Die Welt vor Gaza: Normalität und Gewalt
von Natan SznaiderDie Welt nach Gaza ist nicht nur ein gutes und kluges, sondern auch ein schlechtes und gedankenloses Buch.1 Es ist arglos und zugleich dämonisierend. Es wirft Licht auf die Welt und verdunkelt sie gleichermaßen. Es bringt keine Hoffnung, sondern nur Verzweiflung.
Es ist ein gutes Buch, weil der Autor klar Position gegen Gewalt bezieht, es ist ein schlechtes, weil Pankaj Mishra diese Gewalt nicht als Schlüssel der Region versteht, sondern in Dichotomien denkt und demzufolge nur eine Seite Gewalt ausübt und die andere sie erleidet. Es ist ein kluges Buch, weil Mishra die von ihm gelesene Literatur geschickt einsetzt. Es ist aber auch ein gedankenloses Buch, weil Mishra sich jüdische Autoren und Autorinnen aneignet, ohne sich ihrer Tragödie wirklich bewusst zu sein. Mit dem Buch bringt der Autor Licht in die Welt, weil er Israelis, für die er nicht schreibt, einen Spiegel ihrer anscheinenden Moralität vorhält. Weil er in moralischen Kategorien be- und verurteilt, verdunkelt er diese Welt, indem er sie in Täter-Opfer-Dichotomien widerspiegelt und damit nur vorhandene Vorurteile bestätigt und keine neuen politischen Perspektiven eröffnet.
Pankaj Mishra gehört zur englischsprachigen indischen kosmopolitischen Elite, und aus dieser privilegierten Position schreibt er seine Bücher. Es ist ein sicherer Ort, eine Sprecherposition, aus der er mit sicherer und eleganter Hand über die Verdammten dieser Erde schreibt, oder eigentlich über die Israelis in ihrer Rolle als Täter, die er von Juden und Jüdinnen als Opfer unterscheiden will. Mit der deutschen Übersetzung findet er ein neues Publikum. Eigentlich das Publikum, welches er sucht. Er fordert eine moralische Umkehr des offiziellen Deutschland nicht trotz der Erinnerung an die Shoah, sondern wegen dieser Erinnerung. Er greift den vermeintlichen deutschen Philosemitismus an, die daraus folgende sogenannte deutsche Staatsräson, die die israelische Sicherheit als eine Grundlage der deutschen Geschichte sieht. Es geht ihm um diese Einstellung, die er anprangert, die er ändern will, und er glaubt wohl, dass er das besser im Namen von Juden und Jüdinnen tun kann, die er zitiert.
Mishra stellt an den Anfang seines Buches zwei aus dem Kontext gerissene Gedanken von Primo Levi und Hannah Arendt, die sich mit der Möglichkeit der Universalisierung der Shoah aus jüdischer Perspektive beschäftigten. Damit setzt er den Ton des Buches. Und beginnt es daher auch mit dem Warschauer Ghetto. Die Anspielung ist mehr als deutlich. Jüdische Israelis werden zu Nazis, die Gaza und Menschenleben auslöschen. Damit werden die Hamas-Terroristen wohl zu Kämpfern des Warschauer Ghettos, der 7. Oktober dadurch ein gerechtfertigter Befreiungsschlag gegen uns Nazis. Mishra kann sich am Beispiel des Warschauer Ghettos bedienen, weil der jüdische Aufstand im Warschauer Ghetto vom April 1943 nicht wirklich zur nichtjüdischen Erinnerungskultur gehört. Es ist ein jüdischer und israelischer Erinnerungsort.
Gaza zum Warschauer jüdischen Ghetto zu verwandeln ist in meinen Augen bewusst bösartig. Als ob es nicht schlimm genug ist, was in Gaza vorgeht, ohne gleich zum Nazi-Vergleich zu greifen. Der intellektuell etwas gewandtere Terminus anstelle von »Nazis« ist dann der des Siedlerkolonialismus, der von Mishra natürlich auch ins Spiel gebracht wird. Aber es stellt sich damit auch die Frage nach einem gemeinsamen moralischen Universum. Er scheint das in seinem Buch zu verneinen, weil es ihm in erster Linie darum geht, Partei zu ergreifen.
