Heft 843, August 2019

Die Tragik des Protestantismus

von Eckhard Nordhofen

Dass die katholische Kirche derzeit einen beispiellosen Vertrauensverlust erleidet, dürften auch diejenigen nicht leugnen, die den selbstgerechten Gestus mancher ihrer Kritiker problematisch finden. Das große öffentliche Interesse, das die nicht enden wollende Debatte über massenhaften Missbrauch auf sich zieht, lenkt die Aufmerksamkeit davon ab, dass auch der Protestantismus weltweit in einer schweren Krise steckt. Diese Krise hat subtilere Gründe, aber tragische Dimensionen.

In den USA, in Südamerika, Korea und Afrika blüht ein evangelikaler Populismus, der sagenhafte Missionserfolge verbuchen kann. In Mega-Churches bringen charismatische Prediger die Massen in Stimmung, Gospelchöre wiegen sich im Rhythmus, alle Hände sind oben und klatschen, Heiler und Wundertäter legen Behinderten die Hände auf, die dann ihre Krücken wegwerfen und unter dem Jubel der Gemeinde aufstehen und ein paar Schritte laufen: »Praise the Lord!«

Irritiert blickt das aufgeklärte Europa auf dieses vitale, fundamentalistische Christentum, das offensichtlich alle intellektuellen Standards unterschreitet, weshalb der Schöpfer der Welt dort weiterhin mit den sechs Tagen auskommen muss, von denen das Buch Genesis spricht. In den Kernlanden der Reformation mit ihren evangelischen Akademien und Fakultäten, wo durchaus die intellektuellen Standards der Moderne hochgehalten werden und man auf Missionsaktivitäten ausdrücklich verzichtet, verliert die Kirche hingegen immer mehr an Substanz.

Dabei ist die EKD keineswegs stumm. Zu den ethischen und politischen Fragen der Zeit erhebt sie stets zuverlässig und vorhersehbar ihre Stimme. Das Problem dabei ist, dass das monotheistische Proprium bei diesem Engagement für das jeweils ethisch und moralisch Richtige weitgehend auf der Strecke bleibt. Die protestantische Kirche präsentiert sich als eine Art NGO für die Bekämpfung alles Himmelschreienden, weshalb Kritiker mittlerweile schon von ihrer »Selbstsäkularisierung« sprechen. Werte liefern, das können auch andere war ein Zeitungsbeitrag des Herborner Theologen Peter Scherle kürzlich treffend überschrieben. Denn dazu bedarf es nicht unbedingt der Theologie.

Ingolf Dalferth, systematischer Theologe in Zürich, einer der interessantesten Köpfe des Protestantismus, spricht im selben Zusammenhang von der »Gutenberg-Falle«. Was er damit meint, hat er im vergangenen Jahr in einer bemerkenswerten Studie ausgeführt. Um es vorweg zu sagen: Den Ausweg aus der Falle findet er nicht.

Das Medium Schrift bestimmt bis heute das Schicksal des Monotheismus. Ohne sie gäbe es ihn nicht, wo er sich aber eng an sie klammert, stößt er an seine Grenzen. Um diese These zu verstehen, muss man etwas ausholen: Für das große Schwellenereignis unserer Religionsgeschichte, den Übergang vom Polytheismus zum Glauben an den Einen und Einzigen, war die alphabetische Schrift der entscheidende Katalysator. Allerdings wurde der kultische Charakter dieses Mediums lange Zeit nicht ausreichend beachtet. Zwar ist traditionell und zu Recht von der »Heiligen Schrift« die Rede; was aber diese Sakralisierung zu bedeuten hat, ist meist durch das Interesse für die Inhalte des biblischen Narrativs verdeckt worden.

Das radikale Konzept einer Heiligen Schrift ist zuerst in Israel entwickelt, später dann im Islam noch weiter geschärft worden. Die Wortverbindung zielt auf mehr als auf einen bloßen Ehrentitel, der Respekt erzeugen soll. Im Gegensatz zu den heiligen Schriften der anderen alten Kulturen, deren Göttermythen, Gebeten, Vorschriften, liturgischen Gebrauchstexten, Beschwörungsformeln, Fluch- und Segensworten, beansprucht der Titel »Heilige Schrift« buchstäblich die Autorschaft Gottes. Die ungeheure Aufwertung, die der Schrift dadurch zuteilwird, war die Voraussetzung für den entscheidenden Medienwechsel: Das Kultbild als Leitmedium des Polytheismus wird abgelöst durch die Kultschrift, Idolatrie ersetzt durch Grapholatrie.

Mit dem hebräischen Alphabet aus Konsonanten verfügte Israel über ein Instrument, dessen Potential es genial erkannte. Schrift ist ein Medium der Differenz. Anders als ein Kultbild kann sie niemals mit dem verwechselt werden, was sie bedeutet, denn niemals ist sie selbst das, was sie darstellt. Darin besteht der erkenntnistheoretische Vorsprung der fixierten Sprache gegenüber dem Bild. Und diese formale Qualität entsprach exakt dem neuen Gotteskonzept, wie wir es heute in den Moses-Sagen des Buchs Exodus antreffen. Im Exil wurden sie neu erzählt und überformt.

Der Gott, der sich dort am Dornbusch offenbart, gehört einer anderen Klasse an als alle Funktionsgottheiten des Polytheismus. Der Dornbusch brennt und verbrennt nicht, dadurch markiert der Erzähler eine physikalisch unmögliche, alteritäre Wirklichkeit. Der »Name« Gottes besteht in nichts anderem als der Ausrufung seines puren Daseins: JHWH, »Ich bin da«. Gott ist nichts, was man besichtigen könnte. Seine Anwesenheit manifestiert sich in der Schrift, dem Medium der Differenz, das zugleich seine Abwesenheit garantiert. Gott ist anwesend-abwesend kein mögliches Phänomen in der Welt, sondern ihr großes Gegenüber, ihr Schöpfer. Gott, der Unsichtbare, von dem es, dem zweiten der Zehn Gebote zufolge, kein Bild geben darf, offenbart sich in der Schrift, seinem neuen Medium; im Buch Exodus (31,18 und 32,25) schreibt er tatsächlich mit seinem Finger auf steinerne Tafeln. Darüber hinaus wird er zum Autor des gesamten Pentateuch, der »fünf Bücher Moses«, ausgerufen, indem er Mose zu seinem verlängerten Finger macht.

Martin Luther, mit seinem rigorosen Bekenntnis »sola scriptura«, »Allein die Schrift«, lebte in einer aufgewühlten, religiös febrilen Zeit. Die Kirche sah alt aus, und das im intellektuellen Frühling des Humanismus. Und sie war nicht mehr in der Hand der Frommen. Eine seltsame Gleichzeitigkeit von Verweltlichung und religiöser Inbrunst hatte das Zeitalter unter Hochspannung gesetzt. Die reinste Form der Verweltlichung war die funktionalistische Unterwerfung von allem und jedem unter den Nutzenkalkül und seine Medien Geld und Macht.

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