Heft 913, Juni 2025

Die Welt vor Gaza: Normalität und Gewalt

von Natan Sznaider

Die Welt nach Gaza ist nicht nur ein gutes und kluges, sondern auch ein schlechtes und gedankenloses Buch. Es ist arglos und zugleich dämonisierend. Es wirft Licht auf die Welt und verdunkelt sie gleichermaßen. Es bringt keine Hoffnung, sondern nur Verzweiflung.

Es ist ein gutes Buch, weil der Autor klar Position gegen Gewalt bezieht, es ist ein schlechtes, weil Pankaj Mishra diese Gewalt nicht als Schlüssel der Region versteht, sondern in Dichotomien denkt und demzufolge nur eine Seite Gewalt ausübt und die andere sie erleidet. Es ist ein kluges Buch, weil Mishra die von ihm gelesene Literatur geschickt einsetzt. Es ist aber auch ein gedankenloses Buch, weil Mishra sich jüdische Autoren und Autorinnen aneignet, ohne sich ihrer Tragödie wirklich bewusst zu sein. Mit dem Buch bringt der Autor Licht in die Welt, weil er Israelis, für die er nicht schreibt, einen Spiegel ihrer anscheinenden Moralität vorhält. Weil er in moralischen Kategorien be- und verurteilt, verdunkelt er diese Welt, indem er sie in Täter-Opfer-Dichotomien widerspiegelt und damit nur vorhandene Vorurteile bestätigt und keine neuen politischen Perspektiven eröffnet.

Pankaj Mishra gehört zur englischsprachigen indischen kosmopolitischen Elite, und aus dieser privilegierten Position schreibt er seine Bücher. Es ist ein sicherer Ort, eine Sprecherposition, aus der er mit sicherer und eleganter Hand über die Verdammten dieser Erde schreibt, oder eigentlich über die Israelis in ihrer Rolle als Täter, die er von Juden und Jüdinnen als Opfer unterscheiden will. Mit der deutschen Übersetzung findet er ein neues Publikum. Eigentlich das Publikum, welches er sucht. Er fordert eine moralische Umkehr des offiziellen Deutschland nicht trotz der Erinnerung an die Shoah, sondern wegen dieser Erinnerung. Er greift den vermeintlichen deutschen Philosemitismus an, die daraus folgende sogenannte deutsche Staatsräson, die die israelische Sicherheit als eine Grundlage der deutschen Geschichte sieht. Es geht ihm um diese Einstellung, die er anprangert, die er ändern will, und er glaubt wohl, dass er das besser im Namen von Juden und Jüdinnen tun kann, die er zitiert.

Mishra stellt an den Anfang seines Buches zwei aus dem Kontext gerissene Gedanken von Primo Levi und Hannah Arendt, die sich mit der Möglichkeit der Universalisierung der Shoah aus jüdischer Perspektive beschäftigten. Damit setzt er den Ton des Buches. Und beginnt es daher auch mit dem Warschauer Ghetto. Die Anspielung ist mehr als deutlich. Jüdische Israelis werden zu Nazis, die Gaza und Menschenleben auslöschen. Damit werden die Hamas-Terroristen wohl zu Kämpfern des Warschauer Ghettos, der 7. Oktober dadurch ein gerechtfertigter Befreiungsschlag gegen uns Nazis. Mishra kann sich am Beispiel des Warschauer Ghettos bedienen, weil der jüdische Aufstand im Warschauer Ghetto vom April 1943 nicht wirklich zur nichtjüdischen Erinnerungskultur gehört. Es ist ein jüdischer und israelischer Erinnerungsort.

Gaza zum Warschauer jüdischen Ghetto zu verwandeln ist in meinen Augen bewusst bösartig. Als ob es nicht schlimm genug ist, was in Gaza vorgeht, ohne gleich zum Nazi-Vergleich zu greifen. Der intellektuell etwas gewandtere Terminus anstelle von »Nazis« ist dann der des Siedlerkolonialismus, der von Mishra natürlich auch ins Spiel gebracht wird. Aber es stellt sich damit auch die Frage nach einem gemeinsamen moralischen Universum. Er scheint das in seinem Buch zu verneinen, weil es ihm in erster Linie darum geht, Partei zu ergreifen.