Mishra gibt den allwissenden Intellektuellen mit privilegiertem Zugang zur Wahrheit und glaubt aufgrund dessen, für die Unterdrückten sprechen zu können, ohne sie überhaupt zu fragen. Er liest jüdische Denker und Denkerinnen wie Hannah Arendt, Primo Levi, Sigmund Freund, Jean Améry, Franz Kafka, Marcel Proust, Joseph Roth, Isaak Babel, Ossip Mandelstam, Zygmunt Bauman und andere. Es ist eine gewaltige jüdische Genealogie der Moral, die er auflistet, und er hat sie bestimmt gewinnbringend für sich und seine Leser und Leserinnen angeeignet. Es ist wichtig für ihn, seine Darlegungen mit Argumenten von jüdischen Denkern und Denkerinnen zu unterfüttern. Damit versucht er auch, dem Vorwurf des Antisemitismus zu entkommen. Und das ist auch richtig, denn dieser Vorwurf ist in der Tat viel zu oft instrumentalisiert worden und lenkt von den wichtigen politischen Fragen ab. Es ist nicht genug, sich einem Argument zu verweigern, weil es vielleicht antisemitische Vorurteile bedient.
Es ist beeindruckend, wie sich Mishra auf jüdische Intellektuelle beruft, aber er liest ihre Geschichten nicht als partikular erfahrene Gewaltgeschichten. Wie könnte er auch? Er versteht die persönlichen, familiären und kollektiven Geschichten von Juden und Jüdinnen nicht wirklich, aber eignet sie sich an. Das ist Stärke und Schwäche des Buches zugleich, denn Mishra schafft es, diese partikularen Erfahrungen zu verallgemeinern. Es sind genau diese Geschichten, die am Ende unsere politischen Leidenschaften prägen. Und er vermittelt seinen Lesern, dass diese seine Leidenschaften in Indien geformt wurden. Ich verstehe selbstverständlich die Versuchung, universell, europäisch, progressiv, inkludierend zu denken und zu fühlen. Es ist aber auch gleichzeitig eine Versuchung, die in ihrem eigenen Fortschrittsgedanken gefangen bleibt.
Gleichzeitig verstehe ich die Versuchung, die Welt partikular und jüdisch zu betrachten. Auch diese Versuchung ist mir nicht fremd. Ihm scheint sie aber fremd zu sein. So liest er Jean Amérys Zeugnis über seine erlittene Folter unter den Nazis als Metapher für Folter überhaupt und insbesondere für die von Israelis ausgeführte Folter. All das ist richtig, aber er übersieht dabei vieles. Améry war Jude und auch Philosoph. Er war Flüchtling, Widerstandskämpfer. Er wurde von den Nazis inhaftiert, gefoltert und nach Auschwitz deportiert. 1978 nahm er sich in Salzburg das Leben. Améry schrieb über Freiheit und Würde und über den gewaltvollen Kampf, um diese zu erlangen. Damit kann und will sich Mishra identifizieren. Améry schrieb auch über das Ghetto und die Vernichtungslager, indem er die Situation der zum Tode verurteilten Juden und der Kolonisierten differenziert betrachtet. Das Ghetto war für ihn der Warteraum des Todes, denn nur der Tod war sicher. Er schreibt von der totalen Einsamkeit des Ghettojuden, die anders ist als die Einsamkeit der unterdrückten Kolonisierten. Es ging allein um den Tod und nicht um Ausbeutung. Améry verweigert sich jeglichem Vergleich und pocht auf die Singularität des Holocaust. Und Améry klagt am Ende seines Lebens den linken Antisemitismus an. Dieser Améry passt nicht in Mishras Deutung.
