihr Markenkern.
Bereits für sich genommen wirft die ökologische Transformation in ganz vielen Hinsichten, nicht nur wissenschaftlich und technologisch, schwierige und vielfach noch ungelöste Fragen auf. Hinzu kommt, dass die ökologische Integration mit den beiden anderen Integrationsproblemen auf vielfache Weisen verknäuelt ist. Die Situation wird dadurch noch einmal deutlich komplizierter. Man kann schließlich nicht erwarten, dass das, was für Sozialintegration gut oder sogar unumgänglich ist, immer auch der Systemintegration und der ökologischen Integration nützt, und das gilt umgekehrt natürlich genauso. Auch wenn solche Win-win-Situationen gelegentlich vorkommen, wäre es fahrlässig, darauf zu setzen. Realistischer ist es, sich vor Augen zu führen, dass es immer wieder Zielkonflikte zwischen den drei Integrationsdimensionen geben wird, also Nutzen in einer Richtung mit Schaden in anderen Richtungen einhergeht; und das kann bei Gestaltungsmaßnahmen zu schwierigen Abwägungen bis hin zu tragischen Dilemmata führen.
In der Ampel sorgen die Trade-offs für Dauerstreit zwischen den Grünen und den beiden anderen Parteien. Denn diese sind »watchdogs« für die beiden anderen Integrationsdimensionen: die FDP für Systemintegration, hier also vor allem Wirtschaftswachstum, und die SPD immer schon für Sozialintegration – sprich gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und auch bei diesen beiden Wertbezügen gilt: SPD und Grüne wissen längst, dass das Geld erst einmal verdient werden muss, das man für den Wohlfahrtsstaat und die ökologische Transformation ausgeben will; und FDP und Grüne haben – noch nicht ganz so lange – erkannt, dass eine funktionstüchtige Wirtschaft und eine ökologisch nachhaltige Gesellschaft nicht dauerhaft auf Kosten gesellschaftlichen Zusammenhalts gesichert werden können.
Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich ist die aktuelle Koalitionszusammensetzung nicht per se alternativlos. Die Rollen, die FDP und SPD darin spielen, könnten grundsätzlich ebenso gut von der CDU übernommen werden, die mit ihrem Wirtschaftsflügel auf der einen und ihrem Arbeitnehmerflügel auf der anderen Seite die beiden Bezüge auf System- und Sozialintegration immer schon abgedeckt hat. Allein die Grünen verfügen nach wie vor über ein Alleinstellungsmerkmal: Nur sie verkörpern authentisch einen Fokus auf ökologische Integration, die bei den anderen Parteien lediglich eine inzwischen mit zu bedenkende Randbedingung von System- bzw. Sozialintegration darstellt.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.