Die Tragik des Protestantismus
von Eckhard NordhofenDass die katholische Kirche derzeit einen beispiellosen Vertrauensverlust erleidet, dürften auch diejenigen nicht leugnen, die den selbstgerechten Gestus mancher ihrer Kritiker problematisch finden. Das große öffentliche Interesse, das die nicht enden wollende Debatte über massenhaften Missbrauch auf sich zieht, lenkt die Aufmerksamkeit davon ab, dass auch der Protestantismus weltweit in einer schweren Krise steckt. Diese Krise hat subtilere Gründe, aber tragische Dimensionen.
In den USA, in Südamerika, Korea und Afrika blüht ein evangelikaler Populismus, der sagenhafte Missionserfolge verbuchen kann. In Mega-Churches bringen charismatische Prediger die Massen in Stimmung, Gospelchöre wiegen sich im Rhythmus, alle Hände sind oben und klatschen, Heiler und Wundertäter legen Behinderten die Hände auf, die dann ihre Krücken wegwerfen und unter dem Jubel der Gemeinde aufstehen und ein paar Schritte laufen: »Praise the Lord!«
Irritiert blickt das aufgeklärte Europa auf dieses vitale, fundamentalistische Christentum, das offensichtlich alle intellektuellen Standards unterschreitet, weshalb der Schöpfer der Welt dort weiterhin mit den sechs Tagen auskommen muss, von denen das Buch Genesis spricht. In den Kernlanden der Reformation mit ihren evangelischen Akademien und Fakultäten, wo durchaus die intellektuellen Standards der Moderne hochgehalten werden und man auf Missionsaktivitäten ausdrücklich verzichtet, verliert die Kirche hingegen immer mehr an Substanz.
Dabei ist die EKD keineswegs stumm. Zu den ethischen und politischen Fragen der Zeit erhebt sie stets zuverlässig und vorhersehbar ihre Stimme. Das Problem dabei ist, dass das monotheistische Proprium bei diesem Engagement für das jeweils ethisch und moralisch Richtige weitgehend auf der Strecke bleibt. Die protestantische Kirche präsentiert sich als eine Art NGO für die Bekämpfung alles Himmelschreienden, weshalb Kritiker mittlerweile schon von ihrer »Selbstsäkularisierung« sprechen. Werte liefern, das können auch andere war ein Zeitungsbeitrag des Herborner Theologen Peter Scherle kürzlich treffend überschrieben.1 Denn dazu bedarf es nicht unbedingt der Theologie.