Auch Hannah Arendt missversteht er ganz bewusst. Er übersieht, dass viele von ihm zitierte Juden und Jüdinnen gleichzeitig radikal universalistisch, aber auch radikal partikular denken können. »Leider gilt hier der an sich so einfache und doch gerade in Zeiten der diffamierenden Verfolgung so schwer verständliche Grundsatz, daß man sich immer nur als das wehren kann, als was man angegriffen ist. Diejenigen, die solche Identifizierungen einer feindlichen Welt ablehnen, mögen sich der Welt wunderbar überlegen fühlen; aber eine solche Überlegenheit ist dann nicht mehr von dieser Welt, sie ist eine Überlegenheit eines besser oder schlechter ausstaffierten Wolkenkuckucksheim.«2 So Hannah Arendt im Jahr 1959 in Hamburg, als sie den Lessing-Preis entgegennahm und vor einem deutschen Publikum sprach. Auch das ist Hannah Arendt und nicht nur die Universalistin, die Mishra erträumt ins Feld führt. Arendt spricht aus ihrer eigenen jüdischen Erfahrung von Flucht, Vertreibung und Vernichtung.
Die persönlichen Erinnerungen Arendts, Amérys und Levis, die auch wegen ihrer Beispiellosigkeit mit dem jüdischen kulturellen Gedächtnis verknüpft sind und versuchen, das Beispiellose zu benennen, werden bei Denkern wie Mishra zu einem intellektuellen Supermarkt, bei dem man sich beliebig bedient. Historische Ereignisse zu vergleichen, einzuordnen, berühmt-berüchtigte Kontexte zu finden, das gehört zum Handwerkszeug eines jeden sich als Intellektuellen verstehenden Menschen. Dabei müssen die emotionalen Wahrheiten der Beteiligten ausgeschlossen bleiben, um sich die gefühlslose und kalte Objektivität zu bewahren. Aber gleichzeitig ist das auch Flucht vor der Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die von keiner schönen Theorie eingefangen werden kann.
Dazu gehört auch die Wirklichkeit des 7. Oktober, auf die Mishra sich nicht einlassen will. Auch interessiert er sich für die nach Gaza entführten israelischen Geiseln so gut wie gar nicht. An diesem Tag sind Tausende bewaffnete Hamas-Kämpfer in den Süden Israels eingedrungen, haben gemordet, vergewaltigt und entführt. Sie haben Lebende und auch Tote missbraucht. Sie ermordeten mehr als 1200 Menschen und entführten 240 nach Gaza, darunter auch kleine Kinder. Das sind unverzeihbare Verbrechen, sie sind durch keine erfahrene Unterdrückung verzeihbar. Das waren nicht nur moralische Verfehlungen, das war ein Massaker. Keine um Freiheit kämpfende Bevölkerung kann so verbrecherisch handeln und es dann als Widerstand rechtfertigen. Mishra verteidigt es sicher nicht, aber er ignoriert den moralischen Abgrund des 7. Oktober, um seine Leser und Leserinnen von dem moralischen Abgrund der israelischen Reaktion darauf zu überzeugen. Ich verstehe, dass er das Buch nicht für Juden und Jüdinnen in Israel wie mich selbst geschrieben hat. Aber wie kann er für sich selbst diesen moralischen Abgrund rechtfertigen?
Für wen schreibt Mishra also? Er will ein globales Publikum ansprechen, das nicht politisch, sondern moralisch denkt und fühlt. Auch das kann ich gut verstehen, aber als israelischer Staatsbürger ist es meine erste Pflicht, die Welt aus der Sicht eines souveränen israelischen Staatsbürgers zu beschreiben. Ich frage mich, was die Pflicht von Pankaj Mishra ist. Mit welcher Haltung und inneren Einstellung liest er jüdische Autoren und Autorinnen, wie schaut er auf Gaza? Ist es der Hindu-Nationalismus und sein Kampf gegen den Islam, der Mishra dazu veranlasst, Israels Krieg in Gaza zu verurteilen? Sind es seine jugendlichen Sympathien für die zionistische Befreiungsbewegung, die er nun hinterfragt? Ist es eine menschliche, universale, moralische Position, die er gegen die israelische, partikulare und damit in seinen Augen unmoralische Position ins Feld führt?