Mishra gibt den allwissenden Intellektuellen mit privilegiertem Zugang zur Wahrheit und glaubt aufgrund dessen, für die Unterdrückten sprechen zu können, ohne sie überhaupt zu fragen. Er liest jüdische Denker und Denkerinnen wie Hannah Arendt, Primo Levi, Sigmund Freund, Jean Améry, Franz Kafka, Marcel Proust, Joseph Roth, Isaak Babel, Ossip Mandelstam, Zygmunt Bauman und andere. Es ist eine gewaltige jüdische Genealogie der Moral, die er auflistet, und er hat sie bestimmt gewinnbringend für sich und seine Leser und Leserinnen angeeignet. Es ist wichtig für ihn, seine Darlegungen mit Argumenten von jüdischen Denkern und Denkerinnen zu unterfüttern. Damit versucht er auch, dem Vorwurf des Antisemitismus zu entkommen. Und das ist auch richtig, denn dieser Vorwurf ist in der Tat viel zu oft instrumentalisiert worden und lenkt von den wichtigen politischen Fragen ab. Es ist nicht genug, sich einem Argument zu verweigern, weil es vielleicht antisemitische Vorurteile bedient.

Es ist beeindruckend, wie sich Mishra auf jüdische Intellektuelle beruft, aber er liest ihre Geschichten nicht als partikular erfahrene Gewaltgeschichten. Wie könnte er auch? Er versteht die persönlichen, familiären und kollektiven Geschichten von Juden und Jüdinnen nicht wirklich, aber eignet sie sich an. Das ist Stärke und Schwäche des Buches zugleich, denn Mishra schafft es, diese partikularen Erfahrungen zu verallgemeinern. Es sind genau diese Geschichten, die am Ende unsere politischen Leidenschaften prägen. Und er vermittelt seinen Lesern, dass diese seine Leidenschaften in Indien geformt wurden. Ich verstehe selbstverständlich die Versuchung, universell, europäisch, progressiv, inkludierend zu denken und zu fühlen. Es ist aber auch gleichzeitig eine Versuchung, die in ihrem eigenen Fortschrittsgedanken gefangen bleibt.

Gleichzeitig verstehe ich die Versuchung, die Welt partikular und jüdisch zu betrachten. Auch diese Versuchung ist mir nicht fremd. Ihm scheint sie aber fremd zu sein. So liest er Jean Amérys Zeugnis über seine erlittene Folter unter den Nazis als Metapher für Folter überhaupt und insbesondere für die von Israelis ausgeführte Folter. All das ist richtig, aber er übersieht dabei vieles. Améry war Jude und auch Philosoph. Er war Flüchtling, Widerstandskämpfer. Er wurde von den Nazis inhaftiert, gefoltert und nach Auschwitz deportiert. 1978 nahm er sich in Salzburg das Leben. Améry schrieb über Freiheit und Würde und über den gewaltvollen Kampf, um diese zu erlangen. Damit kann und will sich Mishra identifizieren. Améry schrieb auch über das Ghetto und die Vernichtungslager, indem er die Situation der zum Tode verurteilten Juden und der Kolonisierten differenziert betrachtet. Das Ghetto war für ihn der Warteraum des Todes, denn nur der Tod war sicher. Er schreibt von der totalen Einsamkeit des Ghettojuden, die anders ist als die Einsamkeit der unterdrückten Kolonisierten. Es ging allein um den Tod und nicht um Ausbeutung. Améry verweigert sich jeglichem Vergleich und pocht auf die Singularität des Holocaust. Und Améry klagt am Ende seines Lebens den linken Antisemitismus an. Dieser Améry passt nicht in Mishras Deutung.

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