Gleichzeitig nimmt Mishra auch eine jüdische-diasporische Position ein. Von dort betrachtet er unsere israelische Welt. Nun braucht sich jüdisches Denken in der Diaspora nicht mit Fragen der militärischen Gewaltausübung auseinanderzusetzen, was bis in die heutige Zeit den großen Unterschied zwischen Juden in Israel und Juden in der Diaspora ausmacht. In Israel entwickelte sich ein Judentum, das vor allem mit Souveränität, Territorium und Macht verknüpft ist. Dieses israelische Judentum grenzt sich ab, ja, muss sich abgrenzen, von einem diasporischen Judentum, das entweder aus der Machtlosigkeit heraus eine universale Ethik entwickelt oder sich als Teil der israelischen Gemeinschaft außerhalb Israels betrachtet. Machtlosigkeit ist noch kein Garant für Wahrheit.
Und Macht sicher auch nicht. Die Existenz des Staates Israel hat das Ressentiment gegen Juden nicht verschwinden lassen. Der Staat Israel steht auch für die aktive, wehrhafte Haltung von Juden und Jüdinnen. Souveräne israelische Juden greifen nun aktiv in die Geschichte ein und vertrauen auf sich und nicht auf Gott oder den Messias. Dazu gehört auch Gewaltanwendung, wenn das jüdische Kollektiv sich verteidigen muss. Diese Gewaltanwendung kann man durchaus verurteilen und kritisieren. Viele Israelis tun das auch, aber als souveräne Israelis sind wir als konkrete Menschen an unser konkretes Dasein mit konkreter Verantwortung gebunden. Das heißt, dass wir als Israelis nicht dazu beitragen sollen, uns Feindseligkeiten zu erlauben, die einen zukünftigen Frieden unmöglich machen. Und das gilt auch für die andere Seite. Anstatt mehr Sicherheit zu bringen, vergiftet die permanente Besatzung die Politik, indem sie die extreme Rechte ermutigt und mithilft, den palästinensischen Radikalismus zu züchten. Ständig ruft die israelische Gewalt Erinnerungen an die palästinensische Katastrophe wach, während palästinensische Gewalt gleichzeitig auf jüdisch-israelischer Seite Erinnerungen an Pogrome und Holocaust wachruft. So auch die Gewalt des 7. Oktober. Wie schon Simone Weil 1940 treffend bemerkte: »Die Gewalt macht jeden, der sie erleidet, zum Ding.«3 Das trifft in der Tat für den Nahen Osten zu, und diese uns zum Ding machende Gewalt gefährdet auch jeden demokratischen Impuls in der Region. Das sind Widersprüche, von denen Mishra in seiner politischen Bestimmtheit nicht viel wissen will. Er stellt auch keine politischen Lösungsansätze vor, wie zum Beispiel den souveränen Impuls des Zionismus auch auf die Palästinenser zu übertragen, also Hoffnung zu wecken. Ihm geht es nur um moralische Verurteilung.
Für einen postkolonialen Denker wie Mishra müsste dieser souveräne Impuls der Emanzipation eigentlich Sinn ergeben. War die Souveränität nicht auch Teil des antikolonialistischen Impulses? Tut es aber nicht. Auf der einen Seite plädiert er für ein Nebeneinander von Erinnerungen verschiedener Gewalterfahrungen, die nicht in Konkurrenz miteinander stehen, aber dann behauptet er, dass jede Kritik an dieser Sichtweise eurozentrisch und provinziell sei und sogar den Interessen des Staates Israel diene.
Gibt es denn eine interessensfreie Erinnerung überhaupt? In wessen Namen wäre sie möglich? Die intellektuelle Herausforderung ist doch das Kontrastieren und Vergleichen des Partikularen mit dem Universalen, ohne in essentialistische Identitätspolitik zu verfallen. Konflikte zwischen Gewalterfahrungen können nicht einfach universell aufgehoben werden. Auch deshalb können widersprüchliche historische Narrative nicht einfach durch scheinbare Universalisierung miteinander verknüpft werden.
Das heißt dann auch, dass Israel und Zionismus nicht mit Judentum gleichgesetzt werden können. Mishra macht das sicher nicht, aber er tut so, als ob das diasporische Judentum authentischer als das israelische sei, weil es eben von Moralität und nicht von Politik ausgeht. In Israel ist das Judentum keine raumlose Religion mehr, sondern symbolisiert ein Volk mit einem Land und Raum, das politisch handeln kann und muss. Juden in Israel besitzen politische Freiheit, die das Diasporajudentum für sich nicht beanspruchen kann, weshalb es oft auf nationale und internationale Schutzmaßnahmen setzte, die jetzt gegen Israel selbst ins Feld geführt werden. Die Herausforderung der Souveränität ist es, normales Verhalten zu zeigen, sich in die Geschäfte der Staatspolitik einzumischen und als politisch Gleichberechtigte der Weltzivilisation mitzuwirken.
Das ist auch die Herausforderung der politischen Theorie Niccolò Machiavellis, der darauf hinwies, dass die Definition von Normalität im politischen Verhalten Gewalt und Gewaltausübung beinhaltet. Wenn Juden normal werden – wie im konventionellen zionistischen Konzept der Normalisierung definiert –, ist es dann vernünftig zu erwarten, dass sie eine ideale politische Gesellschaft bilden und unhistorisch oder moralischer als andere handeln? Dies ist ein Dilemma, das der Staat Israel nicht gelöst hat, ja, vielleicht nicht lösen konnte. Für Mishra ist es aber kein Dilemma. Er verteilt die Wunschpunkte gemäß seiner moralischen Auffassung. Diese Verwirklichung politischer Normalität und Freiheit durch Juden, wie sie sich im täglichen Verhalten Israels ausdrücken, ist dann auch für Denker wie Mishra zutiefst anstößig. Das muss zu Konflikten zwischen Moral und Politik führen, insbesondere die unpolitische Forderung, dass Juden als Juden moralisch oder sogar moralischer als andere handeln sollten. Natürlich kann Mishra das einfordern, sicher kann er argumentieren, dass Juden und Jüdinnen aus den Erfahrungen der Shoah nun moralischer handeln müssen, aber er übersieht, dass der Staat Israel sich ja auch genau gegen diesen moralischen Anspruch gegründet hat.
Was erwarten Leser und Leserinnen also von diesem Buch? Dass wir Israelis alle auf dem Weg zur Hölle sind und das Paradies für uns für immer verschlossen sein wird? Wie gehe ich als Israeli damit um, dass einer der wichtigsten postkolonialistischen Denker, der in seiner intellektuellen und persönlichen Biografie der Inbegriff des Kosmopolitismus ist, aus Indien stammend, in London lebend, uns Israelis beschuldigt, Rassisten und Verbrecher gegen die Menschheit zu sein, gleichzeitig Juden und Jüdinnen als Kosmopoliten und weltoffen feiert. Ist die Machtlosigkeit in der Tat moralischer? Ein Denker wie Mishra – er ist da nicht alleine – nennt uns Israelis Rassisten und Völkermörder. Wie also damit umgehen und damit leben? Es ist mir zu einfach, das als antisemitisches Gehabe abzutun. Und es als Vereinfachung abzustrafen, geht auch nicht. Ich will mich dem sowohl intellektuell als auch emotional stellen, denn es bleibt an einem hängen, ob Antisemitismus oder nicht.
Irgendetwas geschieht in unserem Namen, wofür wir verantwortlich sind. Verleugnung und Verneinung funktionieren nur teilweise. Wir im Nahen Osten leben tatsächlich in finsteren Zeiten. Zu viele Israelis glauben fest daran, dass das, was uns als Kollektiv angetan wurde, uns das Recht und auch die Pflicht gibt, unempfindlicher für das Leid anderer zu sein. Das mag so sein, ich bin nicht wirklich sicher. Aber auf der anderen Seite, ja, die andere Seite, wie viel Leid von anderen kann man rechtfertigen, um selbst nicht mehr zu leiden? Das gilt für beide Seiten. Die Wucht der Gewalt im Nahen Osten hat das Potenzial, sowohl Israelis als auch Palästinenser gemeinsam zu vernichten.
Ich würde Mishra gerne sagen, dass gerade er als postkolonialer Denker eigentlich wissen sollte, was es heißt, kritisch zu denken. Dass es bedeutet, mehrere Geschichten eines Ereignisses aus der Vielzahl von Perspektiven einzubeziehen und sie erzählen oder hören zu können. Das tut er in diesem Buch nicht. Ein kritischer Denker seines Kalibers sollte erst sich selbst hinterfragen, um die eigene Perspektive zu testen. Auch das tut er in diesem Buch nicht. Ganz im Gegenteil, er verabsolutiert seine eigene Perspektive. Er setzt sich nicht mit der Vielschichtigkeit des Konflikts auseinander. Das wäre auch aus seiner eigenen postkolonialistischen Perspektive angebracht gewesen. Durch einen Perspektivwechsel und die Übernahme anderer Perspektiven können wir besser urteilen. Dann kann man auch mit denen streiten, mit denen man nicht einverstanden ist.
Ich will mich mit Mishra streiten, aber sein Buch verschließt sich. Ich will ihm nicht seine Parteilichkeit nehmen, im Namen der palästinensischen Opfer zu sprechen. Sie brauchen in der Tat Sprecher und Sprecherinnen, gerade in Deutschland, wo ihre Perspektive oft nicht zu Wort kommt und gehört wird. Es geht nicht um Konsens oder Genauigkeit, sondern um Pluralität und Rechenschaftspflicht. Dabei geht es auch um Identitätspolitik und die Frage, wie vermeidbar diese ist. Mishra tut so, als argumentiere er universell. Aber können wir Unterschiede zwischen Gruppen ignorieren, wenn Erinnerungen trennen und dialogische oder multidirektionale Erinnerungen nur begrenzt möglich sind? Einmal artikuliert, konstituieren sich Identitäten als politische Tatsachen.
Trotzdem und gerade deswegen sollten wir Israelis das Buch lesen und ernst nehmen. Wir brauchen es als Spiegel, damit wir uns nicht einer sakralen Selbstgerechtigkeit hingeben. Diese ist angesichts dessen, was in Israel und Gaza geschieht, auch für viele Israelis nicht mehr möglich. Gerade deshalb ist das Buch für uns in Israel wichtig. Im Oktober 2024 unterschrieb Mishra einen kulturellen Boykott-Aufruf gegen Israel. Er wird es daher ablehnen, dass er in Israel auf Hebräisch veröffentlicht wird. Das ist zu bedauern, denn wir müssen uns, ob wir es wollen oder nicht, mit dieser Anklageschrift auseinandersetzen. Israel-Kritiker wie Mishra, auch wenn sie Israel boykottieren, erinnern an die jüdische prophetische Tradition jenseits der Souveränität. Das ist daher nicht nur eine diasporische Position, sondern eine, die das Gespräch zwischen König und Propheten, also das Gespräch zwischen Macht und Moral, sucht. Propheten erinnern souveräne Herrscher daran, dass es noch höhere Autoritäten gibt.
Propheten sprechen die Wahrheit zur Macht. Es ist ein notwendiges Gespräch. Die Mächtigen wollen das Gespräch nicht. Aber auch die Ohnmächtigen verweigern sich im Namen der Moral. Auch Mishra will das Gespräch nicht. Er boykottiert die Macht im Namen der Wahrheit. Dabei sind es gerade seine, wenngleich allzu einfachen Positionen, die an die universale Tatsache anknüpfen, dass Machtausübung einen Preis hat, dass der Staat Israel mit seiner ständigen Kampfbereitschaft und deren Folgen auf vielen Ebenen teuer für seine vermeintliche Freiheit bezahlt – dass insgesamt die Ausübung politischer Souveränität auch um den Preis des Verlusts der Unschuld erfolgt. Das erleben wir gerade sehr deutlich in Israel. Aber der souveräne Staat Israel muss in der Lage sein, das Israelische und das Jüdische voneinander zu trennen und souverän Entscheidungen treffen. Das ist gerade das, was Souveränität ausmacht, die Freiheit, souverän Entscheidungen zu treffen. Aus der diasporischen Perspektive ist das kaum möglich. Auf der einen Seite kritisiert Mishra den universellen Standpunkt der identitätslosen absoluten Wahrheit, nimmt aber dann den Standpunkt der Unterdrückten ein. Beide definieren sich sowohl im Positiven als auch im Negativen mit Bezug zur Macht, aber wollen nicht mit ihr reden.
Ich konnte in den letzten Jahren eine Konsolidierung einer sich mehr und mehr universalisierenden Holocaust-Erinnerung gerade im progressiven Milieu beobachten. In dieser Hinsicht ist Mishra nicht originell. Hier wie da wird Universalisierung qua Aufklärung als progressiver und richtiger als die partikularen und parallelen Erinnerungen von Opfergruppen aufgefasst. Im Fall der Shoah kann das auch zu einer Missachtung, ja, sogar Auslöschung partikularer jüdischer Erinnerung führen. Mishra will und kann nicht zwischen jüdischen Erinnerungen und Erinnerungen an das, was Juden und anderen zugestoßen ist, unterscheiden. Als postkolonialer Denker, der die Welt in Weiß und Nichtweiß aufteilt, betrachtet er Israel als eine weiße europäische Formation, die in kolonialistischer Weise den arabischen Raum eroberte und weiter erobert. Von palästinensischer Seite mag das sogar gerechtfertigt sein. Sicher erkennt Mishra, dass Juden nicht zur weißen Hegemonie gehören, wenn sie seiner Meinung nach eine moralische Minderheitsmeinung vertreten.
Und daher würde ich Pankaj Mishra zurufen, wenn er mich nicht boykottieren würde, dass die Gründung des Staates Israel als jüdischer Staat oder Judenstaat das Verhältnis von Moderne und Judentum von Grund auf verändert hat. Und daher kann der Zionismus, die Bewegung also, die auf die Ausübung jüdischer politischer Souveränität pochte, selbst als eine antikolonialistische Befreiungsbewegung beschrieben werden. Aber das kann in seiner dichotomischen Sichtweise nicht sein Anliegen sein. Es ist schade, dass sein kluges Buch dann doch immer in ein starres postkolonialistisches Modell zurückfällt und immer wieder eine Vereinnahmung der jüdischen Katastrophe für sich in Anspruch nimmt, die sich aber gleichzeitig als fortschrittlich und frei von ethnischen Bindungen präsentiert.
In den gewalttätigen Ereignissen und ihrer Wahrnehmung, die bis heute – und insbesondere seit dem 7. Oktober – ihre Resonanz haben, zeigen sich die verschiedenen Interpretationen der Zeiten und der Orte. Viele Juden und Jüdinnen inner- und außerhalb Israels erlebten diese Gewalt als Fortsetzung der jüdischen Leidensgeschichte. Araber wurden zu europäischen Antisemiten, die Pogrome an Juden verüben – und das auch schon in den Jahren, bevor Hitler in Deutschland an die Macht kam. In dieser Wahrnehmung sind die Juden keine weißen Europäer, sondern eine um die Befreiung kämpfende Minderheit. Und für die arabische Seite ist die Gewalt der Beginn des antikolonialistischen Befreiungskampfs gegen die europäischen Juden, die arabisches Land besetzten.
Diese beiden Geschichtsinterpretationen, die bis heute weiter ihre Wirkung haben, können sich wohl nirgends treffen. Mishra erkennt aber nicht einmal die Möglichkeit dieser beiden Interpretationen an. Er bevorzugt eindeutig die universelle Sichtweise, in der die Shoah der Welt und nicht nur den Juden widerfuhr. Und das macht von seiner politischen Perspektive aus auch Sinn. Er privilegiert eindeutig ein universelles gegenüber dem partikularen Gedächtnis, das aus seiner Sicht das militärische Vorgehen der israelischen Armee legitimiert. Diese Kritik macht das universelle Gedächtnis bestimmt nicht würdevoller oder authentischer. Und sie ignoriert, dass die meisten jüdischen Denker und Denkerinnen, die Mishra mobilisiert, in Sowohl-als-auch- und nicht in Entweder-oder-Kategorien dachten. Diese unterschiedlichen, aber nicht immer artikulierten zugrundeliegenden Sichtweisen können nur zu gegenseitigem Misstrauen und wechselseitigen Vorwürfen führen, zu Auseinandersetzungen, die dann schon lange nicht mehr auf wissenschaftlicher, sondern auf politischer und moralischer Ebene geführt werden.
Nichtsdestotrotz muss ich viele seiner Kritikpunkte anerkennen. Ich bin mir bewusst, dass die Idee eines »jüdischen Staates« – eines Staates, in dem wir Juden und die jüdische Religion und Nation als partikulare Markierung verstanden werden, von denen nichtjüdische Bürger oft ausgeschlossen sind – frontal auf ein universales aufklärerisches Gleichheitsdenken trifft. Das ist das Prinzip Israel. Das erkenne ich für mich ohne Einschränkungen an, stehe aber jeder Forderung, dass Palästina vom Fluss bis zum Meer frei sein soll, mehr als skeptisch gegenüber. Mehr noch, ich sehe sie als gleichbedeutend mit dem Unwillen und der Ablehnung, diese Welt mit mir zu teilen. Aber auch jüdische Israelis, die glauben, der Raum gehöre nur ihnen, sind aus meiner Sicht nicht bereit, eine gemeinsame Welt zu teilen.
Das heißt sicher nicht, dass ich das Leid der anderen Seite ignoriere, wie Mishra wohl von uns Israelis denkt, und dass wir unter einer »Überlebenspsychose« litten. Die gegenseitige Anerkennung der erlittenen Katastrophen mag ein kleiner Schritt aus der Spirale der Gewalt sein. Aber jenseits dieser vermuteten Psychose hat der Staat Israel Feinde, ja, sogar Todfeinde. Und diese Feinde haben durchaus auch antisemitische Motive und einen Vernichtungswillen. Das ist kein Monopol der israelischen Seite. Und sicher trage ich als israelischer Staatsbürger politische Verantwortung für alles, was in meinem Namen geschieht. Dazu gehört auch der Militäreinsatz im Gazastreifen, bei dem viel zu viele Menschen ihr Leben verlieren und bei dem die israelische Armee sich nicht an die internationalen Regeln hält.
Dafür tragen wir als Israelis politische Verantwortung, die uns noch lange nachgehen wird. Die israelische Armee steht aber gleichzeitig zwischen mir als Souveränität ausübendem Israeli und meiner Auslöschung. Auch das wird von dem Israel boykottierenden Pankaj Mishra ignoriert. Die Welt nach Gaza ist daher ein Buch ohne relevantes Publikum. Und ehrlich gesagt ist das mehr als bedauerlich. Denn Mishra will am Ende doch Hoffnung in finsteren Zeiten und setzt seine Hoffnung auf eine junge Generation, die eine neue Welt aufbauen will. Dafür gehen auch Menschen in Israel fast täglich auf die Straße. Aber in seiner eigenen moralischen Verve ignoriert er diese Menschen. Er sieht nur ein monolithisches Israel, das es nicht gibt. Und ohne die Beteiligung von uns Israelis wird diese neue Welt nicht entstehen. Es ist sehr schade, dass Mishra sich dem verschließt.
Pankaj Mishra, Die Welt nach Gaza. Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff. Frankfurt: Fischer 2025.
Hannah Arendt, Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Rede über Lessing. München: Piper 1960.
Simone Weil, Die Ilias oder das Poem der Gewalt [1940]. In: Dies., Krieg und Gewalt. Essays und Aufzeichnungen. Übersetzt von Thomas Laugstien, Johanna-Charlotte Horst u. Anouk Luhn. Zürich: diaphanes 2011.
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